Abstimmungsrückblick 28.11.2021: Nein zur «Lotterie», aber Anstoss für Reformdiskussionen zum Wahlverfahren für die Judikative

Kurz­be­schrei­bung zur Abstim­mung vom 28. Novem­ber 2021 über die Justizinitiative.

Vorgeschichte

Richter:innen an eid­ge­nös­si­schen Gerich­ten wer­den in der Schweiz auf Antrag der Gerichts­kom­mis­si­on vom Par­la­ment gewählt. Bei der Aus­wahl der Kan­di­die­ren­den für ein Rich­ter­amt spielt die Par­tei­far­be eine wich­ti­ge Rol­le, weil die Bun­des­ge­rich­te nach frei­wil­li­gem Par­tei­en­pro­porz besetzt wer­den. Nicht nur die Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit, son­dern auch die begrenz­te Amts­dau­er (Bestä­ti­gungs­wahl nach sechs Amts­jah­ren durch das Par­la­ment) und die Man­dats­steu­er (Abga­be eines klei­nen Teils des Loh­nes an die eige­ne Par­tei) füh­ren ver­schie­dent­lich zu Kri­tik. Die Gre­co, die Staa­ten­grup­pe gegen Kor­rup­ti­on, moniert in einem 2017 ver­öf­fent­lich­ten Bericht, dass die­se drei Ele­men­te die Unab­hän­gig­keit der Judi­ka­ti­ve nega­tiv beeinträchtigen.

Ein Komi­tee um den Indus­tri­el­len Adri­an Gas­ser lan­ciert im Mai 2018 die Jus­ti­zin­itia­ti­ve. Sie for­dert, dass die Richter:innen aus all jenen Kan­di­die­ren­den, die vor­gän­gig von einer Exper­ten­kom­mis­si­on auf­grund ihrer fach­li­chen und per­sön­li­chen Eig­nung selek­tio­niert wer­den, aus­ge­lost wer­den. Wer aus­ge­lost wird, bleibt grund­sätz­lich bis zur Pen­sio­nie­rung im Amt. Die Initia­ti­ve kommt mit 130’100 gül­ti­gen Unter­schrif­ten zustan­de, wobei Medi­en wäh­rend der Unter­schrif­ten­samm­lung berich­ten, dass Gas­ser vor­wie­gend pro­fes­sio­nel­le Unterschriftensammler:innen ange­stellt habe und dafür rund CHF 1 Mio. auf­ge­wor­fen habe.

Der Bun­des­rat emp­fiehlt das Begeh­ren ohne Gegen­vor­schlag zur Ableh­nung. Das Los­ver­fah­ren sei dem poli­ti­schen Sys­tem der Schweiz fremd, so sein Haupt­ar­gu­ment. Dar­über hin­aus schwä­che das vor­ge­schla­ge­ne Ver­fah­ren per Los die demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on der Judi­ka­ti­ve, was län­ger­fris­tig auch mit einem Ver­trau­ens­ver­lust in die drit­te Gewalt ein­her­ge­hen könn­te. Das Los wür­de zudem nicht garan­tie­ren, dass die Zusam­men­set­zung eines Gerichts hin­sicht­lich Geschlecht, regio­na­ler Her­kunft oder eben poli­ti­scher Wert­hal­tung aus­ge­wo­gen sei.

Die Rechts­kom­mis­si­on des Natio­nal­rats will als Gegen­vor­schlag eine Fach­kom­mis­si­on schaf­fen, deren Exper­ti­se bei der Aus­wahl von Kan­di­die­ren­den hel­fen soll; wie­der­kan­di­die­ren­de Richter:innen, die von der Fach­kom­mis­si­on eine posi­ti­ve Emp­feh­lung erhal­ten, sol­len sich zudem kei­ner Wie­der­wahl stel­len müs­sen. Zwar zieht die Kom­mis­si­on den Vor­schlag wie­der zurück, in der Par­la­ments­de­bat­te wer­den aber das Feh­len eines Fach­gre­mi­ums, die kur­ze Amts­zeit und die Man­dats­steu­ern als Schwä­chen des Sys­tems dis­ku­tiert. Grund­sätz­lich bewäh­re sich die­ses jedoch, so der vor­herr­schen­de Tenor. Letzt­lich wird die Initia­ti­ve im Natio­nal­rat mit nur einer Gegen­stim­me (191 zu 1 Stim­men, 4 Ent­hal­tun­gen) und im Stän­de­rat (44 zu 0 Stim­men) sogar ein­stim­mig abgelehnt.

Gegenstand

Die Jus­ti­zin­itia­ti­ve bezweckt eine Reform des Sys­tems zur Bestim­mung der Judi­ka­ti­ve. Eine vom Bun­des­rat ein­zu­set­zen­de Expert:innenkommission bestimmt geeig­ne­te Kan­di­die­ren­de für Richter:innenstellen am Bun­des­ge­richt. Aus dem Pool die­ser Per­so­nen wer­den per Los neue Bundesrichter:innen gezo­gen, die bis maxi­mal fünf Jah­re nach Pen­si­ons­al­ter in ihrem Amt blei­ben und nur mit­tels Amts­ent­he­bungs­ver­fah­ren abge­setzt wer­den kön­nen. Beim Los­ver­fah­ren berück­sich­tigt wird eine reprä­sen­ta­ti­ve Ver­tre­tung der Amtssprachen.

Abstimmungskampf

Kei­ne ein­zi­ge der eta­blier­ten Par­tei­en unter­stützt das Volks­be­geh­ren. Nur je zwei Kan­to­nal­sek­tio­nen der Grü­nen und der Grün­li­be­ra­len emp­feh­len ein Ja oder beschlies­sen Stimm­frei­ga­be. Im Abstim­mungs­kampf kom­men aber Jurist:innen und Politikwissenschafter:innen zu Wort, die dem Anlie­gen teil­wei­se über­ra­schend wohl­wol­lend gegen­über­ste­hen: Neben der Man­dats­steu­er wird kri­ti­siert, dass mit dem aktu­el­len Wahl­ver­fah­ren geeig­ne­te par­tei­lo­se Kan­di­die­ren­de kei­ne Wahl­chan­cen haben. Das qua­li­fi­zier­te Los­ver­fah­ren wird sogar gelobt, weil es für die Aus­wahl fähi­ger Per­so­nen geeig­ne­ter sei als die durch ein Lai­en­gre­mi­um (Gerichts­kom­mis­si­on) vor­ge­schla­ge­ne Wahl von Par­tei­mit­glie­dern durch das Par­la­ment. Das Initia­tiv­ko­mi­tee kri­ti­siert zudem, dass Richter:innen sich im heu­ti­gen Sys­tem gegen­über ihren Par­tei­en in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam üben müss­ten, wenn sie ihre Wie­der­wahl nicht gefähr­den wollten. 

Weil kei­ne Par­tei die Feder­füh­rung über­neh­men will, grün­det der Aus­ser­rho­der FDP-Stän­de­rat Andrea Caro­ni ein über­par­tei­li­ches Nein-Komi­tee: Die Demo­kra­tie sei kei­ne Lot­te­rie und das bis­he­ri­ge Sys­tem habe sich bewährt. Noch nie sei ein:e Richter:in nicht wie­der­ge­wählt wor­den. Auch zahl­rei­che ehe­ma­li­ge Bundesrichter:innen geben in den Medi­en zu Pro­to­koll, dass sie sich in ihrer Kar­rie­re nie unter Druck gefühlt hät­ten. Als Argu­ment für das bestehen­de Sys­tem wird zudem vor­ge­bracht, dass Richter:innen wie alle Men­schen grund­sätz­lich unter­schied­li­che poli­ti­sche Grund­hal­tun­gen ein­näh­men; mit dem frei­wil­li­gen Par­tei­en­pro­porz wer­de sicher­ge­stellt, dass die­se Grund­hal­tun­gen an den Gerich­ten ent­spre­chend ihren Antei­len in der (wäh­len­den) Bevöl­ke­rung ver­tre­ten seien.

Abbildung 1. Abstimmung über die Justizinitiative: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes
Parteiparolen: Kumulierte Wähleranteile aller Parteien mit Nein-Parole und aller Parteien mit neutraler oder unbekannter Parole.

Wie schon für die Unter­schrif­ten­samm­lung wirft Adri­an Gas­ser auch für den Abstim­mungs­kampf eini­ges an Geld auf. Inse­ra­te wer­den aller­dings kaum geschal­tet (Heidelberger/Bühlmann 2021) und der Abstim­mungs­kampf steht im Schat­ten der Pfle­ge­in­itia­ti­ve (vgl. Vor­la­ge 648) und der zwei­ten Covid-Revi­si­on (vgl. Vor­la­ge 650), die glei­chen­tags zur Abstim­mung ste­hen und deut­lich mehr Auf­merk­sam­keit auf sich zie­hen. Dies zeigt sich auch im fög-Abstim­mungs­mo­ni­tor (fög 2021), der für die Jus­ti­zin­itia­ti­ve eine sehr gerin­ge Medi­en­re­so­nanz und eine nega­ti­ve Tona­li­tät fest­stellt: Die Mehr­heit der weni­gen Berich­te über die Jus­ti­zin­itia­ti­ve in den Medi­en sind der Initia­ti­ve gegen­über kritisch.

Ergebnis

Die Jus­ti­zin­itia­ti­ve wird mit 31,9% Ja-Stim­men deut­lich ver­wor­fen. Alle Stän­de leh­nen sie ab. Die Stimm­be­tei­li­gung liegt bei hohen 64.7%. Am höchs­ten ist die Zustim­mungs­ra­te in den Kan­to­nen Jura (37%), Tes­sin (37%) und Frei­burg (36%), am deut­lichs­ten Nein sagen Appen­zell Inner­rho­den (22%) und Waadt (25%).

In der Vox-Ana­ly­se (gfs.bern 2022) zei­gen sich kei­ne Mus­ter, mit denen sich der Abstim­mungs­ent­scheid erklä­ren lies­se. Ein­zig Anhänger:innen der Grü­nen sag­ten mehr­heit­lich Ja. Ein hohes Ver­trau­en in die Judi­ka­ti­ve för­der­te ein Nein. Auf Skep­sis im Nein-Lager stiess vor allem das Losverfahren.

Abbildung 2. Abstimmung vom 28.11.2021 über die Justizinitiative, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

Trotz der kla­ren Ableh­nung regt die Initia­ti­ve im Nach­gang der Abstim­mung eini­ge Reform­dis­kus­sio­nen an. Der Initia­tiv­geg­ner Andrea Caro­ni lobt das Begeh­ren als Ansporn für mög­li­che Ver­bes­se­run­gen. Im Par­la­ment wer­den Vor­stös­se zur Abschaf­fung der Man­dats­steu­er oder zur Ein­set­zung eines Fach­gre­mi­ums, das der Gerichts­kom­mis­si­on zur Sei­te ste­hen soll, dis­ku­tiert. Die Schwei­ze­ri­sche Ver­ei­ni­gung der Rich­te­rin­nen und Rich­ter for­dert eine Debat­te um die Län­ge der Amts­zeit. Ob sich für einen die­ser Reform­an­stös­se eine Mehr­heit fin­det, ist bei Redak­ti­ons­schluss die­ses Arti­kels offen.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag wur­de für die Abstim­mungs­da­ten­bank Swiss­vo­tes erstellt. Das Ori­gi­nal kann eben­so wie zahl­rei­che wei­ter­füh­ren­de Infor­ma­tio­nen rund um die Abstim­mungs­vor­la­ge unter https://swissvotes.ch/vote/649 her­un­ter­ge­la­den werden.

Emp­foh­le­ne Zitier­wei­se: Bühl­mann, Marc (2023): Nein zur «Lot­te­rie», aber Anstoss für Reform­dis­kus­sio­nen zum Wahl­ver­fah­ren für die Judi­ka­ti­ve. Swiss­vo­tes – die Daten­bank der eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mun­gen. Online: www.swissvotes.ch. Abge­ru­fen am [Datum].

Refe­ren­zen:

  • Bühl­mann, Marc (2023). Aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge zur Schwei­zer Poli­tik: Dos­sier: Jus­ti­zin­itia­ti­ve, 2018–2021. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft, Uni­ver­si­tät Bern. www.anneepolitique.swiss, abge­ru­fen am 11.7.2023.

  • fög (2021). Abstim­mungs­mo­ni­tor zu den Vor­la­gen vom 28. Novem­ber 2021, Schluss­be­richt vom 26. Novem­ber 2021. Zürich: For­schungs­in­sti­tut Öffent­lich­keit und Gesell­schaft der Uni­ver­si­tät Zürich.

  • gfs.bern (2022). VOX-Ana­ly­se Novem­ber 2021. Nach­be­fra­gung und Ana­ly­se zur eid­ge­nös­si­schen Volks­ab­stim­mung vom 28. Novem­ber 2021. Bern: gfs.bern.

  • Hei­del­ber­ger, Anja, und Marc Bühl­mann (2021). APS-Zei­tungs- und Inse­ra­te­ana­ly­se zu den Abstim­mun­gen vom 28. Novem­ber 2021. Zwi­schen­stand vom 18.11.2021. Bern: Année Poli­tique Suis­se, Insti­tut für Poli­tik­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Bern.

  • Erläu­te­run­gen des Bun­des­ra­tes zur Abstim­mung vom 28.11.2021 (Abstim­mungs­büch­lein). Her­aus­ge­ge­ben von der Bundeskanzlei.

  • Amt­li­che Bul­le­tins des Natio­nal- und des Stän­de­rats (Geschäf­te 20.480 und 20.061).

  • Bun­des­blatt: BBl 2019 6271. BBl 2020 6821. BBl 2021 1490. BBl 2022 894.

Bild: unsplash.com

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