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Ja zur 13. AHV-Rente: Siegen durch Teilen

Sean Mueller
15th März 2024

Der Souverän hat entschieden, das Volk hat der Vorlage zugestimmt. Doch welches Volk? In diesem Artikel werden die Resultate zur 13. AHV-Rente auf Ebene der Sprachregionen und für den Stadt-Land-Gegensatz betrachtet. Dabei zeigt sich: selbst eine doppelte Minderheit – die welschen Kantone – kann plötzlich zur demokratischen Mehrheit gehören.

Die Schweiz zeichnet sich durch eine Vielzahl an Völkern aus. Da sind zum einen die 26 Kantone und 2'138 Gemeinden, die sich zum anderen in verschiedenen funktionalen und kulturellen Regionen zusammenfinden. Es gibt das ländliche und das Stadtvolk, die Romandie oder die Svizzera italiana, oder auch das welsche gegenüber dem deutschschweizer Stadtvolk. Die Abstimmung vom 3. März zeigt allerdings einmal mehr, dass sich diese Unterschiedlichkeit einigend auswirken kann. Denn wenn wir uns die AHV-Abstimmungsresultate durch die Brille der Stand-Land-Typologie des BFS pro Sprachregion anschauen, lassen sich drei Einsichten feststellen.

Einmal mehr ein Röstigraben

Erstens kam es zu einem Röstigraben: Abbildung 1 zeigt, wie sich die generelle Zustimmung in der Romandie auf einem hohen Niveau von 75 Prozent Ja befindet. Östlich der Saane erreichte sie hingegen nur knapp den grünen Bereich (52% Ja). In den Kantonen Genf, Neuenburg, Jura und Waadt hat keine einzige Gemeinde abgelehnt; in Les Enfers (JU) schwang sich die Zustimmung gar auf den Schweizer Rekord von 95 Prozent Ja. Die italienische Schweiz (Tessin und mehrere Bündner Täler) nahm die Vorlage mit 71 Prozent Ja ebenfalls sehr klar an. Auf der anderen Seite gehören alle ablehnenden zehn (ehemaligen Halb-)Kantone zur Deutschschweiz.

Es trifft zwar zu, dass der Röstigraben nicht im engeren Sinne aufgebrochen ist, weil beide Seiten zugestimmt haben: Die deutschschweizer Mehrheit hat die welsche Minderheit nicht überstimmt, weil beide mehrheitlich die gleiche politische Präferenz ausdrückten. Trotzdem ist der Unterschied von 23 Prozentpunkten beachtlich und mehr als doppelt so gross als der langjährige Durchschnitt. Ein Staat, der umverteilt und Chancen ausgleicht, wird westlich der Saane nach wie vor enthusiastischer begrüsst. Auch wenn dieser Staat ironischerweise mehrheitlich auf Schweizerdeutsch kommuniziert.

Abbildung 1. Zustimmung zur AHV13-Initiative nach Sprachregion und Gemeindetyp

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: BFS · Datenstand: 03.03.2024; alle 2’138 Gemeinden

Unterschiedliche Gegensätze innerhalb der Sprachregionen

Zweitens decken die Resultate unterschiedliche Zusammensetzungen der grössten zwei Sprachregionen auf. In der Romandie beträgt die Differenz zwischen Stadt und Land gerade mal 4 Prozentpunkte. Die deutschschweizer Landgemeinden hingegen sind der einzige Ort, wo die Initiative mehrheitlich abgelehnt wurde (47% Ja). Dafür haben die Städte Bern und Basel mit 64–65%, Luzern und Zürich mit 55–57% Ja zugestimmt. Insgesamt beträgt die Differenz zwischen deutschschweizer Grossstädten und Land 12 Prozentpunkte, viermal mehr als in der Romandie. Der Stadt-Land-Graben war also auch bei dieser Abstimmung vor allem ein deutschschweizer Phänomen, wohingegen die Romandie politisch gesehen viel einheitlicher tickt.

Aus der Minderheit wird eine Mehrheit

All dies bringt uns zum dritten, vielleicht gar spannendsten Punkt: dass nämlich genau all diese Unterschiedlichkeiten zur Stabilität und zum Zusammenhalt des Landes beitragen. Denn a priori kann auch eine noch so stark befürwortende Romandie – etwa wie der Kanton Jura, der mit mehr als 82% Ja für die Initiative stimmte – gegen eine auch nur leicht stärker als jetzt verwerfende Deutschschweiz nichts ausrichten. Und das sogar noch vor Einbezug der Zusatzhürde, die es bei allen Verfassungsänderungen zu überwinden gibt: Die Notwendigkeit der Kantonsmehrheit spielt der Deutschschweiz einen zusätzlichen Trumpf in die Hände. Und was gibt es Schlimmeres für eine Sprachminderheit, als zur Volksmehrheit zu gehören, aber an der Kantonsmehrheit zu scheitern?

Dass es bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente für Volks- und Ständemehr gereicht hat, zeigt, dass auch die doppelte Minderheit der welschen Kantone gewinnen kann. Dies allerdings nur unter Erfüllung zweierlei Bedingungen. Zum einen braucht es aufseiten der sprachlichen Minderheit eine robuste Stimmbeteiligung, oder zumindest keine klar tiefere als aufseiten der Mehrheit. Abbildung 2 zeigt, dass am 3. März 2024 in der Tat alle Sprachregionen etwa gleich stark mobilisiert waren. Zum anderen braucht es Allianzen: je stärker die natürliche Mehrheit – also die Deutschschweiz – intern geteilt ist, desto grösser sind die Siegeschancen der Minderheit(en).

Abbildung 2. Beteiligung bei der AHV13-Abstimmung nach Sprachregion und Gemeindetyp

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: BFS · Datenstand: 03.03.2024; alle 2’138 Gemeinden

Parteipolitisch gelang es der vereinigten Linken, einen genügend grossen Teil der sonst stramm bürgerlich stimmenden Mitte-rechts Sympathisanten und Sympathisantinnen auf ihre Seite zu ziehen. Vor allem bei sonst der SVP Zugeneigten scheint dies besonders gut geklappt zu haben. Die Volksabstimmung hat gezeigt, dass der doppelte Mehrheitssieg einer sich sonst doppelt in der Minderheit befindlichen Gruppe – den lateinischen Kantonen – nur durch die Aufteilung der Schweiz in viele kleine Völker möglich wurde.

Sprache ist nicht alles, aber vieles

Nach Erscheinen des Kommentars in Le Temps erreichte mich eine Email, in der sich jemand um die Bedeutung der Sprache für wirtschaftlichen Faktoren erkundete: «Warum die Sprachenfrage diskutieren, wenn sie nur ganz wenig Konsequenzen für die Wirtschaft hat? Die Stimmberechtigten der deutschschweizer Kantone haben vor allem deswegen gegen die 13. AHV-Rente gestimmt, weil sie mehr verdienen als die Welschen.»

Meine Antwort war, dass die Diskussion hier nicht den Eindruck erwecken wollte, dass Sprache und Kultur die einzigen Erklärungsfaktoren für politisches Verhalten wären. Trotzdem verbleibt selbst unter Berücksichtigung vieler verschiedener Kontrollvariablen wie dem durchschnittlichen steuerbaren Einkommen, dem Wahlerfolg der SVP bei den letzten Nationalratswahlen und/oder der Sozialhilfequote (all dies für alle Schweizer Gemeinden – die Unterscheidung in Stadt-Land kümmert sich übrigens bereits um einen grossen Teil dieser Varianz) eine viel stärkere Unterstützung der 13. AHV-Rente in der Romandie (siehe Abbildung 3). Selbst wenn also ökonomische Faktoren eine Rolle spielen, bleibt doch auch noch ein grosser Einfluss der politischen Kultur – bei dieser Abstimmung genauso wie bei anderen Fragen zum Wohlfahrtsstaat.

Abbildung 3. Sozialhilfe: Zustimmung zur 13. AHV-Rente auf Gemeindeebene nach Sprachgebiet und Sozialhilfequote

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto · Datenquelle: BFS · Anmerkungen: OLS, kontrolliert für % SVP bei NRW vom Oktober 2023


Hinweis: Dieser Beitrag erschien in leicht geänderter Fassung am 4. März 2024 in Le Temps. Der Beitrag wurde von Sean Müller übersetzt und von Sarah Bütikofer und Remo Parisi redigiert.

Bild: Unsplash.com