1

Digitale Demokratie: Mit neuen Instrumenten das Stimmvolk stärker einbeziehen

Giada Gianola, Dominik Wyss, Anja Heidelberger, Marlène Gerber
28th Februar 2024

In einem einmaligen digitalen Partizipationsprojekt erarbeiteten über tausend Stimmberechtigte aus der Deutschschweiz gemeinsam ein Argumentarium zum Klima- und Innovationsgesetz, das im Juni 2023 zur Abstimmung kam. Die zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger konnten auf der eigens dafür entwickelten Online-Plattform «Demokratiefabrik» Argumente für oder gegen das Bundesgesetz vorschlagen, begutachten, bewerten und kommentieren. Was zeichnete die Teilnehmenden aus und wie haben sie das Argumentarium entwickelt?

Kontext

Auf der Demokratiefabrik konnten die Teilnehmenden ein Argumentarium mit Pro- und Contra-Argumenten zur eidgenössischen Abstimmungsvorlage «Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit», die vom Volk in der Abstimmung vom 18. Juni 2023 angenommen wurde, selbständig erarbeiten. Die Teilnehmenden wurden vom Marktforschungsinstitut LINK rekrutiert und nach repräsentativen Kriterien wie Geschlecht, Urbanität und Alter ausgewählt. Während drei Wochen im Frühling 2023, konnten sie sich unabhängig von Ort und Zeit beliebig einloggen und partizipieren. Die Teilnahme erfolgte zudem nicht mit Realnamen, sondern unter einem Pseudonym. Als Pseudonym wurden die Namen von Schweizer Bergen verwendet.

Zwei künstliche Moderatoren (Avataren) unterstützten die User auf der Online-Plattform. Diese halfen den Teilnehmenden bei der Orientierung auf der Plattform und führten so auch digital weniger erfahrene Teilnehmende durch die Demokratiefabrik.

Auf der Plattform erhielten die Teilnehmenden zunächst Informationen über das Klima- und Innovationsgesetz (siehe Infobox 1). Diese Informationen wurden vom Forschungsteam zusammengestellt und von easyvote auf ihre Neutralität und Verständlichkeit überprüft.

Die Abstimmungsvorlage – Das Klima- und Innovationsgesetz

Im Juni 2023 fand die Volksabstimmung über das Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit (KlG) statt. Dieses beinhaltete Ziele und grobe Massnahmen für den Schweizer Klimaschutz. Die Hauptbestandteile des Gesetzes sowie des dazugehörigen Bundesbeschlusses waren folgende:

  • Die Festlegung eines Ziels, damit die Schweiz bis 2050 klimaneutral ist. Das bedeutet, dass entweder keine Treibhausgase mehr ausgestossen werden oder der Ausstoss von Treibhausgasen ausgeglichen wird (Netto-Null-Ziel);
  • Der Ausbau von Technologien, um bereits ausgestossenes Treibhausgas zu reduzieren (z. B. Verfahren, um CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen);
  • Eine finanzielle Förderung für Unternehmen, damit diese den Ausstoss von Treibhausgasen durch neuartige Technologien reduzieren;
  • Eine finanzielle Unterstützung für den Ersatz von nicht nachhaltigen Heizungen (fossile und elektrische Heizungen) und für Gebäudesanierungen.

Merkmale der Teilnehmenden

Von den 1176 Personen, die ihre Position zur Vorlage offengelegt haben, haben sich insgesamt 1023 Personen in irgendeiner Form auch an der Erstellung des Argumentariums beteiligt (mind. ein Argument bewertet). Das Engagement war dabei sehr hoch: 880 Teilnehmende haben sich während drei Wochen an mehr als einem Tag eingeloggt. Die Teilnehmenden reichten insgesamt 98 Argumente (50 Pro- und 48 Contra-Argumente) ein und 462 Teilnehmende erstellten ein Gutachten zu mindestens einem dieser Argumente. Zudem wurden 2625 Kommentare verfasst (von 463 Teilnehmenden), was eine hohe Bereitschaft der Teilnehmenden zeigt, das Klima- und Innovationsgesetz und damit verbundene Fragen zu diskutieren.

Das Engagement auf der Online-Plattform war relativ ausgeglichen. Tabelle 1 zeigt, dass leicht mehr Männer als Frauen teilnahmen. Bezüglich Alter hat das innovative digitale politische Beteiligungsformat das Interesse der jungen Bevölkerung jedoch leider nicht erreicht: Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahre waren im Vergleich zu anderen Altersgruppen untervertreten.

Tabelle 1: Teilnehmendenfeld der Demokratiefabrik

Merkmale der Teilnehmenden Anteile
Geschlecht Frauen 45.0%
Männer 55.0%
Alter 18-25 Jährige 4.8%
26-45 Jährige 29.3%
46-65 Jährige 43.1%
Über 65 Jährige 22.8%
Politishes Interesse (eher) hoch 82.9%
(eher) tief 17.1%
Positionierung auf
Links-Rechts-Achse
(eher) rechts 43.1%
Genau in der Mitte 18.0%
(eher) links 38.9%

Tabelle: Alix d’Agostino, DeFacto • Datenquelle: Demokratiefabrik

Wie in der ersten Fallstudie mit der Demokratiefabrik zeigten auch diesmal die Teilnehmenden ein hohes politisches Interesse. Schliesslich nahmen Teilnehmende, die sich auf dem politischen Spektrum rechts oder links positionieren, etwa gleichermassen teil.

Abbildung 1 zeigt, wie sich die Teilnehmenden zur Abstimmungsvorlage positioniert haben. Bevor die Teilnehmenden die Möglichkeit hatten, Argumente für oder gegen das Klima- und Innovationsgesetz vorzuschlagen, wurden sie gefragt, ob sie eher für oder gegen die Abstimmungsvorlage waren (auf einer Skala von 0-100), wobei sie ihre Position in einer kurzen Stellungnahme begründen mussten. Die meisten Teilnehmenden befanden sich im Pro-Lager. Zum Zeitpunkt der Studie (März–April 2023) waren 77 Prozent der Teilnehmenden (eher) für die Vorlage und 21.5 Prozent waren (eher) dagegen. Einige waren zu diesem Zeitpunkt noch unentschieden. Am Ende der Demokratiefabrik gaben 73.4 Prozent der Befragten an, an der Urne eher oder sicher ein Ja einzulegen. Diese Werte sind vergleichbar mit der zeitlich ähnlich gelagerten ersten SRG-Umfrage (72% Ja), liegen aber höher als diejenigen der ebenfalls Ende April durchgeführten Tamedia-Umfrage (58% Ja).

Abbildung 1: Positionierung der Teilnehmenden zur Abstimmungsvorlage

Abbildung: Demokratiefabrik

Diese Grafik stand den Teilnehmenden in der Demokratiefabrik zur Verfügung. Durch Klicken auf jeden Punkt konnten die Teilnehmenden die Stellungnahme der anderen Teilnehmenden lesen und mit ihnen interagieren. Auf diese Weise konnten die Beteiligten sehen, dass sie nicht allein auf der Demokratiefabrik waren.

Demokratiefabrik

Die Demokratiefabrik wurde vom Forschungsteam des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern konzipiert und programmiert. Die Online-Plattform entstand im Rahmen eines Projektes des Nationalen Forschungsprogramms 77 «Digitale Transformation» (SNF-Nr. 187496). Im Unterschied zu sozialen Medien bedient sich die Demokratiefabrik diverser Mechanismen, die darauf abzielen, den Austausch zwischen unterschiedlichen Positionen zu fördern und eine möglichst breit abgestützte Beteiligung zu erzielen – insbesondere der Mechanismus der Zufallsauswahl kommt auf der Online-Plattform mehrfach zum Zug.

Die Erarbeitung des Argumentariums

Auf der Demokratiefabrik konnten die Teilnehmenden nicht nur Pro- und Contra-Argumente vorschlagen, sie konnten auch von anderen Teilnehmenden vorgeschlagene Argumente bewerten und begutachten sowie Verbesserungsvorschläge für bestehende Argumente einreichen. Zudem konnten sie via Kommentarfunktion über die Vorlage diskutieren. Zusätzlich wurden die Teilnehmenden der Demokratiefabrik aufgefordert, zu bewerten, wie relevant die eingegebenen Argumente für ihren persönlichen Stimmentscheid sind. Die aus Sicht der Bürgerinnen und Bürgern relevantesten Argumente wurden am Ende zusammengetragen und in Form eines Argumentariums aufgelistet. Das Projektteam hat vor der Publikation einzig kleine grammatikalische Änderungen an den Argumenten vorgenommen.

Dieses Argumentarium stand der Schweizer Stimmbevölkerung zur Meinungsbildung bei der Volksabstimmung im Juni 2023 zur Verfügung. Das finale Argumentarium wurde in der Demokratiefabrik veröffentlicht, über verschiedene digitale Kanäle verbreitet und im Rahmen eines Pilotprojekts in der Stadt Wohlen (AG) per Post an Tausende von Schweizer Haushalten verschickt.

Das Argumentarium stellt eine wichtige Ergänzung zu den zahlreichen bereits verfügbaren Abstimmungsinformationen dar. Der grosse Vorteil des Argumentariums ist, dass es die Sicht der Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt. Bei der Erarbeitung wurde bewusst auf den Einbezug von Fachexpertinnen und Fachexperten sowie Politikerinnen und Politiker verzichtet. Damit unterscheidet sich die Demokratiefabrik von anderen sogenannten Mini-Publics, die bereits in der Schweiz und vor Ort stattfanden (Geisler und Stojanović 2020; Geisler 2023; Heimann et al. 2023). Wie das Argumentarium der Demokratiefabrik, das sich auch von der Form her von bekannten Argumentarien unterscheidet, bei der Bevölkerung angekommen ist, werden weiterführende Auswertungen zeigen.

Fazit

Die Entwicklung eines Argumentariums mit Argumenten für oder gegen das Klima- und Innovationsgesetzt auf der selbst-entwickelten Online-Plattform Demokratiefabrik war durch ein starkes und ausgewogenes Engagement der teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger gekennzeichnet, auch wenn (stark) politisch interessierte Personen überrepräsentiert waren. Die Diskussionen unter den Teilnehmenden waren bemerkenswert intensiv und spiegelten einen dynamischen Austausch von Ideen wider. Besonders hervorzuheben ist, dass die Erstellung des Argumentariums eine gemeinschaftliche Anstrengung war, die vollständig von den Bürgerinnen und Bürgern getragen wurde, ohne die Beteiligung von Expertinnen und Experten: ein Argumentarium von Bürgerinnen und Bürgern für Bürgerinnen und Bürger.

NFP 77 – Digitale Transformation
Im Nationalen Forschungsprogramm (NFP 77) forschen Wissenschaftler:innen in 46 Forschungsprojekten zum Thema „Digitale Transformation“. Das Hauptziel des NFP 77 Programms ist die Erarbeitung von Wissen über Chancen, Risiken, Herausforderungen und Lösungen der Digitalisierung für die Schweiz.


Referenzen:

  • Geisler, Alexander (2023). Public trust in citizens’ juries when the people decide on policies: evidence from Switzerland. Policy Studies 44(6): 728-747.

  • Geisler, Alexander und Nenad Stojanović (2020). Citizens’ panel in Sion. Scientific Report. University of Geneva.

  • Heimann, Andri, Robin Gut, Francesco Veri, Daniel Kübler und Nenad Stojanović (2023). Bürgerpanels für mehr Klimaschutz im Kanton Zürich. Studienbericht des Zentrums für Demokratie in Aarau, Nr. 20, Juni, 2023.

Der Artikel wurde von Remo Parisi bearbeitet.

Bild: unsplash.com