Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Mittlerweile haben rund vierzig Prozent der Wählerinnen und Wähler einen sogenannten Migrationshintergrund. Wie wirkt sich das auf ihr Wahlverhalten aus? Adrian Favero, Marta Gallina, Stefano Camatarri und Lewis Luartz haben zu dieser Frage geforscht und beantworten die wichtigsten Fragen.
Gibt es einen ganz grundsätzlich einen Unterschied zwischen Wählenden mit Migrationshintergrund und solchen ohne?
Adrian Favero, Marta Gallina, Stefano Camatarri und Lewis Luartz: Generell war die Wahlbeteiligung der Wählenden mit Migrationshintergrund (im Ausland geboren, Eltern aus dem Ausland oder ohne Schweizer Staatsbürgerschaft bei der Geburt) in den Wahljahren 2015 (ca. 19% niedriger) und 2019 (ca. 15% niedriger) deutlich geringer als bei den gebürtigen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern. Bezüglich Wahlverhalten war die SP bei den Wählenden mit Migrationshintergrund in 2015 die meistgewählte Partei, vor der SVP und der FDP. Im Jahr 2019 wählten die Schweizerinnen und Schweizer mit Migrationshintergrund vor allem die SP und die Grünen. Bei den gebürtigen Schweizer Wählenden war in beiden Jahren die SVP die bevorzugte Partei. Wenn man anschaut was die Wahl beeinflusst hat, kann man einen weiteren gewichtigen Unterschied feststellen. Gebürtige Schweizerinnen und Schweizer (d.h. Personen, deren beide Elternteile im Land geboren sind) lassen sich bei ihren Wahlentscheidungen eher von politischen Schlüsselthemen leiten, während die nicht-westlichen Befragten (d.h. Personen aus Osteuropa, Afrika und Asien) im Allgemeinen von politischen Überlegungen abgekoppelt zu sein scheinen.
Auf welche Gründe werden diese (allfälligen) Unterschiede zurückgeführt?
Umfragezahlen deuten darauf hin, dass Wählende mit Migrationshintergrund eher mitte-links Parteien bevorzugen. Dabei scheint der Einbürgerungsprozess in der Schweiz keinen Einfluss auf das Wahlverhalten zu haben, aber politische Sozialisationseffekt und Identifikation mit der Herkunftsfamilie könnten eine Rolle spielen. Die Tatsache, dass die wichtigsten Themen der nationalen Politik für die Entscheidungen der Wählergruppe mit Migrationshintergrund weniger relevant sind, könnte ein Zeichen dafür sein, dass diese Gruppe, die sogenannte «Outgroup», eine spezifische politische Identität entwickelt und sich anderer Motivations-Strukturen bedient im Vergleich zur schweizerischen «Ingroup». Allerdings zeigen die Resultate unserer Forschung auch, dass Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund, die einen relativ hohen Status haben (d.h. Schweizerinnen und Schweizer der zweiten Generation und westliche Ausländer) Umweltaspekte fast im gleichen Mass berücksichtigen wie Einheimische.
Welche politischen Themen und Anliegen sind für Wählende mit Migrationshintergrund besonders wichtig?
Die Untersuchung des Wahlverhaltens von Wählenden mit Migrationshintergrund hat bisher nur wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Bestehende Forschungen zu diesem Thema legen nahe, dass Wähler und Wählerinnen mit Migrationshintergrund nicht immer signifikante Unterschiede in ihren Wahlentscheidungen im Vergleich zu einheimischen Wählenden aufweisen. In unserem Beitrag mit Schwerpunkt auf die Schweiz untersuchen wir, ob die zentralen Themen, die die Wahlkampfdebatten bei den letzten beiden Wahlen dominierten, nämlich die Haltung zur Einwanderung im Jahr 2015 und zur Umweltpolitik im Jahr 2019, das Wahlverhalten sowohl der einheimischen Schweizer Wählenden als auch der Wählenden mit Migrationshintergrund beeinflusst haben. Unsere Analyse zeigt erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Migrationshintergründen. Schweizerinnen und Schweizer der zweiten Generation und westliche Eingewanderte scheinen sich bei ihrer Wahlentscheidung von Umweltbelangen beeinflussen zu lassen, während bei Befragten von ausserhalb der Europäischen Union kein erkennbarer Effekt zu beobachten ist, was darauf hindeutet, dass sie sich nicht von den zentralen politischen Themen beeinflussen lassen, die im politischen Diskurs betont werden. Umgekehrt scheinen bei den letzten beiden Wahlen in der Schweiz Migrationsaspekte nur für einheimische Wählende eine entscheidende Rolle gespielt zu haben, während sie die Wahlentscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund nicht wesentlich beeinflussten. Letztlich deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund ihre Stimmabgabe nicht nur teilweise auf andere Überlegungen stützen als einheimische Schweizerinnen und Schweizer, sondern dass auch zwischen verschiedenen Migrationsgruppen deutliche Unterschiede bestehen.
Gibt es Unterschiede im Wahlverhalten von Wählenden mit Migrationshintergrund je nach Herkunft?
Wir haben versucht, diese Frage zu beantworten, indem wir anhand der uns zur Verfügung stehenden Daten zwischen verschiedenen ethnischen Hintergründen unterschieden haben, darunter:
- Einheimische Wählerinnen und Wähler, d.h. mit in der Schweiz geborenen Eltern
- Schweizer Wählerinnen und Wähler der zweiten Generation, d. h. mit Migrationshintergrund und relativ hohem Status
- Wählerinnen und Wähler westlicher Herkunft, d.h. mit westeuropäischer, nordamerikanischer oder ozeanischer Herkunft
- Wählerinnen und Wähler osteuropäischer/aussereuropäischer Herkunft, d.h. mit osteuropäischer, afrikanischer und asiatischer Herkunft
Wie zuvor erwähnt, haben wir festgestellt, dass sich Schweizerinnen und Schweizer bei ihren Wahlentscheidungen von politischen Themen leiten lassen. Die Wählenden osteuropäischer und aussereuropäischer Herkunft scheinen jedoch eher von politischen Überlegungen abgekoppelt zu sein. Dies mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen, da es wirken könnte als seien die nicht-einheimischen Schweizer Wählerinnen und Wähler von der Demokratie abgekoppelt. Wir vermuten jedoch, dass es sich hierbei nicht um eine Abkopplung handelt, sondern vielmehr um ein Missverständnis der Wahlmotivationen. Mit anderen Worten: Nicht-einheimische Schweizer Wählende haben möglicherweise eine spezifische politische Identität entwickelt, die sich von der einheimischen Wählerschaft unterscheidet. Dies ist insofern interessant, als sich sowohl die Schweizer Wählenden der zweiten Generation als auch die Wählerinnen und Wähler westlicher Herkunft in Bezug auf politische Überlegungen eher wie einheimische Schweizer verhalten. Kurz gesagt: Die Herkunft der Wählenden spielt eine Rolle und kann sich tatsächlich auf die politische Identität auswirken, so dass einige eine andere Herangehensweise an die Wahl wählen.
Wie sieht die langfristige Entwicklung aus? Hat man Anhaltspunkte aus anderen Ländern?
Die Untersuchung des Wahlverhaltens von Personen mit Migrationshintergrund ist ein relativ junges Forschungsgebiet, und daher ist die verfügbare Evidenz momentan begrenzt. Unser Ansatz für diese Studien ist innovativ, da er sich speziell darauf konzentriert, welche Arten von Überlegungen zu politischen Themen in das Wahlkalkül der Wählenden einfliessen. Die bisherige Forschung hat sich in erster Linie auf die Wahlentscheidungen von Wählenden mit Migrationshintergrund konzentriert, d. h. auf die Frage, welche politischen Parteien sie eher wählen würden. Wie bereits erwähnt, haben diese Untersuchungen durchweg ergeben, dass Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund eher zu linken Parteien tendieren, die sich in der Regel durch ihre positive Haltung zur Integration von Zuwanderern auszeichnen. Innerhalb dieses Forschungsbereichs haben sich auch andere Studien auf Einflüsse auf die Wahlbeteiligung von Wählenden mit Migrationshintergrund konzentriert. Eine wesentliche Einschränkung aller genannten Studien besteht jedoch darin, dass sie bisher spezifische Migrationsgruppen in spezifischen Wahlen analysiert haben, so dass eine Verallgemeinerung der Ergebnisse kaum möglich ist. Was diese Literatur erheblich bereichern könnte, ist die Einbeziehung langfristiger Trendanalysen durch Längsschnittstudien und eine globale Perspektive, die durch die Ausweitung des geografischen Geltungsbereichs der Forschung erreicht wird. Darüber hinaus könnte ein Vergleich des Wahlverhaltens im Heimatland und dem Aufnahmeland wertvolle und innovative Erkenntnisse liefern. Fragen wie die, wie sich das Wahlverhalten länderübergreifend entwickelt und ob es eine Übereinstimmung der Wahlmuster zwischen dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland gibt, sind von besonderer Bedeutung. Dieser Ansatz könnte Aufschluss darüber geben, ob Individuen ihr Wahlverhalten aufgrund ihres eigenen Immigrantenstatus anpassen oder dieselben Wahlmuster beibehalten, die in ihrem Heimatland beobachtet wurden.
Hat in der Schweiz die Einbürgerung überhaupt einen Einfluss auf das Wahlverhalten oder auf die politische Einstellung von Menschen?
Die Einbürgerung hat einen erheblichen Einfluss auf das Wahlverhalten. Generell deutet unsere Studie darauf hin, dass Wählerinnen und Wähler, bei denen entweder ein oder beide Elternteile im Ausland geboren wurden, im Jahr 2015 in der Regel keine allzu grossen Unterschiede in ihren Parteipräferenzen aufwiesen. Die bevorzugte Partei für diese Wählergruppen war die Sozialdemokratische Partei (SP). Wählerinnen und Wähler, deren Eltern beide in der Schweiz geboren sind, waren 2015 jedoch anderer Meinung und wählten überwiegend die Schweizerische Volkspartei (SVP). Ein ähnliches Muster zeigt sich bei den in der Schweiz geborenen Wählerinnen und Wählern mit Schweizer Staatsangehörigkeit, die die SVP wählen, während die im Ausland Geborenen und die nicht in der Schweiz Geborenen die SP allen anderen Parteien vorziehen. Bei der Untersuchung des Wahlverhaltens der eingebürgerten Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2019 haben wir festgestellt, dass eingebürgerte Bürgerinnen und Bürger im allgemeinen eher die Grüne Partei (GPS) wählen als die nächstbeliebte Partei, die SP. Tatsächlich ist die Unterstützung für die SVP in dieser Gruppe im Vergleich zu 2015 relativ gering. Ähnlich verhält es sich bei Wählerinnen und Wählern, bei denen mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Wir haben jedoch festgestellt, dass es einen Unterschied zwischen Wählerinnen und Wählern gibt, deren Eltern beide in der Schweiz geboren sind, da diese Wählerkategorie mit höherer Wahrscheinlichkeit die SVP wählt. Mit anderen Worten: Wähler und Wählerinnen, deren Eltern in der Schweiz geboren sind, scheinen die SVP zu bevorzugen, während eingebürgerte Wähler eher eine andere Partei zu unterstützen scheinen. Auch wenn wir auf der Grundlage unserer Studie nichts über die Beweggründe für diese Wahlentscheidungen sagen können, ist es möglich, dass wir einfach Unterschiede in der politischen Identität zwischen den Gruppen beobachten, die sich wiederum auf die Wahlentscheidungen auswirken – vor allem, wenn diese Identitäten zwischen den einzelnen Wählergruppen stark variieren.
Adrian Favero ist Assistenzprofessor mit Schwerpunkt Europäische Politik und Gesellschaft an der Universität von Groningen. Zuvor arbeitete er als Postdoctoral Fellow an der Universität Birmingham und als Lecturer an der Jagiellonen Universität in Krakau. Er hat einen Doktortitel in Politik von der Universität Edinburgh. Seine Forschung konzentriert sich auf Einstellungen zur EU, EU-interne Migration, Parteiorganisationen und Rechtspopulismus in Europa. Seine Arbeiten wurden unter anderem publiziert in Swiss Political Science Review, Journal of Contemporary European Studies, European Political Science Review, und East European Politics.
Marta Gallina ist Juan de la Cierva Postdoctoral Researcher an der Autonomen Universität von Barcelona. Zuvor war sie JSPS-Postdoc-Stipendiatin an der Waseda-Universität in Japan und Dozentin an der Katholischen Universität Lille in Frankreich. Sie promovierte 2021 in Politikwissenschaften an der Katholischen Universität Löwen (Belgien). Ihre Forschungsinteressen betreffen die Untersuchung von politischem Verhalten, Problemdimensionalität, Meinungskonsistenz und Anwendungen von Abstimmungsempfehlungen. Ihre Arbeiten wurden in Fachzeitschriften wie Political Studies Review, Swiss Political Science Review, Acta Politica und Regional and Federal Studies veröffentlicht.
Stefano Camatarri ist Ramón y Cajal Postdoctoral Fellow an der Autonomen Universität von Barcelona. Zuvor war er JSPS Postdoctoral Fellow an der Waseda Universität (Japan). Seinen Doktortitel erhielt er vom Netzwerk zur Förderung sozialer und politischer Studien (Italien). Sein Forschungsinteresse gilt der Untersuchung von Wahlverhalten und politischem Wettbewerb aus einer vergleichenden und transnationalen Perspektive. Seine Arbeiten wurden in internationalen Fachzeitschriften wie European Union Politics, Political Studies Review, Swiss Journal of Political Science and Regional and Federal Studies veröffentlicht.
Lewis Luartz ist Dozent und Assistenzprofessor an der Chapman University. Er promovierte 2022 in Politikwissenschaften an der University of California, Riverside. Lewis’ Forschungsinteressen umfassen die verschiedenen Dimensionen der Wahlpolitik und des Wahlverhaltens in Europa, Asien und den Vereinigten Staaten. Lewis hat in Fachzeitschriften wie dem Swiss Political Science Review, Politics of the Low Countries, the International Journal of Public Opinion Research, and the Journal of the National Medical Association publiziert.
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