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Die Kunst legitimer Entscheidungsfindung

Carina I. Hausladen
23rd Februar 2024

Legitimität ist der Grundstein einer funktionierenden Demokratie. Dies wirft eine entscheidende Frage auf: Wie wird diese—so essenzielle—Legitimität hergestellt? Unsere Studie geht dieser Frage nach. Wir zeigen, dass die Abstimmungsmethode wesentlich beeinflusst, wie die Öffentlichkeit die Legitimität einer politischen Entscheidung wahrnimmt.

Ist die Mehrheitswahl die beste Methode für Entscheidungsprozesse?

Die Mehrheitswahl ist für ein breites Spektrum an Entscheidungen häufig der Standard: Politikerinnen und Politiker werden oft durch Mehrheitswahlentscheide gewählt, auch bei Abstimmungen kommt das Mehrheitsverfahren zur Anwendung. Dies wirft die Frage auf, ob die Mehrheitswahl immer der beste Weg ist. Gäbe es vielleicht eine alternative Abstimmungsmethode, die die Legitimität einer Entscheidung steigern könnten?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, führten wir ein Online-Experiment durch, in dem die Teilnehmer verschiedene Fragen beantworteten. Die Antwort erfolgte durch die Auswahl aus einer Reihe von Antwortoptionen. Diese Auswahl wiederum konnten die Teilnehmer:innen auf vier Arten treffen: 1) Eine bevorzugte Option auswählen, 2) Punkte verteilen, 3) Optionen in eine Rangfolge bringen und 4) Optionen annehmen oder ablehnen. Die Stimmabgabe erfolgte über eine speziell entwickelte Smartphone-App (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1. Ergebnisübersicht des Experiments: Vergleich von Abstimmungsmethoden und deren Legitimitätseinschätzungen

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto

Teilnehmer bevorzugen differenzierte Präferenzäußerung in Wahlsystemen

Die Ergebnisse unserer Studie werfen ein neues Licht auf die Wahrnehmung von Wahlsystemen.
Im Gegensatz zur traditionellen Mehrheitswahl, die Teilnehmer:innen auf die Auswahl einer einzigen Option beschränkt, erlaubt Bewertungswahl eine nuancierte Abstufung der Präferenzen, indem jeder Option bis zu fünf Punkte zugeteilt werden können. Eine mittlere Position nimmt die modifizierte Borda-Wahl ein, die zwar mehr Flexibilität als die Zustimmungswahl bietet, jedoch nicht die umfassende Ausdrucksmöglichkeit der Bewertungswahl erreicht.

Interessanterweise spiegelt sich diese Flexibilitätshierarchie in der von den Teilnehmenden wahrgenommenen Legitimität wider: Die Bewertungswahl wird als am legitimsten bewertet, gefolgt von der modifizierten Borda-Wahl und der Zustimmungswahl, während die Mehrheitswahl als am wenigsten legitim wahrgenommen wird.

Dies legt den Schluss nahe, dass Wähler:innen eine ausführliche und differenzierte Artikulation ihrer Präferenzen mit einem gesteigerten Maß an Legitimität verbinden. Offen bleibt jedoch die Frage, ob der Einsatz von Punktwahlverfahren in allen Kontexten kollektiver Entscheidungsfindung die Legitimität steigern würde.

Abbildung 2. Ergebnisübersicht des Experiments: Vergleich von Abstimmungsmethoden und deren Legitimitätseinschätzungen

Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto

Kontext beeinflusst die Legitimitätswahrnehmung: Ein Vergleich zweier Szenarien

Um diese Frage zu beantworten, implementierten wir ein sorgfältig konzipiertes Experimentdesign: Wir konfrontierten die Teilnehmer:innen mit Fragen von unterschiedlicher gesellschaftlicher Tragweite, die von politischen Themen wie den COVID-19-Maßnahmen bis zu alltäglichen Entscheidungen, etwa der Wahl einer Lieblingsfarbe, reichten.

Die Ergebnisse zeigen, dass der Kontext der Frage maßgeblich die Wahrnehmung der Legitimität prägt. Abbildung 2 zeigt, dass die Bewertungswahl in beiden Szenarien – sowohl bei gewichtigen politischen Entscheidungen als auch bei trivialen Alltagsfragen – als legitimer bewertet wurde als die traditionelle Mehrheitswahl.

Gleichzeitig wurde die Mehrheitswahl bei Fragen mit geringer gesellschaftlicher Bedeutung als legitimer bewertet als bei Fragen mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen. Interessanterweise zeigt der lila Pfeil von nach oben: Die Bewertungswahl wurde bei weitreichenden Entscheidungen als legitimer eingestuft.

Diese Erkenntnisse legen nahe, dass Wähler:innen besonders bei weitreichenden Entscheidungen ihre Präferenzen umfassend artikulieren möchten. Die Möglichkeit, jeder Option Punkte zuzuweisen, steigert bei derartigen Fragen wesentlich die wahrgenommene Legitimität.

Die Wechselwirkung zwischen klaren Präferenzen und differenzierten Wahlmethode

Zusätzlich sollten politische Entscheidungsträger, die Wechselbeziehung zwischen der Klarheit der Wählerpräferenzen und ihrer bevorzugten Wahlmethode berücksichtigen: Denn Teilnehmer:innen mit klar definierten Meinungen bewerteten flexiblere Wahlsysteme als legitimer. Auf der anderen Seite tendierten Wähler:innen mit unsicheren oder schwankenden Präferenzen dazu, ihre persönliche Unsicherheit als Zweifel an der Legitimität der Wahlmethode zu interpretieren.

Neue Perspektiven in der Wahlgestaltung

Politische Entscheidungsträger, die Abstimmungsprozesse planen und gestalten, können diese Erkenntnisse für sich nutzen, indem sie unser Experiment-Design (teilweise) übernehmen: Sie können Wählende auffordern, mehrfach über dieselbe Fragestellung abzustimmen, beginnend mit einer einfachen Methode wie der Mehrheitswahl und fortschreitend zu komplexeren Verfahren wie der Bewertungswahl. Die letzte Methode, sollte die ausschlaggebende Stimme sein. Dieser schrittweise Prozess erlaubt insbesondere Unentschlossenen ihre Präferenzen zu erkennen und zu festigen, ohne sich von komplexen Wahlmethoden überfordert zu fühlen.

Durch die Integration der Bewertungswahl in Wahlverfahren können politische Entscheidungsträger die wahrgenommene Legitimität von Entscheidungen signifikant erhöhen, besonders in umstrittenen oder heiklen Situationen.

NFP 77 – Digitale Transformation
Im Nationalen Forschungsprogramm (NFP 77) forschen Wissenschaftler:innen in 46 Forschungsprojekten zum Thema „Digitale Transformation“. Das Hauptziel des NFP 77 Programms ist die Erarbeitung von Wissen über Chancen, Risiken, Herausforderungen und Lösungen der Digitalisierung für die Schweiz.


Referenz:

Hausladen, Carina Ines; Hänggli, Regula; Helbing, Dirk; Kunz, Renato; Wang, Junling et Pournaras, Evangelos. How Voting Rules Impact Legitimacy (2024). Verfügbar bei SSRN: https://ssrn.com/abstract=4372245.