Herr Leemann, wie zuverlässig sind Wahlprognosen?

Im Wahl­jahr wer­den regel­mäs­sig Umfra­gen durch­ge­führt, um den aktu­el­len Stand der Gunst der Par­tei­en in der Schwei­zer Bevöl­ke­rung in Erfah­rung zu brin­gen. Sol­che Umfra­gen mün­den in Pro­gno­sen über Erfolg oder Miss­erfolg der Par­tei­en bei den Wah­len. Lucas Lee­mann erklärt die Rol­le von Wahl­pro­gno­sen und zeigt auf, wie ver­läss­lich die­se sind.

Lucas Lee­mann: Zunächst ein­mal ist es wich­tig fest­zu­hal­ten, dass die Umfra­gen an sich kei­ne Pro­gno­sen sind. Eine Pro­gno­se wür­de sich auf Umfra­ge­da­ten stüt­zen aber auch wei­te­re Ele­men­te, wie bspw. his­to­ri­sche Wahl­er­geb­nis­se in den Kan­to­nen und frü­he­re natio­na­le Wahl­er­geb­nis­se mit­ein­schlies­sen. Ein sol­ches Instru­ment wür­de auf Basis die­ser ver­schie­de­nen Daten mit einem sta­tis­ti­schen Modell dann ver­su­chen das Ergeb­nis am Wahl­sonn­tag vor­her­zu­sa­gen. Umfra­gen sind ein wich­ti­ges Ele­ment einer sol­chen Vor­her­sa­ge, aber Umfra­gen allei­ne sind kei­ne Vorhersagen.

Was die Umfra­gen uns geben, ist ein aktu­el­les Stim­mungs­bild. Wel­che The­men sind wich­tig, wel­che The­men sind wel­chen Wähler*innen wich­tig? Sol­che Fra­gen kann eine Umfra­ge beant­wor­ten. Das sind wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen. Neh­men wir bspw. das Früh­lings- und Som­mer­the­ma „wokeness“, dem medi­al viel Platz ein­ge­räumt wird. In einer Umfra­ge im Mai 2023 haben nur gera­de 13% ange­ge­ben, dass es sich um ein drän­gen­des Pro­blem han­delt. Die Wahl­um­fra­gen zei­gen dann auch, dass die drän­gends­ten Pro­ble­me bei den Gesund­heits­kos­ten, der Alters­vor­sor­ge und der Migra­ti­on zu suchen sind (Umfra­ge Juni 2023). Das unter­schei­det sich nach Par­tei – Wähler*innen der bei­den grü­nen Par­tei­en sehen den Kli­ma­wan­del als wich­tigs­tes Pro­blem, Die Gesund­heits­kos­ten sind das drän­gends­te Pro­blem für die SP, die Mit­te und die FDP und nur bei den Anhänger*innen der SVP ist die Migra­ti­on das wich­tigs­te Problem.

Wie wer­den Wahl­um­fra­gen erstellt?

In der Schweiz wer­den öffent­li­che Wahl­um­fra­gen von Medi­en finan­ziert. Auf der einen Sei­te die SRG und auf der ande­ren Sei­te die Tame­dia und 20min. Das sind öffent­li­che Umfra­gen, da die Resul­ta­te allen zugäng­lich gemacht wer­den. Dane­ben kön­nen Par­tei­en oder Ver­bän­de natür­lich auch wei­te­re Umfra­gen machen, die aber nor­ma­ler­wei­se nicht öffent­lich publi­ziert wer­den.

Der genaue Pro­zess unter­schei­det sich je nach Umfra­ge­insti­tut und Auf­trag­ge­be­rin aber allen ist gemein, dass sie ver­su­chen eine Stich­pro­be zu errei­chen und die­se nach­her so zu bear­bei­ten, dass sie reprä­sen­ta­ti­ve Aus­sa­gen über die Bevöl­ke­rung machen können.

Was sind die gröss­ten Schwie­rig­kei­ten beim Durch­füh­ren von Wahlumfragen?

Man könn­te mei­nen, dass das ein tri­via­ler Pro­zess ist – man erhebt eine Stich­pro­be, fragt die Teil­neh­men­den nach ihrer Wahl­ab­sicht und berech­net dann die Wahl­an­tei­le et voi­là, die Umfra­ge­er­geb­nis­se ste­hen. Ganz so ein­fach ist das nicht. Stich­pro­ben haben Ver­zer­run­gen, bspw. ant­wor­ten gewis­se Bevöl­ke­rungs­grup­pen öfter als ande­re und des­halb kann man nicht ein­fach die Stich­pro­be wie eine Bevöl­ke­rung „à la minia­tu­re“ betrach­ten. Man muss mit Hil­fe von Gewich­tun­gen oder Model­lie­run­gen die­se Ver­zer­rung zu behe­ben versuchen.

Eine wei­te­re Schwie­rig­keit liegt auch dar­in, dass man nicht weiss, wer denn tat­säch­lich an den Wah­len teil­nimmt. Einer­seits fin­den vie­le Umfra­gen vor der heis­sen Mobi­li­sie­rungs­pha­se statt und ande­rer­seits ist die beab­sich­tig­te Teil­nah­me sehr schwer in Umfra­gen mess­bar (sie­he bspw. hier).

Und dann kommt noch eine gene­rel­le Schwie­rig­keit dazu – unser Wahl­sys­tem ist nicht so gestal­tet, dass die Stim­men­ver­hält­nis­se per­fekt in Sitz­ver­hält­nis­se über­setzt wer­den. Teil­wei­se kann das auch so weit gehen, dass eine Par­tei leicht Antei­le ver­liert aber am Ende doch noch einen Sitz gewinnt – jüngst war das bei der GLP im Kan­ton Zürich der Fall. Die­se Über­set­zung von Stim­men in Sit­ze sind eben­falls nicht Teil von Wahlumfragen.

Erwar­ten Sie auch für die anste­hen­den Wah­len Über­ra­schun­gen (wie z.B. der star­ke Gewinn der Grü­nen 2019), wel­che von den Pro­gno­sen nicht vor­aus­ge­sagt wurden?

Eher nicht. Im Moment scheint es als wür­den die gros­sen Gewin­ne­rin­nen und Ver­lie­re­rin­nen von 2019 jeweils wie­der etwas ver­lie­ren, resp. gewin­nen. In die­sem Zusam­men­hang haben Kom­men­ta­to­rin­nen auch schon das Bild eines Pen­dels ver­wen­det. Die Grü­nen haben sehr stark zuge­legt 2019 und wenn die Umfra­gen rich­tig lie­gen, dann wer­den sie einen Teil die­ses Zuge­winns wie­der abge­ben. Bei der SVP ver­hält es sich genau umgekehrt.


Lucas Lee­mann

Lucas Lee­mann stu­dier­te Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Bern und dok­to­rier­te an der Colum­bia Uni­ver­si­ty in New York. Seit 2022 ist er aus­ser­or­dent­li­cher Pro­fes­sor für Ver­glei­chen­de Poli­tik und empi­ri­sche Demo­kra­tie­for­schung an der Uni­ver­si­tät Zürich. Neben der ver­glei­chen­den Poli­tik, demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen und Reprä­sen­ta­ti­on befasst er sich im Bereich der Daten­wis­sen­schaft auch mit Umfra­ge­me­tho­dik, Model­lie­rung und maschi­nel­lem Lernen.

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Bild: unsplash.com

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