Digitale Demokratie: Mit neuen Instrumenten das Stimmvolk stärker einbeziehen

In einem ein­ma­li­gen digi­ta­len Par­ti­zi­pa­ti­ons­pro­jekt erar­bei­te­ten über tau­send Stimm­be­rech­tig­te aus der Deutsch­schweiz gemein­sam ein Argu­men­ta­ri­um zum Kli­ma- und Inno­va­ti­ons­ge­setz, das im Juni 2023 zur Abstim­mung kam. Die zufäl­lig aus­ge­wähl­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger konn­ten auf der eigens dafür ent­wi­ckel­ten Online-Platt­form «Demo­kra­tie­fa­brik» Argu­men­te für oder gegen das Bun­des­ge­setz vor­schla­gen, begut­ach­ten, bewer­ten und kom­men­tie­ren. Was zeich­ne­te die Teil­neh­men­den aus und wie haben sie das Argu­men­ta­ri­um entwickelt?

Kontext

Auf der Demo­kra­tie­fa­brik konn­ten die Teil­neh­men­den ein Argu­men­ta­ri­um mit Pro- und Con­tra-Argu­men­ten zur eid­ge­nös­si­schen Abstim­mungs­vor­la­ge «Bun­des­ge­setz über die Zie­le im Kli­ma­schutz, die Inno­va­ti­on und die Stär­kung der Ener­gie­si­cher­heit», die vom Volk in der Abstim­mung vom 18. Juni 2023 ange­nom­men wur­de, selb­stän­dig erar­bei­ten. Die Teil­neh­men­den wur­den vom Markt­for­schungs­in­sti­tut LINK rekru­tiert und nach reprä­sen­ta­ti­ven Kri­te­ri­en wie Geschlecht, Urba­ni­tät und Alter aus­ge­wählt. Wäh­rend drei Wochen im Früh­ling 2023, konn­ten sie sich unab­hän­gig von Ort und Zeit belie­big ein­log­gen und par­ti­zi­pie­ren. Die Teil­nah­me erfolg­te zudem nicht mit Real­na­men, son­dern unter einem Pseud­onym. Als Pseud­onym wur­den die Namen von Schwei­zer Ber­gen verwendet.

Zwei künst­li­che Mode­ra­to­ren (Ava­taren) unter­stütz­ten die User auf der Online-Platt­form. Die­se hal­fen den Teil­neh­men­den bei der Ori­en­tie­rung auf der Platt­form und führ­ten so auch digi­tal weni­ger erfah­re­ne Teil­neh­men­de durch die Demokratiefabrik.

Auf der Platt­form erhiel­ten die Teil­neh­men­den zunächst Infor­ma­tio­nen über das Kli­ma- und Inno­va­ti­ons­ge­setz (sie­he Info­box 1). Die­se Infor­ma­tio­nen wur­den vom For­schungs­team zusam­men­ge­stellt und von easy­vo­te auf ihre Neu­tra­li­tät und Ver­ständ­lich­keit überprüft.

Die Abstim­mungs­vor­la­ge – Das Kli­ma- und Innovationsgesetz

Im Juni 2023 fand die Volks­ab­stim­mung über das Bun­des­ge­setz über die Zie­le im Kli­ma­schutz, die Inno­va­ti­on und die Stär­kung der Ener­gie­si­cher­heit (KlG) statt. Die­ses beinhal­te­te Zie­le und gro­be Mass­nah­men für den Schwei­zer Kli­ma­schutz. Die Haupt­be­stand­tei­le des Geset­zes sowie des dazu­ge­hö­ri­gen Bun­des­be­schlus­ses waren folgende:

  • Die Fest­le­gung eines Ziels, damit die Schweiz bis 2050 kli­ma­neu­tral ist. Das bedeu­tet, dass ent­we­der kei­ne Treib­haus­ga­se mehr aus­ge­stos­sen wer­den oder der Aus­stoss von Treib­haus­ga­sen aus­ge­gli­chen wird (Net­to-Null-Ziel);
  • Der Aus­bau von Tech­no­lo­gien, um bereits aus­ge­stos­se­nes Treib­haus­gas zu redu­zie­ren (z. B. Ver­fah­ren, um CO2 aus der Atmo­sphä­re zu entfernen);
  • Eine finan­zi­el­le För­de­rung für Unter­neh­men, damit die­se den Aus­stoss von Treib­haus­ga­sen durch neu­ar­ti­ge Tech­no­lo­gien reduzieren;
  • Eine finan­zi­el­le Unter­stüt­zung für den Ersatz von nicht nach­hal­ti­gen Hei­zun­gen (fos­si­le und elek­tri­sche Hei­zun­gen) und für Gebäudesanierungen.

Merkmale der Teilnehmenden

Von den 1176 Per­so­nen, die ihre Posi­ti­on zur Vor­la­ge offen­ge­legt haben, haben sich ins­ge­samt 1023 Per­so­nen in irgend­ei­ner Form auch an der Erstel­lung des Argu­men­ta­ri­ums betei­ligt (mind. ein Argu­ment bewer­tet). Das Enga­ge­ment war dabei sehr hoch: 880 Teil­neh­men­de haben sich wäh­rend drei Wochen an mehr als einem Tag ein­ge­loggt. Die Teil­neh­men­den reich­ten ins­ge­samt 98 Argu­men­te (50 Pro- und 48 Con­tra-Argu­men­te) ein und 462 Teil­neh­men­de erstell­ten ein Gut­ach­ten zu min­des­tens einem die­ser Argu­men­te. Zudem wur­den 2625 Kom­men­ta­re ver­fasst (von 463 Teil­neh­men­den), was eine hohe Bereit­schaft der Teil­neh­men­den zeigt, das Kli­ma- und Inno­va­ti­ons­ge­setz und damit ver­bun­de­ne Fra­gen zu diskutieren.

Das Enga­ge­ment auf der Online-Platt­form war rela­tiv aus­ge­gli­chen. Tabel­le 1 zeigt, dass leicht mehr Män­ner als Frau­en teil­nah­men. Bezüg­lich Alter hat das inno­va­ti­ve digi­ta­le poli­ti­sche Betei­li­gungs­for­mat das Inter­es­se der jun­gen Bevöl­ke­rung jedoch lei­der nicht erreicht: Jugend­li­che zwi­schen 18 und 25 Jah­re waren im Ver­gleich zu ande­ren Alters­grup­pen untervertreten.

Tabelle 1: Teilnehmendenfeld der Demokratiefabrik

Merk­ma­le der TeilnehmendenAntei­le
GeschlechtFrau­en45.0%
Män­ner55.0%
Alter18–25 Jäh­ri­ge4.8%
26–45 Jäh­ri­ge29.3%
46–65 Jäh­ri­ge43.1%
Über 65 Jährige22.8%
Poli­tis­hes Interesse(eher) hoch82.9%
(eher) tief17.1%
Posi­tio­nie­rung auf
Links-Rechts-Ach­se
(eher) rechts43.1%
Genau in der Mitte18.0%
(eher) links38.9%

Tabel­le: Alix d’Agostino, DeFac­to • Daten­quel­le: Demo­kra­tie­fa­brik

Wie in der ers­ten Fall­stu­die mit der Demo­kra­tie­fa­brik zeig­ten auch dies­mal die Teil­neh­men­den ein hohes poli­ti­sches Inter­es­se. Schliess­lich nah­men Teil­neh­men­de, die sich auf dem poli­ti­schen Spek­trum rechts oder links posi­tio­nie­ren, etwa glei­cher­mas­sen teil.

Abbil­dung 1 zeigt, wie sich die Teil­neh­men­den zur Abstim­mungs­vor­la­ge posi­tio­niert haben. Bevor die Teil­neh­men­den die Mög­lich­keit hat­ten, Argu­men­te für oder gegen das Kli­ma- und Inno­va­ti­ons­ge­setz vor­zu­schla­gen, wur­den sie gefragt, ob sie eher für oder gegen die Abstim­mungs­vor­la­ge waren (auf einer Ska­la von 0–100), wobei sie ihre Posi­ti­on in einer kur­zen Stel­lung­nah­me begrün­den muss­ten. Die meis­ten Teil­neh­men­den befan­den sich im Pro-Lager. Zum Zeit­punkt der Stu­die (März–April 2023) waren 77 Pro­zent der Teil­neh­men­den (eher) für die Vor­la­ge und 21.5 Pro­zent waren (eher) dage­gen. Eini­ge waren zu die­sem Zeit­punkt noch unent­schie­den. Am Ende der Demo­kra­tie­fa­brik gaben 73.4 Pro­zent der Befrag­ten an, an der Urne eher oder sicher ein Ja ein­zu­le­gen. Die­se Wer­te sind ver­gleich­bar mit der zeit­lich ähn­lich gela­ger­ten ers­ten SRG-Umfra­ge (72% Ja), lie­gen aber höher als die­je­ni­gen der eben­falls Ende April durch­ge­führ­ten Tame­dia-Umfra­ge (58% Ja).

Abbildung 1: Positionierung der Teilnehmenden zur Abstimmungsvorlage

Abbil­dung: Demo­kra­tie­fa­brik

Die­se Gra­fik stand den Teil­neh­men­den in der Demo­kra­tie­fa­brik zur Ver­fü­gung. Durch Kli­cken auf jeden Punkt konn­ten die Teil­neh­men­den die Stel­lung­nah­me der ande­ren Teil­neh­men­den lesen und mit ihnen inter­agie­ren. Auf die­se Wei­se konn­ten die Betei­lig­ten sehen, dass sie nicht allein auf der Demo­kra­tie­fa­brik waren.

Demo­kra­tie­fa­brik

Die Demo­kra­tie­fa­brik wur­de vom For­schungs­team des Insti­tuts für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern kon­zi­piert und pro­gram­miert. Die Online-Platt­form ent­stand im Rah­men eines Pro­jek­tes des Natio­na­len For­schungs­pro­gramms 77 «Digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on» (SNF-Nr. 187496). Im Unter­schied zu sozia­len Medi­en bedient sich die Demo­kra­tie­fa­brik diver­ser Mecha­nis­men, die dar­auf abzie­len, den Aus­tausch zwi­schen unter­schied­li­chen Posi­tio­nen zu för­dern und eine mög­lichst breit abge­stütz­te Betei­li­gung zu erzie­len – ins­be­son­de­re der Mecha­nis­mus der Zufalls­aus­wahl kommt auf der Online-Platt­form mehr­fach zum Zug.

Die Erarbeitung des Argumentariums

Auf der Demo­kra­tie­fa­brik konn­ten die Teil­neh­men­den nicht nur Pro- und Con­tra-Argu­men­te vor­schla­gen, sie konn­ten auch von ande­ren Teil­neh­men­den vor­ge­schla­ge­ne Argu­men­te bewer­ten und begut­ach­ten sowie Ver­bes­se­rungs­vor­schlä­ge für bestehen­de Argu­men­te ein­rei­chen. Zudem konn­ten sie via Kom­men­tar­funk­ti­on über die Vor­la­ge dis­ku­tie­ren. Zusätz­lich wur­den die Teil­neh­men­den der Demo­kra­tie­fa­brik auf­ge­for­dert, zu bewer­ten, wie rele­vant die ein­ge­ge­be­nen Argu­men­te für ihren per­sön­li­chen Stimm­ent­scheid sind. Die aus Sicht der Bür­ge­rin­nen und Bür­gern rele­van­tes­ten Argu­men­te wur­den am Ende zusam­men­ge­tra­gen und in Form eines Argu­men­ta­ri­ums auf­ge­lis­tet. Das Pro­jekt­team hat vor der Publi­ka­ti­on ein­zig klei­ne gram­ma­ti­ka­li­sche Ände­run­gen an den Argu­men­ten vorgenommen.

Die­ses Argu­men­ta­ri­um stand der Schwei­zer Stimm­be­völ­ke­rung zur Mei­nungs­bil­dung bei der Volks­ab­stim­mung im Juni 2023 zur Ver­fü­gung. Das fina­le Argu­men­ta­ri­um wur­de in der Demo­kra­tie­fa­brik ver­öf­fent­licht, über ver­schie­de­ne digi­ta­le Kanä­le ver­brei­tet und im Rah­men eines Pilot­pro­jekts in der Stadt Woh­len (AG) per Post an Tau­sen­de von Schwei­zer Haus­hal­ten verschickt.

Das Argu­men­ta­ri­um stellt eine wich­ti­ge Ergän­zung zu den zahl­rei­chen bereits ver­füg­ba­ren Abstim­mungs­in­for­ma­tio­nen dar. Der gros­se Vor­teil des Argu­men­ta­ri­ums ist, dass es die Sicht der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger wider­spie­gelt. Bei der Erar­bei­tung wur­de bewusst auf den Ein­be­zug von Fach­ex­per­tin­nen und Fach­ex­per­ten sowie Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker ver­zich­tet. Damit unter­schei­det sich die Demo­kra­tie­fa­brik von ande­ren soge­nann­ten Mini-Publics, die bereits in der Schweiz und vor Ort statt­fan­den (Geis­ler und Sto­ja­no­vić 2020; Geis­ler 2023; Hei­mann et al. 2023). Wie das Argu­men­ta­ri­um der Demo­kra­tie­fa­brik, das sich auch von der Form her von bekann­ten Argu­men­ta­ri­en unter­schei­det, bei der Bevöl­ke­rung ange­kom­men ist, wer­den wei­ter­füh­ren­de Aus­wer­tun­gen zeigen.

Fazit

Die Ent­wick­lung eines Argu­men­ta­ri­ums mit Argu­men­ten für oder gegen das Kli­ma- und Inno­va­ti­ons­ge­setzt auf der selbst-ent­wi­ckel­ten Online-Platt­form Demo­kra­tie­fa­brik war durch ein star­kes und aus­ge­wo­ge­nes Enga­ge­ment der teil­neh­men­den Bür­ge­rin­nen und Bür­ger gekenn­zeich­net, auch wenn (stark) poli­tisch inter­es­sier­te Per­so­nen über­re­prä­sen­tiert waren. Die Dis­kus­sio­nen unter den Teil­neh­men­den waren bemer­kens­wert inten­siv und spie­gel­ten einen dyna­mi­schen Aus­tausch von Ideen wider. Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist, dass die Erstel­lung des Argu­men­ta­ri­ums eine gemein­schaft­li­che Anstren­gung war, die voll­stän­dig von den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern getra­gen wur­de, ohne die Betei­li­gung von Exper­tin­nen und Exper­ten: ein Argu­men­ta­ri­um von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern für Bür­ge­rin­nen und Bürger.

NFP 77 – Digi­ta­le Transformation
Im Natio­na­len For­schungs­pro­gramm (NFP 77) for­schen Wissenschaftler:innen in 46 For­schungs­pro­jek­ten zum The­ma „Digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on“. Das Haupt­ziel des NFP 77 Pro­gramms ist die Erar­bei­tung von Wis­sen über Chan­cen, Risi­ken, Her­aus­for­de­run­gen und Lösun­gen der Digi­ta­li­sie­rung für die Schweiz.

Refe­ren­zen:

  • Geis­ler, Alex­an­der (2023). Public trust in citi­zens’ juries when the peop­le deci­de on poli­ci­es: evi­dence from Switz­er­land. Poli­cy Stu­dies 44(6): 728–747.

  • Geis­ler, Alex­an­der und Nen­ad Sto­ja­no­vić (2020). Citi­zens’ panel in Sion. Sci­en­ti­fic Report. Uni­ver­si­ty of Geneva.

  • Hei­mann, Andri, Robin Gut, Fran­ces­co Veri, Dani­el Küb­ler und Nen­ad Sto­ja­no­vić (2023). Bür­ger­pa­nels für mehr Kli­ma­schutz im Kan­ton Zürich. Stu­di­en­be­richt des Zen­trums für Demo­kra­tie in Aar­au, Nr. 20, Juni, 2023.

Der Arti­kel wur­de von Remo Pari­si bearbeitet.

Bild: unsplash.com

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