In Basel-Stadt droht das Diktat der Minderheit

Wer darf zur Urne? In Basel-Stadt könnte die Antwort nächstens lauten: Weniger als die Hälfte der Bevölkerung. 2023 fiel der Anteil Stimmberechtigter unter die 51%-Grenze. Damit steuert der Stadtkanton als erster Kanton der Schweiz auf einen Zustand der Demokratie zu, wie er vor Einführung des Frauenstimmrechts herrschte: Eine Minderheit bestimmt über die Mehrheit. Das Basler Parlament hat der Regierung mehrere Aufträge zur Ausweitung der Mitbestimmung erteilt. Ob es wirklich ein Basler Ja zu einer inklusiveren Demokratie gibt, ist jedoch unsicher. 

Nach fast jeder Abstimmung oder Wahl kommt die in der Regel bescheidene Stimmbeteiligung zur Sprache. Die Frage, wer überhaupt zur Urne gehen darf, steht dabei weniger im Fokus.

Auf Bundesebene ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung mangels Schweizer Pass von der direkten Demokratie ausgeschlossen. Derzeit sammelt die «Aktion Vierviertel» Unterschriften für eine Volksinitiative, die für den vierten Viertel ein Recht auf Einbürgerung fordert. Die beiden weiteren Ausschlussgründe vom Stimmrecht sind Minderjährigkeit oder geistige Behinderung. Auf Bundesebene sind somit gesamthaft gesehen 60 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung stimmberechtigt.1

Basel-Stadt und Genf mit tiefstem Anteil Stimmberechtigter

In gewissen Kantonen liegt der Anteil Stimmberechtigter allerdings deutlich tiefer. Dabei handelt es sich um Kantone mit hoher ausländischer Zuwanderung. An der Spitze steht der Kanton Genf, vor Basel-Stadt und der Waadt. Genf lässt beim tiefsten Anteil Stimmberechtigter jedoch Basel-Stadt den Vortritt: Dürfen an der Rhone im Verhältnis zur Wohnbevölkerung noch gegen 53 Prozent der Stimmberechtigten an kantonalen Wahlen und Abstimmungen teilnehmen, so sind es am Rheinknie nur noch 50.5 Prozent. Basel-Stadt droht sogar unter die 50 Prozent Grenze zu fallen – ausgerechnet jener Kanton, der stolz darauf ist, in der Deutschschweiz den Frauen als erster den Zugang zur Urne gewährt zu haben.

Abbildung 1. Basel-Stadt: Anteil Stimmberechtigte an der Wohnbevölkerung 1875-2023

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto •Datenquellen: Kantonsblätter BS und Statistisches Amt BS 2 

Was den Unterschied zu Genf ausmacht

Dem Kanton Genf kommt zugut, dass er vor drei Jahren rund 1’200 Menschen, die unter umfassendem Beistand stehen, das Stimmrecht eingeräumt hat. Genf hat damit als erster Kanton ein wichtiges Bekenntnis zur UNO-Behindertenrechtskonvention abgelegt, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Vor allem aber lässt Genf, anders als Basel-Stadt (aber wie neun weitere Kantone), Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer kantonal mitbestimmen. Ohne diese 33’000 «importierten» Stimmberechtigten3  läge der Anteil jener, die im Kanton Genf zur Urne dürfen, bei noch lediglich 46.5 Prozent.

Kommt das Ausländerstimmrecht?

In Basel-Stadt ist in jüngster Zeit Bewegung in die Frage gekommen, ob die demokratische Mitsprache geöffnet werden soll. Der Anteil Menschen, die nie ein Stimm- und Wahlcouvert im Briefkasten liegen haben, ist zu hoch, um ignoriert zu werden. Der Grosse Rat von Basel-Stadt hat daher dem Regierungsrat gleich drei Aufträge zur Ausarbeitung einer Verfassungsänderung erteilt: zum Stimm- und Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten, zum Stimmrechtsalter 16 und zu politischen Rechten für Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung.4 

Das grösste Potenzial neuer Stimmberechtigter birgt das Ausländerstimmrecht: Mehr als die Hälfte der über 18-jährigen Ausländerinnen und Ausländer – über 30’000 Personen – würden die formulierten Voraussetzungen (Niederlassungsbewilligung und mindestens fünfjähriger Wohnsitz im Kanton) erfüllen. Basel-Stadt wäre neben Neuenburg und Jura der dritte Kanton mit kantonalem Ausländerstimmrecht, und der erste der Deutschschweiz. Der Auftrag steht allerdings auf wackeligen Füssen. Er wurde 2020 sehr knapp und noch vom Parlament der vorherigen Legislatur erteilt. In den nächsten Monaten wird sich weisen, ob das Ausländerstimmrecht im Parlament nochmals eine Mehrheit findet. Zünglein an der Waage werden die in dieser Frage gespaltenen Grünliberalen spielen.

Sollte es zur Volksabstimmung kommen, so wäre es in Basel-Stadt der dritte Anlauf: 1994 und 2010 erfuhr das Ausländerstimmrecht an der Urne eine wuchtige Ablehnung. Die Zusammensetzung der zugezogenen Bevölkerung hat sich seither allerdings verändert. Es haben sich im Stadtkanton vermehrt gut qualifizierte Personen niedergelassen, die von Wirtschaft, Forschung und Gesundheitswesen dringend gebraucht werden.

Einbürgerung nein danke – aber warum?

Die Gegnerschaft wird die Entkopplung des Stimmrechts vom Schweizer Pass auch dieses Mal heftig bekämpfen und Mitbestimmungswillige auf den Einbürgerungsweg verweisen. Die Hürden dafür scheinen für viele zu hoch zu sein oder das Interesse zu tief. Jedenfalls hinken die Einbürgerungszahlen den potenziell neuen Stimmberechtigten hinterher. Und dies, obwohl die Basler Verfassung ausdrücklich vorschreibt, Einbürgerungen zu fördern. Immerhin ist absehbar, dass das Basler Parlament in den nächsten Monaten einer Gesetzesänderung zustimmen und den bis 25-Jährigen die Einbürgerungsgebühren streichen wird.

Aber liegt es überhaupt an den Kosten? Die Basler Bürgergemeinde stochert diesbezüglich ziemlich im Nebel und lässt die Gründe der tiefen Einbürgerungsquote nun untersuchen. Die Frage stellt sich indes schweizweit, insbesondere bei Ausländerinnen und Ausländern der zweiten Generation. Auch der Ständerat hat den Bundesrat 2022 damit beauftragt, Antworten zu liefern und Unterschiede in der Einbürgerungspraxis der Kantone aufzudecken.5 Der Bericht liegt noch nicht vor.

Beschliesst Riehen am 3. März Stimmrechtsalter 16?

Erst nach dem Ausländerstimmrecht will die Basler Regierung das kantonale Stimmrechtsalter 16 ins Parlament bringen. Dieses hatte noch 2009 bei den Stimmberechtigten keine Chance. Signalwirkung kommt deshalb Riehen zu. Die gut 20’000-köpfige Basler Vorortsgemeinde wird am 3. März über das kommunale Stimmrechtsalter 16 abstimmen. Bisher dürfen 16- und 17-Jährige kantonal und kommunal erst in Glarus und damit an der Landsgemeinde bzw. an Gemeindeversammlungen mitbestimmen. Sagt Riehen, das ein Parlament und regelmässige Urnenabstimmungen kennt, Ja, würde es eine Vorreiterrolle einnehmen – wieder einmal. Die Riehener Bürgergemeinde hatte 1958 als schweizweit erste das Frauenstimmrecht eingeführt und mit der Bürgerrätin Gertrud Späth die erste Exekutivpolitikerin gewählt.

Kein Nachdenken über Demokratie kommt um die Frage des «Demos» herum

Wie die ideale Demokratie aussieht und wer zum «Demos» gehört, muss eine Gesellschaft immer wieder neu verhandeln. Sie muss sich dabei bewusst sein: Wenn viele Menschen von der Mitbestimmung ausgeschlossen sind, untergräbt dies die Legitimation des staatlichen Handelns. Wer nicht mitbestimmen darf und sich nicht zugehörig fühlt, neigt dazu, sich von Politik und Gesellschaft abzuwenden.


[1]Zahlen Bundesamt für Statistik: Stimmberechtigte bei den Nationalratswahlen 2023 abzüglich Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, in Bezug zur Wohnbevölkerung, 3. Quartal 2023.

[2]Zahlen Stimmberechtigte gemäss letzter Abstimmung pro Jahr: Kantonsblätter und Statistische Jahrbücher Basel-Stadt. Zahlen Wohnbevölkerung am Jahresende: Statistisches Amt des Kantons Basel-Stadt, Kantonale Bevölkerungsstatistik (für 2023 Daten Ende Nov.).

[3]Zahlen Office cantonal de la statistique Canton de Genève, scrutin du 18 juin 2023, électeurs.

[4]Grosser Rat Basel-Stadt: Geschäft 19.5500 (Ausländerstimmrecht), 19.5161 (Stimmrechtsalter 16) und 21.5475 (geistige/psychische Behinderung)

[5]Schweizer Parlament: Geschäft 22.3397

Bild: Wartende vor dem Abstimmungsbüro Rathaus Basel, © Michael Fritschi

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