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Gibt es eine nationale Kulturpolitik in der Schweiz ?

Olivier Moeschler
10th Oktober 2023

Die kürzlich abgeschlossene Vernehmlassung der Kulturbotschaft 2025-2028 bietet die Gelegenheit, die Kulturpolitik(en) in der Schweiz zu hinterfragen. Die Versuche zu einer Bundeskulturpolitik sind so alt wie der moderne Bundesstaat von 1848. Sie beleuchten die Eigenheiten der politischen Struktur der Schweiz wie die enormen Herausforderungen, die sich der Kulturpolitik heute stellen.

 „Eine nationale Kulturpolitik gibt es nicht“: so sprach vor einem Vierteljahrhundert die damalige EDI-Chefin Ruth Dreifuss (NZZ, 31.5.-1.6.1997). Unterdessen hat sich einiges geändert: Seit 2012 hat die Schweiz ein Kulturförderungsgesetz, und alle vier Jahre verkündet der Bund in einer Botschaft zur Förderung der Kultur (kurz „Kulturbotschaft“) die Leitlinien seiner Kulturpolitik. Doch wie ist man in diesem föderalistischen, mehrsprachigen Land zu einer nationalen Kulturpolitik gekommen, und wie sieht sie aus?

Die Anfänge: vier Kulturinstitutionen für eine junge Willensnation

Dabei war die Schweiz ein kulturpolitischer Frühstarter. Ihre ersten kulturellen Meilensteine sprechen für sich selbst: 1848 Gründung des Bundesarchivs, 1855 Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich, 1895 Landesbibliothek und 1898 Landesmuseum. Wurden in Frankreich die Bibliothèque nationale oder der Louvre bereits Ende des 18. Jhdt. im Zuge der Französischen Revolution gegründet, gab es in Deutschland erst ab dem Kaiserreich nationale kulturpolitische Massnahmen, 1871 mit der Finanzierung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz. Zu jener Zeit wurde auch die Biblioteca nazionale centrale in Rom gegründet (1876).

Dieser Schnellstart darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kultur in der Schweiz damals und noch lange keine Bundes-, sondern Kantons- und Gemeindesache war und zur Privatsphäre gehörte. Wohl entstand um 1900 eine Art nationale Kunst – Ferdinand Hodlers (1853-1918) ästhetisch moderne aber thematisch nostalgische Bilder. Doch es ging nicht um eine Kultur im Dienste des Staates, sondern der Bund verstand sich als Vermittler der Kulturakteure.

Eine erste Schweizer Kulturpolitik: gegen das Ausland

Wie so oft bewirkte erst der Druck von aussen nationale Massnahmen. Die Diskussion begann früh, und eher rechts: Es sollte eine „Akademie der nationalen Kultur“ gegründet werden, um eine „’kulturpolitische’ Aufgabe“ zu erfüllen: und zwar „die Dämonen, die heute unser nationales und Kultur-Leben so sehr bedrohen“, zu besiegen. Dies forderte der Ingenieur Max Koller in einem heute vergessenen Vortrag 1919 vor der Zürcher Freisinnig-Demokratischen Vereinigung schweizerischer Studierender. Um welche „Dämonen“ es sich handelte, zeigt eine andere seiner Schriften: Die kulturelle Überfremdung der Schweiz (1918). Für Koller wie für andere Konservative ist klar: „’Kulturpolitik’ würde (…) bedeuten, dass man versuchen würde, ein dem ganzen Volke gemeinsames Ideal zur Geltung zu bringen“. Dies auch als Antwort auf die Zerreissproben des 1. Weltkrieges und auf die soziale Unruhen von 1918.

In den 1930er Jahren wurde diese Vision dann Realität. Umgeben von Mussolinis Italien und Hitlers Deutschland und von deren Propaganda überschwemmt, sah sich die Schweiz gezwungen, die militärische (und, wie wir heute wissen, wirtschaftliche) Abwehr durch eine kulturelle zu ergänzen. In der „Geistigen Landesverteidigung“ wurde auf der Basis der 1938er Botschaft zur schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung – der erste umfassende Bundestext zu diesem Thema – im Jahr 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die erste nationale Kulturorganisation gegründet. „Pro Helvetia“ hatte zur Aufgabe, die „geistige Selbstbehauptung“ des Landes und die „schweizerische Eigenart“ zu fördern. Schweizer Kulturpolitik als Reaktion also.

Nach Kriegsende wurde Pro Helvetia eine Stiftung des öffentlichen Rechts und zur Botschafterin der Schweizer Kultur im Ausland. Intern fand der Bund zu seiner Zurückhaltung zurück. „Nicht der Staat ist der primäre Träger dessen, was wir Kultur nennen“, sagte der langjährige EDI-Vorsteher Philippe Etter 1954: „Der Begriff der Staatskultur ist uns Schweizern fern“, denn „(w)ir wollen das kulturelle Leben weder verstaatlichen noch der staatlichen Vormundschaft unterstellen“. Schweizer Kulturpolitik war damals und für lange Zeit eine Vielheit von Kulturpolitiken in der Schweiz – auf kantonaler und städtischer Ebene, bei Stiftungen, Unternehmen, Vereinen… Lange gab es nicht „keine“, sondern „zu viel“ Kulturpolitik in der Schweiz, stellte 1995 der rauflustige Urs Frauchiger, damals noch Pro Helvetia-Leiter, fest.

Ein erster Kulturbericht und zwei verlorene Abstimmungen

In den kulturell erwachenden 1960er Jahren wurde die bundesfinanzierte, aber unabhängige Pro Helvetia immer mehr zu einer kritischen Vitrine des Landes – wovon später die Kontroverse um das Schweizer Pavillon „La Suisse n’existe pas“ 1992 an der Weltausstellung in Sevilla und die „Hirschhorn-Affäre“ 2004 am Centre culturel suisse in Paris (das Parlament beschnitt damals das Stiftungsbudget um eine Million) zeugen sollten. Die Kulturschaffenden trafen den neuen EDI-Chef Hans Peter Tschudi und er schuf 1969 die „Eidgenössische Kommission für Fragen einer schweizerischen Kulturpolitik“, präsidiert vom liberalen Nationalrat Gaston Clottu. Der resultierende 500-seitige „Clottu-Bericht“ (1975) war eine fundierte Studie und ein offenes Plädoyer für eine aktivere Kulturpolitik des Bundes. Vorerst wurden 1978 das Bundesamt für Kultur im EDI administrativ geschaffen und das Budget der Pro Helvetia – immer noch der einzige nationale kulturpolitische Akteur – erhöht.

Eine Forderung des „Clottu-Berichts“ war die Schaffung eines Kulturartikels in der Bundesverfassung – doch dazu sollte es noch ein Vierteljahrhundert dauern. 1981 wurde die „Kulturprozentinitiative“ in Bern eingereicht: Der Bund sollte nicht nur das Kulturerbe, sondern auch das Kulturschaffen fördern – und 1% seines Budgets dafür vorsehen. Während die Linksparteien die Initiative unterstützten, waren die Bürgerlichen für den moderateren Gegenvorschlag des Bundesrates. Ängste um den Föderalismus und vor einer Instrumentalisierung der Kultur durch den Staat wurden laut. 1986 wurden sowohl die Initiative (16,7% Ja) wie der Gegenvorschlag (39,3% Ja) abgewiesen, in beiden Fällen mit allen Ständen dagegen. Das doppelte Ja war damals noch nicht möglich.

1991 – dem Jahr der 700-Jahre-Feier, wegen der „Fichenaffäre“ von Kulturschaffenden boykottiert – unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen neuen Vorschlag für einen „Kulturförderungsartikel“. Dieser räumte dem Bund Kompetenzen ein, respektierte aber die föderalistische Erstzuständigkeit der Kantone. 1994 – alle grossen Parteien ausser der SVP waren dafür – scheiterte die Vorlage hauchdünn am Ständemehr: Wurde sie von 51,0% der Stimmenden knapp angenommen, waren 12 der 23 Stände dagegen. Erst 1999 bekam die Bundesverfassung bei ihrer Totalrevision einen „Kulturartikel“. Der neue Artikel 69 trug der föderalistischen Struktur der Schweiz bereits in Ziffer 1 Rechnung: „Für den Bereich der Kultur sind die Kantone zuständig“.

Ein Kulturgesetz, vier Kulturbotschaften – und viele Herausforderungen

Es sollten noch zwölf Jahre vergehen bis zum Kulturförderungsgesetz (2012). Seither wird in „Kulturbotschaften“ die kulturpolitische Ausrichtung des Bundes der nächsten Jahre umschrieben. Sie sind ein Kaleidoskop aller Themen, welche die westlichen Kulturpolitiken seit den 1960ern bewegten, um tagespolitische Aspekte angereichert. Den „klassischen“ Zielen der ersten Botschaft (2012-2015) – kulturelle Vielfalt, Kulturaustausch mit dem Ausland, Zugang zu Kultur – gesellten sich 2016-2020 der soziale Zusammenhalt, aber auch Kultur als Wirtschaftssektor hinzu, als Antwort für Globalisierung, Digitalisierung und demografischen Wandel. Die dritte Kulturbotschaft (2021-2024), „im Zeichen der Kontinuität“, wurde von der Covid-19-Pandemie und dem sich verändernden Konsumverhalten überholt. Die diskutierte Kulturbotschaft 2025-2028, erstmals in Zusammenarbeit mit allen Akteuren formuliert, setzt denn auch stärkere Akzente auf Kultur als Arbeitswelt und auf Digitale Transformation.

Seit 2012 ist die Stärkung der Kooperation und Koordination zwischen den Kulturakteuren der Schweiz im „Nationalen Kulturdialog“ ein Anliegen des Bundes. Wurde in der zweiten Kulturbotschaft erstmals von einer „nationalen Kulturpolitik“ gesprochen, stand sie in Anführungszeichen: „’Nationale Kulturpolitik’ bedeutet, dass Bund, Kantone, Städte und Gemeinden die Herausforderungen gemeinsam analysieren und – unter Wahrung der Kulturhoheit der Kantone – aufeinander abgestimmte Massnahmen“ als Antworten darauf entwickeln. Heute wie gestern wird das Konzert der Bundeskulturpolitik in der Schweiz zwangsläufig mehrstimmig gespielt – was ob der vielen alten und neuen Herausforderungen nur zuversichtlich stimmen kann.


Referenzen:

  • Frauchiger, Urs (1995). Entwurf Schweiz. Anstiftung zur kulturellen Rauflust. Zürich: Ammann.
  • Jost, Hans-Ulrich (1989). „La nation, la politique et les arts“. Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 39, 293-303.
  • Moeschler, Olivier (2013). Schweizer Film. Kulturpolitik im Wandel : der Staat, die Filmschaffenden, das Publikum. Marburg: Schüren Verlag.
  • Poirrier, Philippe (Hsg.) (2011). Pour une histoire des politiques culturelles dans le monde, 1945-2011. Paris: La Documentation française.
  • Schwab, Brigitte (2014). „Kulturpolitik“. In KNOEPFEL, Peter et al., Handbuch der Schweizer Politik. Zürich: Verlag NZZ, 855-888.

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