Schweizer Lehrbetriebe und das Bekenntnis zur Berufsbildung

Der Fach­kräf­te­man­gel macht auch vor moder­nen Volks­wirt­schaf­ten kei­nen Halt. Diver­se inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen sehen die Berufs­bil­dung als Teil der Lösung an. Wie ste­hen bereits invol­vier­te Betrie­be in her­aus­for­dern­den Zei­ten zur Berufs­bil­dung? Wel­che Erfah­run­gen haben Berufs­bil­den­de bei der Rekru­tie­rung von Ler­nen­den gemacht und mit wel­chen Her­aus­for­de­run­gen sehen sie sich dabei konfrontiert?

Einleitung

Der in Euro­pa andau­ern­de Fach­kräf­te­man­gel stellt für zahl­rei­che Volks­wirt­schaf­ten eine gros­se Her­aus­for­de­rung dar (Bono­li & Emmen­eg­ger, 2022). In die­sem Kon­text hat die EU-Kom­mis­si­on 2023 als das Euro­päi­sche Jahr der Kom­pe­ten­zen pro­kla­miert und sen­de­te damit ein star­kes Signal für die För­de­rung der Berufs­bil­dung aus (EC, 2023). Gemäss der EU-Insti­tu­ti­on für Berufs­bil­dung (Cede­fop) und der OECD kann die Aus­wei­tung des dua­len Berufs­bil­dungs­an­ge­bots den unge­deck­ten Fach­kräf­te­be­darf der Wirt­schaft und die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit ver­rin­gern (Cede­fop, 2023; Hoeckel, 2007). Bei der dua­len Berufs­bil­dung fin­det die Aus­bil­dung nicht nur in Schu­len, son­dern auch in Unter­neh­men statt. Die Lehr­be­trie­be tra­gen somit einen ehrb­li­chen finan­zi­el­len Anteil bei. Dafür kön­nen sie aber direkt Ein­fluss neh­men auf die Fer­tig­kei­ten, die zukünf­ti­gen Arbeits­kräf­ten gelehrt wer­den, um den sich stets wan­deln­den Berufs­an­for­de­run­gen einer Wis­sens­ge­sell­schaft gerecht zu werden.

Aller­dings spitzt sich der Fach­kräf­te­man­gel eben­falls in Län­dern mit lan­ger dua­ler Berufs­bil­dungs­tra­di­ti­on, wie Däne­mark, Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz zu, wo bis zu zwei Drit­tel der Jugend­li­chen eine Leh­re absol­vie­ren. Die­ses Defi­zit könn­te Unter­neh­men dazu ver­an­las­sen, sich von der klas­si­schen dua­len Berufs­bil­dung abzu­wen­den, u. a. um Kos­ten zu spa­ren. Lehr­be­trie­be könn­ten sich z. B. bei der Deckung ihres Fach­kräf­te­be­darfs öfters an Absolventen*innen von all­ge­mein­bil­den­den Insti­tu­tio­nen wen­den (Bono­li &  Emmen­eg­ger 2022). Die­ser Arti­kel befasst sich daher mit der Fra­ge­stel­lung: Lei­det unter der beschrie­be­nen Ent­wick­lung das Ver­trau­en der Unter­neh­men in die dua­le Berufs­bil­dung? Wel­che Schwie­rig­kei­ten haben Unter­neh­men bei der Rekru­tie­rung von Lernenden?

Um fest­zu­stel­len, wie stark Lehr­be­trie­be in her­aus­for­dern­den Zei­ten an der dua­len Berufs­bil­dung fest­hal­ten, fängt der vor­lie­gen­de Arti­kel die Ein­schät­zun­gen von rund 2’600 Schwei­zern Lehr­be­trie­ben ein. Wir haben dafür im Novem­ber 2022 eine schweiz­wei­te Umfra­ge unter Lehr­be­trie­ben lan­ciert, da das Schwei­zer Berufs­bil­dungs­sys­tem sich über die Zeit gehal­ten hat und als zukunfts­träch­tig sowie exem­pla­risch gilt (Emmen­eg­ger et al. 2023). Das Haupt­ziel der Umfra­ge war es, die Bedeu­tung der Berufs­bil­dung für die Lin­de­rung des fir­men­in­ter­nen Fach­kräf­te­man­gels auf­zu­zei­gen. Zudem wur­den die unter­schied­li­chen Grün­de für und Lösungs­an­sät­ze gegen den Fach­kräf­te­man­gel im Zusam­men­hang mit der Berufs­bil­dung erfragt. Der vor­lie­gen­de Bericht fasst die zen­trals­ten Ergeb­nis­se der bran­chen­über­grei­fen­den Umfra­ge zusammen.

Rekrutierungsschwierigkeiten & Fachkräftemangel

In einem ers­ten Schritt frag­ten wir die Betrie­be, ob sie erwar­ten, über die nächs­ten fünf Jah­re hin­weg vom Fach­kräf­te­man­gel betrof­fen zu sein. Von den Betrie­ben, wel­che die Fra­ge beant­wor­tet haben, gaben mehr als die Hälf­te (65%) an, dass ein (fort­be­stehen­der) Fach­kräf­te­man­gel ein eher wahr­schein­li­ches bis sehr wahr­schein­li­ches Sze­na­rio dar­stel­len wür­de. Die­se Grup­pe von Lehr­be­trie­ben deckt ver­schie­de­ne Sek­to­ren ab. Am stärks­ten betrof­fen sehen sich Unter­neh­men in den Sek­to­ren: Bau­ge­wer­be, Bil­dung, Gast­ge­wer­be, Gesund­heit und Sozia­les. Nur 15% aller Betrie­be sind in die­sem Zusam­men­hang opti­mis­ti­scher. Sie gaben an, dass ein Fach­kräf­te­man­gel in den nächs­ten fünf Jah­ren eher oder sehr unwahr­schein­lich ist.

Von den Unter­neh­men, die einen Fach­kräf­te­man­gel für wahr­schein­lich hiel­ten, gaben 35% an, dass das Pro­blem mit der dua­len Berufs­bil­dung zusam­men­hängt. Als Haupt­grün­de dafür wur­den genannt, dass a) die dua­le Berufs­aus­bil­dung im All­ge­mei­nen nicht fle­xi­bel genug ist oder b) der betrieb­li­che Teil der Berufs­bil­dung nicht mit den sich stän­dig ändern­den Qua­li­fi­ka­ti­ons­an­for­de­run­gen Schritt hal­ten kann. Auf die Fol­ge­fra­ge, war­um das dua­le Berufs­bil­dungs­sys­tem nicht anpas­sungs­fä­hig genug sein könn­te, nann­ten die Befrag­ten am häu­figs­ten, dass das Gym­na­si­um als kon­kur­rie­ren­der Bil­dungs­weg an Attrak­ti­vi­tät gewon­nen habe und die zuneh­men­den Schwie­rig­kei­ten bei der Ein­stel­lung von Ler­nen­den (Wil­son & Baj­ka 2023). Die Unter­neh­men nann­ten zwei Haupt­grün­de für ihre Sor­gen für den anti­zi­pier­ten Fach­kräf­te­man­gel: 1) die Anzahl von qua­li­fi­zier­ten Bewer­be­ren­den nimmt ab, und 2) ihr wich­tigs­tes Berufs­bil­dungs­pro­gramm ver­liert an Beliebtheit.

Als Lösung für die auf­ge­tre­te­nen Schwie­rig­kei­ten schla­gen die Betrie­be vor, dass die Schu­len den zukünf­ti­gen Ler­nen­den die Berufs­bil­dungs­pro­gram­me ver­mehrt vor­stel­len, und sie bes­ser auf die­se vor­be­rei­ten soll­ten. Des Wei­te­ren könn­ten die Orga­ni­sa­tio­nen der Arbeits­welt poli­tisch akti­ver sein (Abbil­dung 1, Mehr­fach­ant­wor­ten möglich).

Abbildung 1. Lösungsansätze für den Fachkräftemangel

Unab­hän­gig vom Anfor­de­rungs­grad, von der Sek­tor­zu­ge­hö­rig­keit oder der Unter­neh­mens­grös­se hat die Mehr­heit der Schwei­zer Lehr­be­trie­be Schwie­rig­keit bei Rekru­tie­rung von Ler­nen­den. Aller­dings sind die Schwie­rig­kei­ten bei den Kleinst- und Klein­be­trie­ben am aus­ge­präg­tes­ten. Bei den ande­ren Unter­neh­mens­grup­pen zeigt sich ein ähn­li­ches Bild, wobei die Betrof­fen­heit mit stei­gen­der Fir­men­grös­se leicht abnimmt.

Wel­che Grün­de nen­nen die befrag­ten Betrie­be für deren Rekru­tie­rungs­schwie­rig­kei­ten auf der Berufs­bil­dungs­ebe­ne? Die zwei am häu­figs­ten genann­ten Ant­wor­ten waren: 1) Ler­nen­den man­gelt es all­ge­mein an Qua­li­tät und 2) die Bewer­ben­den sind nicht bereit dazu, die beschwer­li­che Arbeit zu ver­rich­ten, wel­che man­che Lehr­pro­gram­me mit sich brin­gen (Abbil­dung 2, Mehr­fach­ant­wor­ten möglich).

Abbildung 2. Gründe für Rekrutierungsschwierigkeiten

Ausstiegsüberlegungen von Lehrbetrieben

Inwie­weit zie­hen die Unter­neh­men in Zei­ten des Fach­kräf­te­man­gels einen Aus­stieg aus der dua­len Berufs­bil­dung in Betracht? Es konn­te fest­ge­stellt wer­den, dass von den befrag­ten Unter­neh­men rund 88% zum dua­len Berufs­bil­dung ste­hen. Dem­entspre­chend den­ken ledig­lich 12% der Lehr­be­trie­be an einen Ausstieg.

Über­trägt man die­se Ergeb­nis­se auf die Gesamt­heit der ca. 58’000 Schwei­zer Lehr­be­trie­be (Gonon 2014), könn­ten der­zeit fast 7’000 Betrie­be einen Rück­zug aus der Berufs­bil­dung erwä­gen. Soll­ten sie sich in naher Zukunft wirk­lich dafür ent­schei­den, könn­te dies schwer­wie­gen­de Aus­wir­kun­gen auf die öffent­lich-pri­va­ten Zusam­men­ar­beit sowie das Schick­sal von min­der­qua­li­fi­zier­ten Bewer­ben­den haben. Dies beu­tet wie­der­um, dass sich der Fach­kräf­te­man­gel wei­ter aus­wei­ten könn­te (Wett­stein et al. 2017). Des Wei­te­ren stell­ten wir fest, dass Unter­neh­men, wel­che sich über Rekru­tie­rungs­schwie­rig­kei­ten bekla­gen, eher bereit sind, aus der dua­len Berufs­bil­dung aus­zu­stei­gen — als Betrie­be, die sich weni­ger stark beklagen.

Bei der Betrach­tung der Aus­stiegs­ten­den­zen geord­net nach Berufs­fel­dern zeigt sich, dass die Lehr­be­trie­be aus den Sek­to­ren mit den tiefs­ten und höchs­ten Fer­tig­keits­an­for­de­run­gen am ehes­ten aus­stei­gen wür­den. Den bei­den Sek­to­ren ist gemein, dass der tech­no­lo­gi­sche Wan­del grund­le­gen­de Ver­än­de­run­gen her­bei­ge­führt hat. In Bezug auf den nied­rig­qua­li­fi­zier­ten Sek­tor ist es die Rou­ti­ni­sie­rung der Arbeit, beim höher­qua­li­fi­zier­ten Sek­tor die stän­di­ge Wei­ter­ent­wick­lung der Berufs­an­for­de­run­gen. Bei den Berufs­ver­tre­tern mit mitt­le­rem Anfor­de­rungs­grad ist die Aus­stiegs­ten­denz hin­ge­gen schwä­cher. Die­se Betrie­be sind tra­di­tio­nell stär­ker mit der dua­len Berufs­aus­bil­dung ver­bun­den und nach wie vor stark auf die­ses Sys­tem ange­wie­sen (Baj­ka & Wil­son 2023).

Abschlies­send frag­ten wir die Unter­neh­men, die einen Aus­stieg in Betracht zogen, wel­che alter­na­ti­ve Stra­te­gie sie anwen­den wür­den, um ihren Fach­kräf­te­man­gel zu behe­ben (Abbil­dung 3, Mehr­fach­ant­wor­ten mög­lich). Sie gaben an, dass sie statt­des­sen am ehes­ten nach erfah­re­ne­ren Arbeits­kräf­ten suchen wür­den. Danach wür­den sie Ler­nen­de, die anders­wo abge­schlos­sen haben, anwer­ben oder Arbeits­kräf­te aus ver­wand­ten Berei­chen ein­stel­len und die­se umschulen.

Abbildung 3. Alternative Strategien zur Fachkräftebedarfsdeckung

Fazit

Unse­re Erkennt­nis­se las­sen dar­auf schlies­sen, dass vie­le Lehr­be­trie­be erheb­li­che Schwie­rig­kei­ten haben, geeig­ne­te Bewer­ben­de für ihre Berufs­bil­dungs­pro­gram­me zu fin­den. Mehr als zwei Drit­tel der Unter­neh­men sind besorgt über einen bestehen­den oder dro­hen­den Fach­kräf­te­man­gel. Von allen befrag­ten Unter­neh­men erwä­gen etwa zwölf Pro­zent einen Aus­stieg aus der Berufs­bil­dung. Als alter­na­ti­ve Stra­te­gien für die Deckung des fir­men­in­ter­nen Fach­kräf­te­be­darfs nen­nen sie die Ein­stel­lung erfah­re­ner Arbeits­kräf­te oder sogar das Abwer­ben von Absol­ven­ten ande­ren Lehr­be­trie­ben. Auf der Makro­ebe­ne könn­te die­ses Ver­hal­ten zu klas­si­schen Tritt­brett­fah­rer­pro­ble­men füh­ren. Es könn­te eine lang­fris­ti­ge Stö­rung des Gleich­ge­wichts von Ange­bot und Nach­fra­ge fol­gen. Hand­kehrum hält der Gross­teil der Lehr­be­trie­be auch der dua­len Berufs­bil­dung die Treue. Somit könn­ten sich der ein­gangs­er­wähn­te Appell an die Volks­wirt­schaf­ten Euro­pas — betref­fend Stär­kung der Berufs­bil­dung — als nach­hal­tig erweisen.


Refe­ren­zen:

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Bild: unsplash.com

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