Linke Premiere und bürgerliche Hybris

Das Resultat ist eindeutig: Bei einer überdurchschnittlich hohen Stimmbeteiligung von knapp sechzig Prozent stimmten 58 Prozent der Stimmberechtigten der Einführung einer 13. AHV-Rente zu; auch eine deutliche Mehrheit der Kantone war für den Ausbau der AHV. Das ist eine veritable Klatsche für Bundesrat, Parlament, die bürgerlichen und rechten Parteien sowie Economiesuisse und den Arbeitgeberverband, welche die Vorlage bekämpft hatten.

Das Resultat stellt für die Linke eine Premiere dar: Zum ersten Mal in den vergangenen fünfzig Jahren wurde eine Volksinitiative für den Ausbau der AHV angenommen. Die neun bisher abgelehnten Initiativen fokussierten vor allem auf das Rentenalter. Die Volksinitiative «AHV-Plus», über die im September 2016 abgestimmt wurde und die der Vorlage für eine 13. AHV-Rente inhaltlich nahestand, sah eine 10-prozentige Erhöhung der AHV-Rente vor. Sie wurde mit 59 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.

Starke lateinische Zustimmung

Am stärksten wurde die Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente in den Kantonen der Westschweiz angenommen. In den französischsprachigen Kantonen schwankte die Zustimmung zwischen 74 (VD) und 83 Prozent (JU); im Wallis betrug sie 65 Prozent, in Freiburg 72 Prozent. Über sechzig Prozent lag der Ja-Stimmenenteil in den beiden Basel und in Solothurn. Wie bei sozialpolitischen Vorlagen üblich, stimmte auch das Tessin der 13. AHV-Rente überdurchschnittlich stark zu (71%). Im Nein-Lager befanden sich – nicht überraschend – die Kantone der Innerschweiz (LU, UR, SZ, OW, NW, ZG) und die Ostschweizer Kantone St. Gallen, Thurgau und die beiden Appenzell. Die übrigen deutschsprachigen Kantone stimmten mit 52 bis 56 Prozent zu. Damit war das Ständemehr erreicht.

Gemäss den Berechnungen des Bundesamtes für Statistik stimmten die französischsprachigen Gemeinden mit 75 Prozent zu, die italienischsprachigen mit 71 Prozent und die deutschsprachigen Gemeinden mit 52 Prozent. Der Röstigraben betrug somit beachtliche 23 Prozentpunkte und war ausgeprägter als bei der AHV21-Vorlage vom September 2022, welche das Frauenrentenalter erhöhte (18 Prozentpunkte). Weil aber bei der Vorlage für eine 13. AHV-Rente die Romandie nicht überstimmt wurde, war dieser Graben kein Thema.

Der Stadt-Land-Graben, der sich in den letzten Jahren immer wieder bei Volksabstimmungen zeigte, betrug bei der 13. AHV-Vorlage gerade acht Prozentpunkte. Die Kernstädte stimmten mit 63 Prozent zu, die ländlichen Gemeinden mit 55 Prozent. Dies ist ein klarer Hinweis, dass nicht nur die politische Linke für die Vorlage gestimmt hat.

Ein Einkommens- und Altersgraben

Bereits ein erster Blick auf die regionalen Resultate lässt vermuten, dass sich bei dieser Volksabstimmung ein Einkommensgraben geöffnet hat. So stimmten z.B Gemeinden der Zürcher Goldküste (Herrliberg, Erlenbach) nur gerade mit rund 33 Prozent zu, Spreitenbach dagegen mit 69 Prozent. Im Kanton St. Gallen betrug der Ja-Stimmenanteil der einkommensstarken Gemeinde Mörschwil 37 Prozent, jener von Rorschach 63 Prozent. In der rotgrünen Stadt Bern wiederum wurde die Vorlage im Stadtteil Bümpliz – einer SVP-Hochburg – mit 69 Prozent am stärksten von allen Stadtteilen angenommen.

Die Nachbefragung von LeeWas, bei Tamedia und 20minuten publiziert, bestätigt den Einkommensgraben, auch wenn das Vertrauensintervall zwischen drei und sechs Prozentpunkten schwankt: Stimmende mit einem Haushaltseinkommen von weniger als 4’000 Franken stimmten zu 69 Prozent zu. Gutverdienende dagegen verwarfen die Vorlage: Jene mit einem Einkommen von 13’000–16’000 Franken sagten mit 46 Prozent ja, jene mit über 16’000 Franken gar nur mit 39 Prozent. Diese eindrücklichen Zahlen lassen einen unweigerlich an den Kaufkraftverlust denken – und weniger an Selbstbedienung und Gier.

Nicht unerwartet bildete sich bei der Volksabstimmung über die 13. AHV-Rente auch ein Altersgraben. Wie die Analyse von LeeWas ergab, lehnten die unter 50-Jährigen die Vorlage mehrheitlich ab: die 18–34-Jährigen mit 60 Prozent, die 35–49-Jährigen mit 54 Prozent. Deutlich angenommen wurde sie dagegen von den 50–64-Jährigen (mit 68%) und den über 65-Jährigen (mit 78%). Bei dieser Variable schwankt das Vertrauensintervall zwischen zwei und fünf Prozentpunkten.

Über das linke Spektrum hinaus mobilisiert

Als im September 2016 über die Volksinitiative «AHVplus» abgestimmt wurde, welche die AHV-Renten um zehn Prozent anheben wollte, wurde diese bei einer Stimmbeteiligung von 43 Prozent von 59 Prozent der Stimmenden abgelehnt. Nur die fünf lateinischen Kantone nahmen die Vorlage an (TI, VD, NE, GE, JU). Gemäss der wissenschaftlichen Nachanalyse VOTO scheiterte die Volksinitiative daran, dass einerseits an der Finanzierbarkeit und andererseits am Sinn der pauschalen Rentenerhöhung gezweifelt wurde. Das Stimmverhalten war von einem Links-rechts-Gegensatz geprägt, wobei Rotgrün aber nicht geschlossen für die Vorlage votierte; knapp ein Drittel scherte aus. Dagegen stimmte jeder dritte SVP-Sympathisierende und jede vierte CVP-Sympathisierende der Vorlage zu.

Bei der aktuellen Abstimmung über die 13. AHV-Rente ist im Vergleich zur «AHV plus»-Abstimmung nicht nur die Beteiligung gestiegen (+15 Punkte), sondern auch der Ja-Stimmenanteil (+18 Punkte). In den französischsprachigen Gemeinden vergrösserte sich der Ja-Stimmenanteil um 25 Prozentpunkte, in den italienischsprachigen Gemeinden um 18 Punkte und in der Deutschschweiz um 16 Punkte. Auch mit Blick auf die Gemeindetypen erfolgte die Steigerung flächendeckend: Die Kernstädte stimmten um zwanzig Prozentpunkte stärker zu, die ländlichen Gemeinden um 24 Punkte.

Dieser flächendeckende Zuwachs der Zustimmung kann nicht mit dem linken Potenzial erklärt werden, das seit Längerem einigermassen stabil bei einem knappen Drittel liegt. Vielmehr dürfte die Volksinitiative weit ins bürgerliche und rechtskonservative Lager hinein mobilisiert haben, wo die Zustimmung durchaus Züge des Protests trägt. Aufgrund der sehr hohen Beteiligung kann zudem angenommen werden, dass sich auch Leute beteiligt haben, die ansonsten der Urne fernbleiben. Genauere Informationen wird aber erst die Vox-Analyse liefern, die in einigen Wochen erscheinen wird.

Der Zuwachs in der Zustimmung dürfte auch mit einer Veränderung des politisch-ideologischen Klimas in der Schweiz zusammenhängen. So ist seit der Covid-19-Pandemie die liberale Hemmschwelle gegenüber staatsinterventionistischen Massnahmen gesunken (vgl. etwa die bereitgestellten Rettungsschirme für Banken und Stromkonzerne). In letzter Zeit wurden auch Volksinitiativen für mehr Staatsinterventionismus mehrheitsfähig: Im November 2020 stimmten knapp 51 Prozent für die Konzernverantwortungsinitiative (sie scheiterte jedoch am Ständemehr) und im Februar 2022 stimmten 57 Prozent für die Initiative «Kinder ohne Tabak», die ein weitgehendes Werbeverbot für Tabakprodukte forderte. Dass sich im November 2021 61 Prozent für die Pflegeinitiative aussprachen, ist ein Indiz dafür, dass der Rückhalt für einen Ausbau des Sozialstaates zugenommen hat.

Bürgerliche Hybris

Offensichtlich ist: Die Popularität der Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente wurde im bürgerlichen und rechten Lager unterschätzt. Im März 2023 wurden zwar im Nationalrat und im Ständerat von bürgerlichen Ratsmitgliedern je eine Motion eingereicht, wonach die AHV die einkommensschwächsten Rentenhaushalte entlasten sollte. Bei den parlamentarischen Beratungen der Volksinitiative wurde aber in beiden Räten auf einen Gegenvorschlag, der die Vorlage hätte entschärfen können, verzichtet. Erst als die Umfragen eine starke Unterstützung im Volk für die Initiative anzeigten, hat der Nationalrat im Dezember 2023 die Motion Mettler angenommen. Die Motion Rieder ist noch hängig. 

Der Bundesrat hat die Volksabstimmung über die 13. AHV-Rente terminlich der Krankenkassenprämien-Entlastungsinitiative vorgezogen, weil er letztere als populärer und chancenreicher einschätzte. Nun könnte es aber eher so sein, dass die deutliche Annahme der 13. AHV-Rente der Prämienentlastungsinitiative (und dem folgenden Referendum über die Reform der Pensionskasse) sogar noch zusätzlichen Schub verleiht. 

Keine Hilfe waren im Abstimmungskampf die eingesetzten Altbundesräte, die in einem Brief und in Interviews auf wenig emphatische Art vor der Zustimmung zur Initiative warnten. Es scheint, dass die Bürgerlichen die Einkommensschwächeren, die von der Inflation und der Teuerung, den hohen Energiepreisen und den steigenden Mieten und Krankenkassenprämien existenziell betroffen sind, zu wenig wahrgenommen haben.

Dies zeigt auch die LeeWas-Befragung: Für die 13. AHV-Rente stimmten nicht nur die Sympathisierenden der SP und der Grünen (mit 82% bzw. 70%), auch jene Stimmenden, die sich als der SVP nahe stehend bezeichneten, nahmen die Vorlage an (mit 55%). Unerwartet hoch war mit 49 Prozent auch die Zustimmung bei den «Mitte»-Sympathisierenden. SVP und Mitte müssen sich folglich überlegen, wie sie den Graben zu diesem Teil ihrer Wählenden wieder zuschütten können.

Abfuhr für Erhöhung des Rentenalters

Mit der 13. AHV-Rente stand noch eine zweite Volksinitiative zur Abstimmung an, welche die Jungfreisinnigen lanciert hatten, die Renteninitiative. Sie sah vor, das Rentenalter auf 66 Jahre anzuheben und dann an die Lebenserwartung zu koppeln. Die Renteninitiative, die u.a. von SVP, FDP und Arbeitgeberverband zur Annahme empfohlen wurde, stand jedoch im Schatten der 13. AHV-Renten-Initiative und wurde auf der ganzen Linie verworfen: 75 Prozent der Stimmenden und sämtliche Kantone lehnten sie ab. In den Kantonen schwankte die Zustimmung zwischen 15 (JU, VD) und 31 Prozent (ZH).


Hinweis: Dieser Beitrag, leicht ergänzt, wurde am 4. März 2024 auf Journal21.ch erstpubliziert.

Bild: Initiativkomitee

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KategorienPolitisches Verhalten, Schweizer PolitikThemen
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