Kann der öffentliche Sektor die moralischen Grenzen seiner Bediensteten verschieben?

Einleitung

Bei vielen Entscheidungen müssen wir Abwägungen treffen zwischen Einzelinteressen und dem Gemeinwohl. Berücksichtigen und verinnerlichen öffentliche Entscheidungsträger beispielsweise bei der Entscheidung für politische Massnahmen die unterschiedlichen Auswirkungen derselben Massnahme auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen (z. B. Schweizer vs. Ausländer)? Die Bereitschaft, das Gemeinwohl über das Einzelinteresse zu stellen, bezieht sich auf einen bestimmten Wert: den Universalismus (d. h. die Fähigkeit, das Wohlergehen aller Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob sie sozial nah oder fern stehen (Enke et al. (2022)). Dieser Wert hat in der sozialwissenschaftlichen Literatur erhebliche Aufmerksamkeit erfahren, da er ein Prädiktor für prosoziale Verhaltensweisen, politische Ansichten, Einstellungen zum Klimawandel u. ä. ist und daher gleichberechtigt mit anderen «klassischen» Variablen wie Einkommen, Reichtum, Bildung, Religiosität oder Überzeugungen zur Effizienz der Regierung zu betrachten ist. Worüber man weniger bis gar nichts weiss, ist, wie ein solcher Wert geschaffen wird, wie eine Person zum Universalisten wird. Genau das ist das Ziel dieser Forschungsarbeit: Sie soll untersuchen, ob und durch welche Mechanismen wirtschaftliche Institutionen diesen Wert prägen können.

Forschungsansatz

In der Philosophie und den Sozialwissenschaften wird seit jeher auf den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Sektor in Bezug auf die Organisationsziele hingewiesen, d. h. auf die relative Bedeutung, die dem Gemeinwohl und dem Einzelinteresse beigemessen wird. Die theoretische Hypothese, die in dieser Forschungsarbeit aufgestellt und geprüft wird, lautet, dass der öffentliche Sektor seinen Bediensteten Universalismus vermittelt, indem er sie dem öffentlichen Geist oder anders gesagt dem Vorrang des Gemeinwohls über das Einzelinteresse aussetzt.

Das Schweizer Haushalt-Panel liefert georeferenzierte Daten auf individueller Ebene über die Berufswahl der Befragten im öffentlichen und privaten Sektor sowie über ihre Präferenzen im Zeitverlauf. Dadurch ist es möglich, einzuschätzen, wie sich der Universalismus (und andere Präferenzen) derselben Personen im selben Arbeitsmarkt verändert, wenn sie von einem Sektor in einen anderen wechseln. Die kausale Identifikation steht jedoch vor dem Bias der dynamischen ausgelassenen Variation, die erklärt, warum ein Individuum den Sektor wechselt. Insbesondere ist es möglich, dass eine Person aufgrund eines positiven Schocks ihres Universalismus (z. B. weil sie sich in jemanden verliebt!) den Sektor wechselt und somit bereits vor dem Sektorwechsel Universalist geworden ist.

Um diesen Bias zu entfernen, vergleicht diese Studie den anfänglichen Universalismus von Personen, die den Sektor wechseln (bevor sie den Sektor wechseln), mit dem von Personen, die im selben Sektor verbleiben, und stellt fest, dass die Selektion aufgrund des Universalismus auf der Ebene der öffentlichen Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit und soziale Dienste, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor angesiedelt sind) stattfindet, aber nicht auf der Ebene des öffentlichen Sektors. Es ist dann möglich, den kausalen Effekt des institutionellen Sektors zu erfassen, indem der Fokus auf die Arbeitnehmer gelegt wird, die von einem Sektor in einen anderen wechseln, jedoch nie im öffentlichen Dienst gearbeitet haben.

Ergebnisse, Diskussionen und Auswirkungen

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass 33 % der Beschäftigten, die ursprünglich keine Universalisten waren, zu solchen werden, wenn sie vom privaten in den öffentlichen Sektor wechseln. Hingegen lässt sich ein solcher Effekt des öffentlichen Dienstes auf die Ideologie, die Präferenzen für Sozialausgaben und Umverteilung sowie das Vertrauen in öffentliche Institutionen nicht nachweisen. Darüber hinaus nehmen diese Arbeitnehmer, die zu Universalisten werden, die allgemeinen Verhaltensweisen an, die in der Literatur mit Universalisten in Verbindung gebracht werden: Sie haben weniger Freunde, spenden weniger lokal und mehr global und verhalten sich weniger wie «free-riders». Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Beschäftigten diesen Wert gut verinnerlicht haben und dass er, sobald er verinnerlicht ist, ihr Verhalten bestimmt.

Natürlich kann dieser Effekt je nach «State capture» (Form der politischen Korruption, bei der private Interessen einer Gruppe den Entscheidungsprozess eines Staates zu ihrem eigenen Vorteil massgeblich beeinflussen) variieren. Die Forschungsarbeit untersucht die historischen Unterschiede der State capture, die zu anhaltenden kulturellen Unterschieden in den Überzeugungen der Individuen über den Staat und seine Pflicht, das Gemeinwohl über das Eigeninteresse zu stellen, geführt haben, um den Einfluss des öffentlichen Sektors auf den Universalismus durch die Untersuchung des öffentlichen Geistes aufzudecken.

Da Beschäftigte zugleich Eltern oder Freund sein können und ihrerseits ihre Werte weitergeben, sind die Auswirkungen des öffentlichen Sektors auf die Verbreitung dieses Wertes in der Gesellschaft bedeutsam. Eine erste Andeutung der Ergebnisse ist, dass sich eine Gesellschaft für einen grösseren öffentlichen Sektor entscheiden kann, um eine bedeutende Verbreitung dieses Wertes sicherzustellen. Die Forschungsarbeit zeigt auch, dass jede Reform des öffentlichen Sektors, um gewinnbringender zu sein, Anreize und moralische Botschaften rund um das Gemeinwohl kombinieren und so die Komplementarität zwischen beiden nutzen sollte.


Bemerkung: Dieser Artikel wurde im Rahmen des IDHEAP Policy Brief No. 7 veröffentlicht.

Referenzen:

  • Laure Athias (2024).  Common Good Institutions, Identity in the Workplace, and Value Dynamics. Working Paper.
  • Benjamin Enke, Ricardo Rodriguez-Padilla and Florian Zimmermann (2022). Moral Universalism: Measurement and Economic Relevance. Management Science, 68(5), 3590-3603.

Bild: Shutterstock.com

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