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Umweltpolitik vor dem Hintergrund der “institutionellen Komplexitätsfalle” oder wenn zu viele Regeln die Regeln töten

Stephane Nahrath
9th Mai 2023

Seit mehr als einem Jahrhundert ist in Europa eine Zunahme des Umfangs staatlicher Eingriffe zu beobachten. Die steigende Zahl der staatlichen Massnahmen wirft die Frage auf, wie diese miteinander in Einklang gebracht werden können. Diese Integrationsfrage stellt sich besonders akut im Fall der Umweltpolitik, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark gewachsen ist. Die häufigen Defizite oder Konflikte (insbesondere die Verrechtlichung) bei ihrer Umsetzung werfen die Frage auf, inwieweit diese umweltpolitischen Systeme in der Lage sind, ihre Kohärenz und ein Integrationsniveau aufrechtzuerhalten, das ihre Wirksamkeit langfristig gewährleistet.

Die Hypothese der “institutionellen Komplexitätsfalle”

Wir stellen die Hypothese auf, dass umweltpolitische Systeme langfristig drei verschiedene historische Phasen durchlaufen: (1) eine erste Phase (Ende 19. bis Mitte 20. Jahrhundert) des Aufbaus des Systems, die durch eine begrenzte Anzahl von Regelungen und ein relativ hohes Mass an Kohärenz gekennzeichnet ist; (2) eine zweite Entwicklungsphase (1950 bis 1990), die durch eine starke Zunahme der Anzahl von Regelungen und eine Aufrechterhaltung der Kohärenz des Systems gekennzeichnet ist; (3) eine dritte Phase (1990 bis heute), in der sich die Ausweitung des Systems beschleunigt und von einer Vervielfachung der Instrumente begleitet wird, deren Koordinierung sich als immer schwieriger erweist. Dies führt dazu, dass die Integrationsfähigkeit des Systems zum Erliegen kommt und die Blockaden und Inkohärenzen zunehmen, was wir als “institutionelle Komplexitätsfalle” bezeichnen.

Die Diskussion dieser Hypothese stützt sich auf zwei verschiedene Studien, die sich mit dem Wassersektor befassen. Eine erste Studie (Bolognesi und Nahrath 2020) analysiert die Governance-Systeme im Wassersektor in sechs europäischen Ländern (Schweiz, Belgien, Spanien, Frankreich, Italien und Niederlande) von 1750 bis 2006. Die Kohärenz wird anhand einer eingehenden qualitativen Analyse der Entwicklung aller (öffentlichen und privaten) Rechtsnormen in allen sechs Ländern im Rahmen eines europäischen Projekts (Kuks und Kissling-Naef 2004) bewertet. Eine zweite Studie (Bolognesi, Metz und Nahrath 2021) untersucht die Entwicklung des Hochwasserschutzes in der Schweiz zwischen 1848 und 2017 sowie deren Kohärenz über eine systematische Analyse der (Nicht-) Koordination zwischen Instrumenten innerhalb der neun wichtigsten Rechtsgrundlagen. In beiden Studien wurde untersucht, ob die stetige Zunahme der Zahl der Instrumente und der regulierten Bereiche zu einer Blockade der Integration und damit zu einer Verringerung der Kohärenz des Regimes führt und die positiven Effekte, die durch die sukzessive Hinzufügung von Regulierungen angestrebt wurden, zunichtemacht.

Ergebnisse und Implikationen für Entscheidungsträger:innen

In beiden Studien konnten die drei Phasen, wie sie in der Hypothese formuliert wurden, empirisch nachgewiesen werden. In der ersten Studie zeigen wir, wie die Ausweitung des Wasserregimes in den sechs Ländern seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zu einer starken Abschwächung der Integration führt, was hauptsächlich auf eine Zunahme der internen Inkonsistenzen sowie auf einen starken Anstieg der Transaktionskosten zurückzuführen ist.

Die zweite Studie zeigt eine ähnliche Dynamik im Fall des Hochwasserschutzes in der Schweiz. Die exponentielle Zunahme der Wechselwirkungen zwischen den Instrumenten zwischen 1990 und 2010 (Abbildung 1) führt dazu, dass die Transaktionskosten für die Aufrechterhaltung der Kohärenz so hoch sind, dass eine Integration des Systems schnell unmöglich wird.

Abbildung 1 | Zunahme der (überwiegend unkoordinierten) Verbindungen zwischen den Instrumenten der wichtigsten Hochwasserschutzpolitiken in der Schweiz zwischen 1990 und 2010. Die Abkürzungen (in Englisch) verweisen auf die wichtigsten eidgenössischen Rechtsgrundlagen. Rot markiert sind Verbindungen, die in den letzten zehn Jahren neu geschaffen wurden. Grau markiert sind Verbindungen, die bereits vor dem letzten Jahrzehnt bestanden.

Beide Studien zeigen, wie die Ausweitung der Wasserpolitik ab einem bestimmten Ausmass dazu beiträgt, dass die Integration des Systems unmöglich wird (zu viele Regeln töten die Regeln) und das System in eine “institutionelle Komplexitätsfalle” gerät.

Angesichts dieser Ergebnisse besteht die Herausforderung für die politischen Entscheidungsträger:innen in der Fähigkeit, Ausweitung und Integration zusammenzuhalten. Dazu muss ein Weg gefunden werden, die Anzahl der Regeln und Instrumente zu reduzieren, ohne den Umfang der staatlichen Intervention zu verringern.


Bemerkung: Dieser Artikel wurde im Rahmen des IDHEAP Policy Brief No. 3 veröffentlicht.

Referenzen:

  • Bolognesi, T., Nahrath, S. (2020). Environmental Governance Dynamics: Some Micro Foundations of Macro Failures. Ecological Economics, 170.

  • Bolognesi, T., Metz, F., Nahrath, S. (2021). Institutional complexity traps in policy integration processes: a long-term perspective on Swiss flood risk management. Policy Sciences, 54, 911-941.

  • Kuks, S., Kissling-Naef, I. (Ed.) (2004). The Evolution of National Water Regimes in Europe. Transitions in Water Rights and Water Policies. Berlin: Springer.

Bild: unsplash.ch