Gibt es eine nationale Kulturpolitik in der Schweiz ?

Die kürz­lich abge­schlos­se­ne Ver­nehm­las­sung der Kul­tur­bot­schaft 2025–2028 bie­tet die Gele­gen­heit, die Kulturpolitik(en) in der Schweiz zu hin­ter­fra­gen. Die Ver­su­che zu einer Bun­des­kul­tur­po­li­tik sind so alt wie der moder­ne Bun­des­staat von 1848. Sie beleuch­ten die Eigen­hei­ten der poli­ti­schen Struk­tur der Schweiz wie die enor­men Her­aus­for­de­run­gen, die sich der Kul­tur­po­li­tik heu­te stellen.

 „Eine natio­na­le Kul­tur­po­li­tik gibt es nicht“: so sprach vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert die dama­li­ge EDI-Che­fin Ruth Drei­fuss (NZZ, 31.5.–1.6.1997). Unter­des­sen hat sich eini­ges geän­dert: Seit 2012 hat die Schweiz ein Kul­tur­för­de­rungs­ge­setz, und alle vier Jah­re ver­kün­det der Bund in einer Bot­schaft zur För­de­rung der Kul­tur (kurz „Kul­tur­bot­schaft“) die Leit­li­ni­en sei­ner Kul­tur­po­li­tik. Doch wie ist man in die­sem föde­ra­lis­ti­schen, mehr­spra­chi­gen Land zu einer natio­na­len Kul­tur­po­li­tik gekom­men, und wie sieht sie aus?

Die Anfänge: vier Kulturinstitutionen für eine junge Willensnation

Dabei war die Schweiz ein kul­tur­po­li­ti­scher Früh­star­ter. Ihre ers­ten kul­tu­rel­len Mei­len­stei­ne spre­chen für sich selbst: 1848 Grün­dung des Bun­des­ar­chivs, 1855 Eid­ge­nös­si­sche Tech­ni­sche Hoch­schu­le in Zürich, 1895 Lan­des­bi­blio­thek und 1898 Lan­des­mu­se­um. Wur­den in Frank­reich die Biblio­t­hè­que natio­na­le oder der Lou­vre bereits Ende des 18. Jhdt. im Zuge der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on gegrün­det, gab es in Deutsch­land erst ab dem Kai­ser­reich natio­na­le kul­tur­po­li­ti­sche Mass­nah­men, 1871 mit der Finan­zie­rung des Römisch-Ger­ma­ni­schen Zen­tral­mu­se­ums in Mainz. Zu jener Zeit wur­de auch die Biblio­te­ca nazio­na­le cen­tra­le in Rom gegrün­det (1876).

Die­ser Schnell­start darf aber nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass die Kul­tur in der Schweiz damals und noch lan­ge kei­ne Bundes‑, son­dern Kan­tons- und Gemein­de­sa­che war und zur Pri­vat­sphä­re gehör­te. Wohl ent­stand um 1900 eine Art natio­na­le Kunst – Fer­di­nand Hod­lers (1853–1918) ästhe­tisch moder­ne aber the­ma­tisch nost­al­gi­sche Bil­der. Doch es ging nicht um eine Kul­tur im Diens­te des Staa­tes, son­dern der Bund ver­stand sich als Ver­mitt­ler der Kulturakteure.

Eine erste Schweizer Kulturpolitik: gegen das Ausland

Wie so oft bewirk­te erst der Druck von aus­sen natio­na­le Mass­nah­men. Die Dis­kus­si­on begann früh, und eher rechts: Es soll­te eine „Aka­de­mie der natio­na­len Kul­tur“ gegrün­det wer­den, um eine „’kul­tur­po­li­ti­sche’ Auf­ga­be“ zu erfül­len: und zwar „die Dämo­nen, die heu­te unser natio­na­les und Kul­tur-Leben so sehr bedro­hen“, zu besie­gen. Dies for­der­te der Inge­nieur Max Kol­ler in einem heu­te ver­ges­se­nen Vor­trag 1919 vor der Zür­cher Frei­sin­nig-Demo­kra­ti­schen Ver­ei­ni­gung schwei­ze­ri­scher Stu­die­ren­der. Um wel­che „Dämo­nen“ es sich han­del­te, zeigt eine ande­re sei­ner Schrif­ten: Die kul­tu­rel­le Über­frem­dung der Schweiz (1918). Für Kol­ler wie für ande­re Kon­ser­va­ti­ve ist klar: „’Kul­tur­po­li­tik’ wür­de (…) bedeu­ten, dass man ver­su­chen wür­de, ein dem gan­zen Vol­ke gemein­sa­mes Ide­al zur Gel­tung zu brin­gen“. Dies auch als Ant­wort auf die Zer­reiss­pro­ben des 1. Welt­krie­ges und auf die sozia­le Unru­hen von 1918.

In den 1930er Jah­ren wur­de die­se Visi­on dann Rea­li­tät. Umge­ben von Mus­so­li­nis Ita­li­en und Hit­lers Deutsch­land und von deren Pro­pa­gan­da über­schwemmt, sah sich die Schweiz gezwun­gen, die mili­tä­ri­sche (und, wie wir heu­te wis­sen, wirt­schaft­li­che) Abwehr durch eine kul­tu­rel­le zu ergän­zen. In der „Geis­ti­gen Lan­des­ver­tei­di­gung“ wur­de auf der Basis der 1938er Bot­schaft zur schwei­ze­ri­schen Kul­tur­wah­rung und Kul­tur­wer­bung – der ers­te umfas­sen­de Bun­destext zu die­sem The­ma – im Jahr 1939, kurz nach Aus­bruch des Zwei­ten Welt­krie­ges, die ers­te natio­na­le Kul­tur­or­ga­ni­sa­ti­on gegrün­det. „Pro Hel­ve­tia“ hat­te zur Auf­ga­be, die „geis­ti­ge Selbst­be­haup­tung“ des Lan­des und die „schwei­ze­ri­sche Eigen­art“ zu för­dern. Schwei­zer Kul­tur­po­li­tik als Reak­ti­on also.

Nach Kriegs­en­de wur­de Pro Hel­ve­tia eine Stif­tung des öffent­li­chen Rechts und zur Bot­schaf­te­rin der Schwei­zer Kul­tur im Aus­land. Intern fand der Bund zu sei­ner Zurück­hal­tung zurück. „Nicht der Staat ist der pri­mä­re Trä­ger des­sen, was wir Kul­tur nen­nen“, sag­te der lang­jäh­ri­ge EDI-Vor­ste­her Phil­ip­pe Etter 1954: „Der Begriff der Staats­kul­tur ist uns Schwei­zern fern“, denn „(w)ir wol­len das kul­tu­rel­le Leben weder ver­staat­li­chen noch der staat­li­chen Vor­mund­schaft unter­stel­len“. Schwei­zer Kul­tur­po­li­tik war damals und für lan­ge Zeit eine Viel­heit von Kul­tur­po­li­ti­ken in der Schweiz – auf kan­to­na­ler und städ­ti­scher Ebe­ne, bei Stif­tun­gen, Unter­neh­men, Ver­ei­nen… Lan­ge gab es nicht „kei­ne“, son­dern „zu viel“ Kul­tur­po­li­tik in der Schweiz, stell­te 1995 der rauf­lus­ti­ge Urs Frau­chi­ger, damals noch Pro Hel­ve­tia-Lei­ter, fest.

Ein erster Kulturbericht und zwei verlorene Abstimmungen

In den kul­tu­rell erwa­chen­den 1960er Jah­ren wur­de die bun­des­fi­nan­zier­te, aber unab­hän­gi­ge Pro Hel­ve­tia immer mehr zu einer kri­ti­schen Vitri­ne des Lan­des – wovon spä­ter die Kon­tro­ver­se um das Schwei­zer Pavil­lon „La Suis­se n’existe pas“ 1992 an der Welt­aus­stel­lung in Sevil­la und die „Hirsch­horn-Affä­re“ 2004 am Cent­re cul­tu­rel suis­se in Paris (das Par­la­ment beschnitt damals das Stif­tungs­bud­get um eine Mil­li­on) zeu­gen soll­ten. Die Kul­tur­schaf­fen­den tra­fen den neu­en EDI-Chef Hans Peter Tschu­di und er schuf 1969 die „Eid­ge­nös­si­sche Kom­mis­si­on für Fra­gen einer schwei­ze­ri­schen Kul­tur­po­li­tik“, prä­si­diert vom libe­ra­len Natio­nal­rat Gas­ton Clot­tu. Der resul­tie­ren­de 500-sei­ti­ge „Clot­tu-Bericht“ (1975) war eine fun­dier­te Stu­die und ein offe­nes Plä­doy­er für eine akti­ve­re Kul­tur­po­li­tik des Bun­des. Vor­erst wur­den 1978 das Bun­des­amt für Kul­tur im EDI admi­nis­tra­tiv geschaf­fen und das Bud­get der Pro Hel­ve­tia – immer noch der ein­zi­ge natio­na­le kul­tur­po­li­ti­sche Akteur – erhöht.

Eine For­de­rung des „Clot­tu-Berichts“ war die Schaf­fung eines Kul­tur­ar­ti­kels in der Bun­des­ver­fas­sung – doch dazu soll­te es noch ein Vier­tel­jahr­hun­dert dau­ern. 1981 wur­de die „Kul­tur­pro­zen­tin­itia­ti­ve“ in Bern ein­ge­reicht: Der Bund soll­te nicht nur das Kul­tur­er­be, son­dern auch das Kul­tur­schaf­fen för­dern – und 1% sei­nes Bud­gets dafür vor­se­hen. Wäh­rend die Links­par­tei­en die Initia­ti­ve unter­stütz­ten, waren die Bür­ger­li­chen für den mode­ra­te­ren Gegen­vor­schlag des Bun­des­ra­tes. Ängs­te um den Föde­ra­lis­mus und vor einer Instru­men­ta­li­sie­rung der Kul­tur durch den Staat wur­den laut. 1986 wur­den sowohl die Initia­ti­ve (16,7% Ja) wie der Gegen­vor­schlag (39,3% Ja) abge­wie­sen, in bei­den Fäl­len mit allen Stän­den dage­gen. Das dop­pel­te Ja war damals noch nicht möglich.

1991 – dem Jahr der 700-Jah­re-Fei­er, wegen der „Fichen­af­fä­re“ von Kul­tur­schaf­fen­den boy­kot­tiert – unter­brei­te­te der Bun­des­rat dem Par­la­ment einen neu­en Vor­schlag für einen „Kul­tur­för­de­rungs­ar­ti­kel“. Die­ser räum­te dem Bund Kom­pe­ten­zen ein, respek­tier­te aber die föde­ra­lis­ti­sche Erst­zu­stän­dig­keit der Kan­to­ne. 1994 – alle gros­sen Par­tei­en aus­ser der SVP waren dafür – schei­ter­te die Vor­la­ge hauch­dünn am Stän­de­mehr: Wur­de sie von 51,0% der Stim­men­den knapp ange­nom­men, waren 12 der 23 Stän­de dage­gen. Erst 1999 bekam die Bun­des­ver­fas­sung bei ihrer Total­re­vi­si­on einen „Kul­tur­ar­ti­kel“. Der neue Arti­kel 69 trug der föde­ra­lis­ti­schen Struk­tur der Schweiz bereits in Zif­fer 1 Rech­nung: „Für den Bereich der Kul­tur sind die Kan­to­ne zuständig“.

Ein Kulturgesetz, vier Kulturbotschaften – und viele Herausforderungen

Es soll­ten noch zwölf Jah­re ver­ge­hen bis zum Kul­tur­för­de­rungs­ge­setz (2012). Seit­her wird in „Kul­tur­bot­schaf­ten“ die kul­tur­po­li­ti­sche Aus­rich­tung des Bun­des der nächs­ten Jah­re umschrie­ben. Sie sind ein Kalei­do­skop aller The­men, wel­che die west­li­chen Kul­tur­po­li­ti­ken seit den 1960ern beweg­ten, um tages­po­li­ti­sche Aspek­te ange­rei­chert. Den „klas­si­schen“ Zie­len der ers­ten Bot­schaft (2012–2015) – kul­tu­rel­le Viel­falt, Kul­tur­aus­tausch mit dem Aus­land, Zugang zu Kul­tur – gesell­ten sich 2016–2020 der sozia­le Zusam­men­halt, aber auch Kul­tur als Wirt­schafts­sek­tor hin­zu, als Ant­wort für Glo­ba­li­sie­rung, Digi­ta­li­sie­rung und demo­gra­fi­schen Wan­del. Die drit­te Kul­tur­bot­schaft (2021–2024), „im Zei­chen der Kon­ti­nui­tät“, wur­de von der Covid-19-Pan­de­mie und dem sich ver­än­dern­den Kon­sum­ver­hal­ten über­holt. Die dis­ku­tier­te Kul­tur­bot­schaft 2025–2028, erst­mals in Zusam­men­ar­beit mit allen Akteu­ren for­mu­liert, setzt denn auch stär­ke­re Akzen­te auf Kul­tur als Arbeits­welt und auf Digi­ta­le Transformation.

Seit 2012 ist die Stär­kung der Koope­ra­ti­on und Koor­di­na­ti­on zwi­schen den Kul­tur­ak­teu­ren der Schweiz im „Natio­na­len Kul­tur­dia­log“ ein Anlie­gen des Bun­des. Wur­de in der zwei­ten Kul­tur­bot­schaft erst­mals von einer „natio­na­len Kul­tur­po­li­tik“ gespro­chen, stand sie in Anfüh­rungs­zei­chen: „’Natio­na­le Kul­tur­po­li­tik’ bedeu­tet, dass Bund, Kan­to­ne, Städ­te und Gemein­den die Her­aus­for­de­run­gen gemein­sam ana­ly­sie­ren und – unter Wah­rung der Kul­tur­ho­heit der Kan­to­ne – auf­ein­an­der abge­stimm­te Mass­nah­men“ als Ant­wor­ten dar­auf ent­wi­ckeln. Heu­te wie ges­tern wird das Kon­zert der Bun­des­kul­tur­po­li­tik in der Schweiz zwangs­läu­fig mehr­stim­mig gespielt – was ob der vie­len alten und neu­en Her­aus­for­de­run­gen nur zuver­sicht­lich stim­men kann.


Refe­ren­zen:

  • Frau­chi­ger, Urs (1995). Ent­wurf Schweiz. Anstif­tung zur kul­tu­rel­len Rauf­lust. Zürich: Ammann.
  • Jost, Hans-Ulrich (1989). „La nati­on, la poli­tique et les arts“. Schwei­ze­ri­sche Zeit­schrift für Geschich­te, Vol. 39, 293–303.
  • Moesch­ler, Oli­vi­er (2013). Schwei­zer Film. Kul­tur­po­li­tik im Wan­del : der Staat, die Film­schaf­fen­den, das Publi­kum. Mar­burg: Schü­ren Verlag.
  • Poir­ri­er, Phil­ip­pe (Hsg.) (2011). Pour une his­toire des poli­ti­ques cul­tu­rel­les dans le mon­de, 1945–2011. Paris: La Docu­men­ta­ti­on française.
  • Schwab, Bri­git­te (2014). „Kul­tur­po­li­tik“. In KNOEPFEL, Peter et al., Hand­buch der Schwei­zer Poli­tik. Zürich: Ver­lag NZZ, 855–888.

Bild: unsplash.com

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