Die Kunst legitimer Entscheidungsfindung

Legi­ti­mi­tät ist der Grund­stein einer funk­tio­nie­ren­den Demo­kra­tie. Dies wirft eine ent­schei­den­de Fra­ge auf: Wie wird diese—so essenzielle—Legitimität her­ge­stellt? Unse­re Stu­die geht die­ser Fra­ge nach. Wir zei­gen, dass die Abstim­mungs­me­tho­de wesent­lich beein­flusst, wie die Öffent­lich­keit die Legi­ti­mi­tät einer poli­ti­schen Ent­schei­dung wahrnimmt.

Ist die Mehrheitswahl die beste Methode für Entscheidungsprozesse?

Die Mehr­heits­wahl ist für ein brei­tes Spek­trum an Ent­schei­dun­gen häu­fig der Stan­dard: Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker wer­den oft durch Mehr­heits­wahl­ent­schei­de gewählt, auch bei Abstim­mun­gen kommt das Mehr­heits­ver­fah­ren zur Anwen­dung. Dies wirft die Fra­ge auf, ob die Mehr­heits­wahl immer der bes­te Weg ist. Gäbe es viel­leicht eine alter­na­ti­ve Abstim­mungs­me­tho­de, die die Legi­ti­mi­tät einer Ent­schei­dung stei­gern könnten?

Um die­ser Fra­ge auf den Grund zu gehen, führ­ten wir ein Online-Expe­ri­ment durch, in dem die Teil­neh­mer ver­schie­de­ne Fra­gen beant­wor­te­ten. Die Ant­wort erfolg­te durch die Aus­wahl aus einer Rei­he von Ant­wort­op­tio­nen. Die­se Aus­wahl wie­der­um konn­ten die Teilnehmer:innen auf vier Arten tref­fen: 1) Eine bevor­zug­te Opti­on aus­wäh­len, 2) Punk­te ver­tei­len, 3) Optio­nen in eine Rang­fol­ge brin­gen und 4) Optio­nen anneh­men oder ableh­nen. Die Stimm­ab­ga­be erfolg­te über eine spe­zi­ell ent­wi­ckel­te Smart­pho­ne-App (sie­he Abbil­dung 1).

Abbildung 1. Ergebnisübersicht des Experiments: Vergleich von Abstimmungsmethoden und deren Legitimitätseinschätzungen

Abbil­dung: Alix d’A­gosti­no, DeFacto

Teilnehmer bevorzugen differenzierte Präferenzäußerung in Wahlsystemen

Die Ergeb­nis­se unse­rer Stu­die wer­fen ein neu­es Licht auf die Wahr­neh­mung von Wahl­sys­te­men.
Im Gegen­satz zur tra­di­tio­nel­len Mehr­heits­wahl, die Teilnehmer:innen auf die Aus­wahl einer ein­zi­gen Opti­on beschränkt, erlaubt Bewer­tungs­wahl eine nuan­cier­te Abstu­fung der Prä­fe­ren­zen, indem jeder Opti­on bis zu fünf Punk­te zuge­teilt wer­den kön­nen. Eine mitt­le­re Posi­ti­on nimmt die modi­fi­zier­te Bor­da-Wahl ein, die zwar mehr Fle­xi­bi­li­tät als die Zustim­mungs­wahl bie­tet, jedoch nicht die umfas­sen­de Aus­drucks­mög­lich­keit der Bewer­tungs­wahl erreicht.

Inter­es­san­ter­wei­se spie­gelt sich die­se Fle­xi­bi­li­täts­hier­ar­chie in der von den Teil­neh­men­den wahr­ge­nom­me­nen Legi­ti­mi­tät wider: Die Bewer­tungs­wahl wird als am legi­tims­ten bewer­tet, gefolgt von der modi­fi­zier­ten Bor­da-Wahl und der Zustim­mungs­wahl, wäh­rend die Mehr­heits­wahl als am wenigs­ten legi­tim wahr­ge­nom­men wird.

Dies legt den Schluss nahe, dass Wähler:innen eine aus­führ­li­che und dif­fe­ren­zier­te Arti­ku­la­ti­on ihrer Prä­fe­ren­zen mit einem gestei­ger­ten Maß an Legi­ti­mi­tät ver­bin­den. Offen bleibt jedoch die Fra­ge, ob der Ein­satz von Punkt­wahl­ver­fah­ren in allen Kon­tex­ten kol­lek­ti­ver Ent­schei­dungs­fin­dung die Legi­ti­mi­tät stei­gern würde.

Abbildung 2. Ergebnisübersicht des Experiments: Vergleich von Abstimmungsmethoden und deren Legitimitätseinschätzungen

Abbil­dung: Alix d’A­gosti­no, DeFacto

Kontext beeinflusst die Legitimitätswahrnehmung: Ein Vergleich zweier Szenarien

Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, imple­men­tier­ten wir ein sorg­fäl­tig kon­zi­pier­tes Expe­ri­ment­de­sign: Wir kon­fron­tier­ten die Teilnehmer:innen mit Fra­gen von unter­schied­li­cher gesell­schaft­li­cher Trag­wei­te, die von poli­ti­schen The­men wie den COVID-19-Maß­nah­men bis zu all­täg­li­chen Ent­schei­dun­gen, etwa der Wahl einer Lieb­lings­far­be, reichten.

Die Ergeb­nis­se zei­gen, dass der Kon­text der Fra­ge maß­geb­lich die Wahr­neh­mung der Legi­ti­mi­tät prägt. Abbil­dung 2 zeigt, dass die Bewer­tungs­wahl in bei­den Sze­na­ri­en – sowohl bei gewich­ti­gen poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen als auch bei tri­via­len All­tags­fra­gen – als legi­ti­mer bewer­tet wur­de als die tra­di­tio­nel­le Mehrheitswahl.

Gleich­zei­tig wur­de die Mehr­heits­wahl bei Fra­gen mit gerin­ger gesell­schaft­li­cher Bedeu­tung als legi­ti­mer bewer­tet als bei Fra­gen mit weit­rei­chen­den gesell­schaft­li­chen Fol­gen. Inter­es­san­ter­wei­se zeigt der lila Pfeil von nach oben: Die Bewer­tungs­wahl wur­de bei weit­rei­chen­den Ent­schei­dun­gen als legi­ti­mer eingestuft.

Die­se Erkennt­nis­se legen nahe, dass Wähler:innen beson­ders bei weit­rei­chen­den Ent­schei­dun­gen ihre Prä­fe­ren­zen umfas­send arti­ku­lie­ren möch­ten. Die Mög­lich­keit, jeder Opti­on Punk­te zuzu­wei­sen, stei­gert bei der­ar­ti­gen Fra­gen wesent­lich die wahr­ge­nom­me­ne Legitimität.

Die Wechselwirkung zwischen klaren Präferenzen und differenzierten Wahlmethode

Zusätz­lich soll­ten poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger, die Wech­sel­be­zie­hung zwi­schen der Klar­heit der Wäh­ler­prä­fe­ren­zen und ihrer bevor­zug­ten Wahl­me­tho­de berück­sich­ti­gen: Denn Teilnehmer:innen mit klar defi­nier­ten Mei­nun­gen bewer­te­ten fle­xi­ble­re Wahl­sys­te­me als legi­ti­mer. Auf der ande­ren Sei­te ten­dier­ten Wähler:innen mit unsi­che­ren oder schwan­ken­den Prä­fe­ren­zen dazu, ihre per­sön­li­che Unsi­cher­heit als Zwei­fel an der Legi­ti­mi­tät der Wahl­me­tho­de zu interpretieren.

Neue Perspektiven in der Wahlgestaltung

Poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger, die Abstim­mungs­pro­zes­se pla­nen und gestal­ten, kön­nen die­se Erkennt­nis­se für sich nut­zen, indem sie unser Expe­ri­ment-Design (teil­wei­se) über­neh­men: Sie kön­nen Wäh­len­de auf­for­dern, mehr­fach über die­sel­be Fra­ge­stel­lung abzu­stim­men, begin­nend mit einer ein­fa­chen Metho­de wie der Mehr­heits­wahl und fort­schrei­tend zu kom­ple­xe­ren Ver­fah­ren wie der Bewer­tungs­wahl. Die letz­te Metho­de, soll­te die aus­schlag­ge­ben­de Stim­me sein. Die­ser schritt­wei­se Pro­zess erlaubt ins­be­son­de­re Unent­schlos­se­nen ihre Prä­fe­ren­zen zu erken­nen und zu fes­ti­gen, ohne sich von kom­ple­xen Wahl­me­tho­den über­for­dert zu fühlen.

Durch die Inte­gra­ti­on der Bewer­tungs­wahl in Wahl­ver­fah­ren kön­nen poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger die wahr­ge­nom­me­ne Legi­ti­mi­tät von Ent­schei­dun­gen signi­fi­kant erhö­hen, beson­ders in umstrit­te­nen oder heik­len Situationen.

NFP 77 – Digi­ta­le Transformation
Im Natio­na­len For­schungs­pro­gramm (NFP 77) for­schen Wissenschaftler:innen in 46 For­schungs­pro­jek­ten zum The­ma „Digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on“. Das Haupt­ziel des NFP 77 Pro­gramms ist die Erar­bei­tung von Wis­sen über Chan­cen, Risi­ken, Her­aus­for­de­run­gen und Lösun­gen der Digi­ta­li­sie­rung für die Schweiz.

Refe­renz:

Haus­la­den, Cari­na Ines; Häng­gli, Regu­la; Hel­bing, Dirk; Kunz, Rena­to; Wang, Jun­ling et Pour­n­aras, Evan­ge­los. How Voting Rules Impact Legi­ti­ma­cy (2024). Ver­füg­bar bei SSRN: https://ssrn.com/abstract=4372245.

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