Abstimmungsrückblick 25.9.2022: Erste mehrheitsfähige AHV-Reform seit 27 Jahren bringt Erhöhung des Frauenrentenalters

Kurzbeschreibung zur Abstimmung vom 25. September 2022 über die AHV-Reform.

Vorgeschichte

1995 war zum vorerst letzten Mal eine AHV-Revision an der Urne erfolgreich (10. AHV-Revision [Vorlage Nr. 422]). Danach scheiterten die AHV-Revisionsprogramme entweder an der Urne (2004: 11. AHV-Revision [507 und 508]; 2017: Altersvorsorge 2020 [614 und 615]) oder bereits in den Schlussabstimmungen im Parlament (2010: 2. Versuch einer 11. AHV-Revision).1 All diese Projekte beabsichtigten, die AHV-Finanzierung durch leistungsseitige Massnahmen – in erster Linie durch die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre – sowie durch einnahmenseitige Massnahmen – üblicherweise eine Erhöhung der Mehrwertsteuer – zu verbessern.

Dasselbe Programm verfolgt der Bundesrat auch mit seiner 2019 verabschiedeten AHV-Revisionsvorlage, der sogenannten AHV21. Um die Rentenaltererhöhung für diejenigen Frauenjahrgänge, die in Kürze pensioniert werden, abzuschwächen, sollen diese eine finanzielle Kompensation erhalten. Dennoch wird die Vorlage von Seiten der Frauenverbände und Gewerkschaften stark kritisiert – insbesondere nachdem das Parlament die Zahl der von der Kompensation betroffenen Jahrgänge einerseits und die Höhe der Kompensation andererseits reduziert. Entsprechend werden die parlamentarischen Diskussionen zur AHV21 von Referendumsdrohungen inner- und ausserhalb des Parlaments begleitet. Erfolglos versucht zudem eine Allianz aus SVP-, SP- und Grünen-Nationalrät:innen, der AHV eine zusätzliche Finanzierungsquelle in Form der Nationalbankgewinne zu sichern – der Ständerat lehnt dies aber strikt ab. In der Schlussabstimmung heisst der Nationalrat die AHV-Revision mit 125 zu 67 Stimmen bei 1 Enthaltung, der Ständerat mit 31 zu 12 Stimmen gut.

Wie bei früheren Revisionen soll neben der leistungsseitigen Massnahme auch die Mehrwertsteuer zugunsten der AHV erhöht werden. Dies führt ebenfalls zu Kritik und zu Diskussionen um das Ausmass der Erhöhung, ist aber insgesamt weniger umstritten als die Erhöhung des Frauenrentenalters. Mit 126 zu 40 Stimmen (bei 27 Enthaltungen; Nationalrat) respektive mit 43 zu 0 Stimmen (Ständerat) heisst das Parlament die Mehrwertsteuererhöhung gut. Die ablehnenden Stimmen und Enthaltungen stammen bei beiden Vorlagen aus der SP- und der Grünen-Fraktion.

Zusätzlich zum bei einer Mehrwertsteueränderung nötigen obligatorischen Referendum sammelt ein Komitee aus linken Parteien, Frauenverbänden und Gewerkschaften 53’209 gültige Unterschriften gegen die Änderung des AHV-Gesetzes – und damit explizit gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters.

Gegenstand

Die Revision des AHV-Gesetzes sieht eine Erhöhung des Rentenalters der Frauen in vier Schritten à je 3 Monaten von 64 auf 65 Jahre vor. Ein Teil der dadurch erzielten Einsparungen soll für einkommensabhängige Ausgleichsmassnahmen an die ersten neun betroffenen Frauenjahrgänge aufgewendet werden. Zu Veränderungen kommt es auch beim Startpunkt des Rentenbezugs für beide Geschlechter: Neu kann der Rentenbeginn zwischen dem 63. und 70. Altersjahr monatlich frei festgelegt werden und kann auch nur einen Teil der Anstellung betreffen. Wer weiterarbeitet, kann überdies zukünftig seine:ihre Rente verbessern, sofern er:sie die Maximalrente noch nicht erreicht hat.

Mit der zweiten Vorlage wird der Normalsatz der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte auf 8,1 Prozent erhöht, der reduzierte Satz sowie der Sondersatz für Beherbergungsleistungen um 0,1 Prozentpunkte auf 2,6 Prozent respektive 3,8 Prozent.

Die beiden Vorlagen sind aneinander gekoppelt, wenn eine davon abgelehnt wird, fällt also auch die andere dahin. Gemäss Prognosen soll diese Reform bei der AHV bis 2032 zu Einsparungen von 4,9 Milliarden Franken und zu Mehreinnahmen von 12,4 Milliarden Franken führen und somit die finanzielle Situation der AHV erheblich verbessern.

Abstimmungskampf

Die Referendumsführenden stellen – wie zuvor in der parlamentarischen Debatte – die Erhöhung des Frauenrentenalters ins Zentrum der Diskussion. Diese kritisieren sie insbesondere im Hinblick auf die noch immer niedrigeren Löhne und vor allem Renten der Frauen. Besonders stark von der Rentenaltererhöhung betroffen seien überdies diejenigen Frauenjahrgänge, die am stärksten unter der fehlenden Gleichstellung gelitten hätten. Die Kompensationsmassnahmen reichten auch nicht aus, um dieses fehlende Rentenjahr auszugleichen. Faktisch werde den Frauen die Rente um 26’000 Franken gekürzt – dieser Betrag entspricht einem Jahr Rente. Die Gegner:innen befürchten überdies, dass die Rentenaltererhöhung für die Frauen nur eine Vorstufe für weitere, allgemeine Rentenaltererhöhungen sein könnte – entsprechende Geschäfte seien bereits in Beratung, betonen sie. Schliesslich wehren sie sich gegen das Bild der maroden AHV – dieses werde immer wieder bemüht, um Reformen zu bewerben, habe aber nichts mit der Realität zu tun. Daneben kritisieren sie auch die Mehrwertsteuererhöhung, da diese die Kaufkraft schwäche, während gleichzeitig die Frauenrenten gesenkt würden. Ablehnende Parolen vertreten hauptsächlich die Referendumsführenden: die SP, die Grünen und die Gewerkschaften.

Die Befürwortenden stellen hingegen die schlechten Finanzaussichten der AHV und die Notwendigkeit der aktuellen Reform ins Zentrum. Zudem würden die Frauen durch die Reform nicht etwa schlechter gestellt als die Männer, vielmehr sei die Angleichung des Rentenalters ein Akt der Gleichberechtigung. Für die am unmittelbarsten betroffenen Jahrgänge gebe es zudem Kompensationen. Zusätzlich verweist die Ja-Kampagne darauf, dass die Rentenunterschiede zwischen den Geschlechtern – Frauen erhalten im Durchschnitt eine um einen Drittel niedrigere Rente als Männer – nicht aus der AHV, sondern aus der Pensionskasse stamme, um die es bei der aktuellen Abstimmung aber nicht gehe. Befürwortende Parolen geben die bürgerlichen Parteien bis hin zur GLP sowie Economiesuisse, Arbeitgeberverband, Gewerbe-verband und Bauernverband aus.

Gespalten zeigt sich der Frauenverband Alliance F, dem sowohl Gegnerinnen als auch Befürworterinnen angehören. Entsprechend beschliesst der Verband Stimmfreigabe und lanciert sowohl eine befürwortende als auch eine ablehnende Kampagne – denn Hauptsache sei, dass die Frauen als Direktbetroffene in diesem Abstimmungskampf gehört würden.

Abbildung 1. Abstimmung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes
Parteiparolen: Kumulierte Wähleranteile aller Parteien mit Nein-Parole und aller Parteien mit neutraler oder unbekannter Parole.
Abbildung 2. Abstimmung über die Änderung des AHV-Gesetz: Stimmempfehlungen und Ergebnisse

Quelle: Swissvotes
Parteiparolen: Kumulierte Wähleranteile aller Parteien mit Nein-Parole und aller Parteien mit neutraler oder unbekannter Parole.

In den Inseratespalten wird ein eher unterdurchschnittlich starker Abstimmungskampf geführt, den die Befürwortenden mit drei Vierteln der Inserate dominieren (Heidelberger/Bühlmann 2022). Knapp durchschnittlich verläuft gemäss fög (2022) die Zeitungsbericht-erstattung zur Doppelvorlage, wobei der Tonfall insgesamt positiv ist.

Ergebnis

Nachdem die verschiedenen Vorumfragen bei den zwei Vorlagen eine relativ grosse Spannweite (AHV-Gesetz: 52% bis 64% Zustimmung; Mehrwertsteuererhöhung: 54% bis 65% Zustimmung) aufweisen, wird es am Abstimmungssonntag sehr eng: Mit 50,5 Prozent Ja-Stimmen nimmt die Stimmbevölkerung die Gesetzesänderung knapp an, deutlicher ist die Zustimmung zur Mehrwertsteuererhöhung mit 55,1 Prozent Ja-Stimmen. Deutlich passiert die Mehrwertsteuererhöhung das Ständemehr – nur in fünf Westschweizer Kantonen lehnt eine Mehrheit die Erhöhung ab. Für die Änderung des AHV-Gesetzes ist kein Ständemehr nötig, mit 13½ zu 9½ befürwortenden Standesstimmen hätte es aber auch dort gereicht. Bei beiden Vorlagen – besonders ausgeprägt aber beim AHV-Gesetz – zeigt sich ein deutlicher Sprachengraben: Die Romandie und das Tessin sagen Nein (am deutlichsten JU mit 29% Ja zum Gesetz und 38% zur Mehrwertsteuererhöhung), die Deutschschweiz mit Ausnahme der grössten Städte überwiegend Ja (am deutlichsten ZG mit 65 respektive 67%).

Abbildung 3. Abstimmung vom 25.09.2022 über die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik
Abbildung 4. Abstimmung vom 25.09.2022 über die Änderung des AHV-Gesetz, Abstimmungsergebnis nach Bezirken

Quelle: Bundesamt für Statistik

Die Nachabstimmungsbefragungen eruieren zudem auch einen tiefen Geschlechtergraben: Gemäss Vox-Analyse (gfs.bern 2022b) sprachen sich 64 Prozent der Männer, aber nur 38 Prozent der Frauen für die Änderung des AHV-Gesetzes aus, was in der Folge zu vielen medialen Diskussionen und zu Protesten von Frauenorganisationen führt. Jedoch gab es auch bei den Frauen beträchtliche Unterschiede in der Zustimmung: Die direktbetroffenen Frauen unter 65 Jahren sprachen sich zu weniger als 30 Prozent für die Reform aus, die Frauen im Rentenalter hingegen zu 63 Prozent. Allgemein wollten die Ja-Stimmenden mit ihrer Zustimmung zu beiden Vorlagen die AHV stabilisieren, erachteten aber die Gesetzesänderung auch als Schritt hin zur Gleichberechtigung. Umgekehrt empfanden die Gegner:innen die Gesetzesänderung und die Mehrwertsteuererhöhung als ungerecht gegenüber den Frauen und Personen mit tieferen Einkommen.


1 An der Urne erfolgreich war einzig die sogenannte STAF-Vorlage über die Zusatzfinanzierung für die AHV zusammen mit der Unternehmenssteuerreform 2017 (Vorlage Nr. 627), diese beinhaltete aber keine AHV-Reform.

Hinweis: Dieser Beitrag wurde für die Abstimmungsdatenbank Swissvotes erstellt. Das Original kann ebenso wie zahlreiche weiterführende Informationen rund um die Abstimmungsvorlagen unter https://swissvotes.ch/vote/659 und https://swissvotes.ch/vote/660 heruntergeladen werden.

Empfohlene Zitierweise: Heidelberger, Anja (2023): Erste mehrheitsfähige AHV-Reform seit 27 Jahren bringt Erhöhung des Frauenrenten-alters. Swissvotes – die Datenbank der eidgenössischen Volksabstimmungen. Online: www.swissvotes.ch. Abgerufen am [Datum].

Referenzen:

  • fög (2022). Abstimmungsmonitor zu den Vorlagen vom 25. September 2022, Schlussbericht vom 23. September 2022. Zürich: Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich.

  • gfs.bern (2022a): 2. SRG-Trendumfrage zur Abstimmung vom 25. September 2022. Studie im Auftrag der SRG SSR. https://cockpit.gfsbern.ch/de/cockpit/srg_trend_25092022_w2/, abgerufen am 15.9.2023.

  • gfs.bern (2022b). VOX-Analyse September 2022. Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 25. September 2022. Bern: gfs.bern.

  • Heidelberger, Anja (2023). Ausgewählte Beiträge zur Schweizer Politik: Reform «Stabilisierung der AHV (AHV 21)» (BRG 19.050), 2018-2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern. www.anneepolitique.swiss, abgerufen am 15.9.2023.

  • Heidelberger, Anja, und Marc Bühlmann (2022). APS-Zeitungs- und Inserateanalyse zu den Abstimmungen vom 25. September 2022. Zwischenstand vom 15.9.2022. Bern: Année Politique Suisse, Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

  • LeeWas (2022): 20 Minuten-/Tamedia-Abstimmungsumfrage. Eidgenössische Volksabstimmungen vom 25. September 2022. Auswertungen zur 1., 2. und 3. Umfragewelle. https://leewas.ch/referenzen/, abgerufen am 15.9.2023.

  • Erläuterungen des Bundesrates zur Abstimmung vom 25.9.2022 (Abstimmungsbüchlein). Herausgegeben von der Bundeskanzlei.

  • Amtliche Bulletins des National- und des Ständerats (Geschäft 19.050).

  • Bundesblatt: BBl 2019 6305. BBl 2021 2991. BBl 2022 1059. BBl 2023 486.

Bild: unsplash.com

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KategorienPolitisches Verhalten, Schweizer Politik, SerienThemen
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