Umweltpolitik vor dem Hintergrund der “institutionellen Komplexitätsfalle” oder wenn zu viele Regeln die Regeln töten

Seit mehr als einem Jahr­hun­dert ist in Euro­pa eine Zunah­me des Umfangs staat­li­cher Ein­grif­fe zu beob­ach­ten. Die stei­gen­de Zahl der staat­li­chen Mass­nah­men wirft die Fra­ge auf, wie die­se mit­ein­an­der in Ein­klang gebracht wer­den kön­nen. Die­se Inte­gra­ti­ons­fra­ge stellt sich beson­ders akut im Fall der Umwelt­po­li­tik, die seit der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts stark gewach­sen ist. Die häu­fi­gen Defi­zi­te oder Kon­flik­te (ins­be­son­de­re die Ver­recht­li­chung) bei ihrer Umset­zung wer­fen die Fra­ge auf, inwie­weit die­se umwelt­po­li­ti­schen Sys­te­me in der Lage sind, ihre Kohä­renz und ein Inte­gra­ti­ons­ni­veau auf­recht­zu­er­hal­ten, das ihre Wirk­sam­keit lang­fris­tig gewährleistet.

Die Hypothese der “institutionellen Komplexitätsfalle”

Wir stel­len die Hypo­the­se auf, dass umwelt­po­li­ti­sche Sys­te­me lang­fris­tig drei ver­schie­de­ne his­to­ri­sche Pha­sen durch­lau­fen: (1) eine ers­te Pha­se (Ende 19. bis Mit­te 20. Jahr­hun­dert) des Auf­baus des Sys­tems, die durch eine begrenz­te Anzahl von Rege­lun­gen und ein rela­tiv hohes Mass an Kohä­renz gekenn­zeich­net ist; (2) eine zwei­te Ent­wick­lungs­pha­se (1950 bis 1990), die durch eine star­ke Zunah­me der Anzahl von Rege­lun­gen und eine Auf­recht­erhal­tung der Kohä­renz des Sys­tems gekenn­zeich­net ist; (3) eine drit­te Pha­se (1990 bis heu­te), in der sich die Aus­wei­tung des Sys­tems beschleu­nigt und von einer Ver­viel­fa­chung der Instru­men­te beglei­tet wird, deren Koor­di­nie­rung sich als immer schwie­ri­ger erweist. Dies führt dazu, dass die Inte­gra­ti­ons­fä­hig­keit des Sys­tems zum Erlie­gen kommt und die Blo­cka­den und Inko­hä­ren­zen zuneh­men, was wir als “insti­tu­tio­nel­le Kom­ple­xi­täts­fal­le” bezeich­nen.

Die Dis­kus­si­on die­ser Hypo­the­se stützt sich auf zwei ver­schie­de­ne Stu­di­en, die sich mit dem Was­ser­sek­tor befas­sen. Eine ers­te Stu­die (Bolo­gne­si und Nah­rath 2020) ana­ly­siert die Gover­nan­ce-Sys­te­me im Was­ser­sek­tor in sechs euro­päi­schen Län­dern (Schweiz, Bel­gi­en, Spa­ni­en, Frank­reich, Ita­li­en und Nie­der­lan­de) von 1750 bis 2006. Die Kohä­renz wird anhand einer ein­ge­hen­den qua­li­ta­ti­ven Ana­ly­se der Ent­wick­lung aller (öffent­li­chen und pri­va­ten) Rechts­nor­men in allen sechs Län­dern im Rah­men eines euro­päi­schen Pro­jekts (Kuks und Kis­s­ling-Naef 2004) bewer­tet. Eine zwei­te Stu­die (Bolo­gne­si, Metz und Nah­rath 2021) unter­sucht die Ent­wick­lung des Hoch­was­ser­schut­zes in der Schweiz zwi­schen 1848 und 2017 sowie deren Kohä­renz über eine sys­te­ma­ti­sche Ana­ly­se der (Nicht-) Koor­di­na­ti­on zwi­schen Instru­men­ten inner­halb der neun wich­tigs­ten Rechts­grund­la­gen. In bei­den Stu­di­en wur­de unter­sucht, ob die ste­ti­ge Zunah­me der Zahl der Instru­men­te und der regu­lier­ten Berei­che zu einer Blo­cka­de der Inte­gra­ti­on und damit zu einer Ver­rin­ge­rung der Kohä­renz des Regimes führt und die posi­ti­ven Effek­te, die durch die suk­zes­si­ve Hin­zu­fü­gung von Regu­lie­run­gen ange­strebt wur­den, zunichtemacht.

Ergebnisse und Implikationen für Entscheidungsträger:innen

In bei­den Stu­di­en konn­ten die drei Pha­sen, wie sie in der Hypo­the­se for­mu­liert wur­den, empi­risch nach­ge­wie­sen wer­den. In der ers­ten Stu­die zei­gen wir, wie die Aus­wei­tung des Was­ser­re­gimes in den sechs Län­dern seit dem Ende des 20. Jahr­hun­derts zu einer star­ken Abschwä­chung der Inte­gra­ti­on führt, was haupt­säch­lich auf eine Zunah­me der inter­nen Inkon­sis­ten­zen sowie auf einen star­ken Anstieg der Trans­ak­ti­ons­kos­ten zurück­zu­füh­ren ist.

Die zwei­te Stu­die zeigt eine ähn­li­che Dyna­mik im Fall des Hoch­was­ser­schut­zes in der Schweiz. Die expo­nen­ti­el­le Zunah­me der Wech­sel­wir­kun­gen zwi­schen den Instru­men­ten zwi­schen 1990 und 2010 (Abbil­dung 1) führt dazu, dass die Trans­ak­ti­ons­kos­ten für die Auf­recht­erhal­tung der Kohä­renz so hoch sind, dass eine Inte­gra­ti­on des Sys­tems schnell unmög­lich wird.

Abbildung 1 | Zunahme der (überwiegend unkoordinierten) Verbindungen zwischen den Instrumenten der wichtigsten Hochwasserschutzpolitiken in der Schweiz zwischen 1990 und 2010. Die Abkürzungen (in Englisch) verweisen auf die wichtigsten eidgenössischen Rechtsgrundlagen. Rot markiert sind Verbindungen, die in den letzten zehn Jahren neu geschaffen wurden. Grau markiert sind Verbindungen, die bereits vor dem letzten Jahrzehnt bestanden.

Bei­de Stu­di­en zei­gen, wie die Aus­wei­tung der Was­ser­po­li­tik ab einem bestimm­ten Aus­mass dazu bei­trägt, dass die Inte­gra­ti­on des Sys­tems unmög­lich wird (zu vie­le Regeln töten die Regeln) und das Sys­tem in eine “insti­tu­tio­nel­le Kom­ple­xi­täts­fal­le” gerät.

Ange­sichts die­ser Ergeb­nis­se besteht die Her­aus­for­de­rung für die poli­ti­schen Entscheidungsträger:innen in der Fähig­keit, Aus­wei­tung und Inte­gra­ti­on zusam­men­zu­hal­ten. Dazu muss ein Weg gefun­den wer­den, die Anzahl der Regeln und Instru­men­te zu redu­zie­ren, ohne den Umfang der staat­li­chen Inter­ven­ti­on zu verringern.


Bemer­kung: Die­ser Arti­kel wur­de im Rah­men des IDHEAP Poli­cy Brief No. 3 veröffentlicht.

Refe­ren­zen:

  • Bolo­gne­si, T., Nah­rath, S. (2020). Envi­ron­men­tal Gover­nan­ce Dyna­mics: Some Micro Foun­da­ti­ons of Macro Fail­u­res. Eco­lo­gi­cal Eco­no­mics, 170.

  • Bolo­gne­si, T., Metz, F., Nah­rath, S. (2021). Insti­tu­tio­nal com­ple­xi­ty traps in poli­cy inte­gra­ti­on pro­ces­ses: a long-term per­spec­ti­ve on Swiss flood risk manage­ment. Poli­cy Sci­en­ces, 54, 911–941.

  • Kuks, S., Kis­s­ling-Naef, I. (Ed.) (2004). The Evo­lu­ti­on of Natio­nal Water Regimes in Euro­pe. Tran­si­ti­ons in Water Rights and Water Poli­ci­es. Ber­lin: Springer.

Bild: unsplash.ch

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