Aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ist mangelnde Bildung ein benachteiligender Faktor auf dem Arbeitsmarkt. Tatsächlich sind Personen ohne Berufs- oder Hochschulausbildung unter den Empfänger:innen von Sozialleistungen überrepräsentiert. Angesichts dieser Tatsache wollen immer mehr Akteure der Sozialpolitik auf die Strukturen der Berufsbildung zurückgreifen, um diesen benachteiligten Bevölkerungsgruppen Kompetenzen zu vermitteln.
Das primäre Ziel des Berufsbildungssystems ist jedoch nicht die soziale Teilhabe. Daher führt dieser Ansatz zu einer Reihe von Spannungen. Beispielsweise sind Akteure aus dem sozialen Bereich und aus dem Bereich der Integration von Migrant:innen häufig der Ansicht, dass die Berufsbildungsbehörden bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder bei der Validierung von Bildungsleistungen zu restriktiv sind. Auf der anderen Seite sind Berufsbildungsakteure und Arbeitgeber der Ansicht, dass Bemühungen für soziale Inklusion nicht zu “billigen” Ausbildungen oder Abschlüssen führen dürfen. Wird das Berufsbildungssystem für die Sozialpolitik genutzt? Mit welchen Folgen?
Forschungsansatz
In diesem Zusammenhang ermöglicht uns eine Finanzierung des SBFI (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) die Entwicklung eines Forschungsprogramms zur Governance der Berufsbildung (Governance of Vocational and Professional Education and Training, GOVPET). GOVPET setzte mehrere Forschungsschwerpunkte. Einerseits konnten wir das Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Inklusion in Berufsbildungssystemen aus einer vergleichenden Perspektive untersuchen. Andererseits haben wir Einzelstudien zu Programmen oder Herausforderungen durchgeführt, die in der Schweiz von besonderer Bedeutung sind, wie die Rolle der Berufsbildung in der Integrationspolitik für Geflüchtete oder die Diskriminierung bei der Einstellung von Lehrlingen.
In diesen Untersuchungen haben wir verschiedene Methoden angewandt: Fallstudien von Reformen, die für die soziale Dimension der Berufsbildung wichtig sind, Umfragen bei ausbildenden Unternehmen, um zu erheben, inwieweit Arbeitgeber bereit sind, eine soziale Rolle zu übernehmen, und qualitative Studien mitbenachteiligten Zielgruppen (z. B. Schulabbrecher:innen oder Geflüchtete).
Ergebnisse, Diskussionen, Auswirkungen
In den meisten Studien konnten wir ein Spannungsverhältnis zwischen Berufsbildung und Sozialpolitik feststellen. Der Versuchung, ein effizientes Berufsbildungssystem zu nutzen, um Sozialpolitik zu betreiben, nachzugeben, scheint ein weit verbreitetes Phänomen zu sein (Bonoli, Emmenegger 2022). Auch die Widerstände gegen ein zu soziales Berufsbildungssystem sind ausgeprägt. In Deutschland wurde beispielsweise ein “Ausbildungsbonus”, d. h. ein Zuschuss für Unternehmen, die sozial benachteiligte Auszubildende einstellen, von den Arbeitgeberverbänden mit Unterstützung der Gewerkschaften erfolgreich bekämpft, was auf eine starke Verbundenheit der Sozialpartner mit dem Berufsbildungssystem hindeutet. In der Schweiz musste ein Integrationsvorlehrprogramm, das Geflüchteten den Zugang zur Berufsausbildung erleichtern sollte, zwischen den Akteuren aus dem Bereich der Migration und der Berufsbildung hart verhandelt werden. Das eingeführte System ist komplex und erfordert die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen, wie Abbildung 1 verdeutlicht. Das Programm wird jedoch von den wichtigsten beteiligten Akteuren als Erfolg angesehen, insbesondere von Arbeitgebern, die gegenwärtig Schwierigkeiten haben, Mitarbeiter:innen zu finden (Aerne, Bonoli 2021).
Abbildung 1. Komplexe Zusammenarbeit: das vom Staatssekretariat für Migration (SEM) entwickelte Programm “Integrationsvorlehre”, das Geflüchteten den Zugang zu einer Berufsausbildung erleichtern soll
Insgesamt zeigen die verschiedenen Studien, die wir durchgeführt haben, dass die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren der Sozialpolitik und der Berufsbildung komplex ist, da die Interessen der verschiedenen Akteure nicht systematisch aufeinander abgestimmt sind. Die wenigen erfolgreichen Beispiele zeigen jedoch, dass die Nutzung der Berufsbildung zur Verbesserung der Eingliederung benachteiligter Bevölkerungsgruppen möglich ist. Im Allgemeinen haben Massnahmen, die die Inklusion fördern, eine grössere Chance, wenn sie systemextern sind, d. h. wenn sie bei den benachteiligten Personen ansetzen, ohne die Funktionsweise der Berufsbildungsstrukturen zu verändern (Bonoli, Wilson 2019). Wenn die Massnahmen hingegen direkt in die Funktionsweise des Berufsbildungssystems eingreifen, ist das Risiko grösser. In diesem Fall ist es entscheidend, dass die Massnahmen als Win-Win-Lösungen wahrgenommen werden, d. h. dass jeder Akteur einen Vorteil erhält.
Bemerkung: Dieser Artikel wurde im Rahmen des IDHEAP Policy Brief No. 5 veröffentlicht.
Referenzen:
- Aerne, A., & Bonoli, G. (2021). Integration through vocational training. Promoting refugees’ access to apprenticeships in a collective skill formation system. Journal of Vocational Education & Training, 1-20. doi: 10.1080/13636820.2021.1894219
- Bonoli, G., & Emmenegger, P. (2022). Collective Skill Formation in a Knowledge Economy: Challenges and Dilemmas. In G. Bonoli & P. Emmenegger ( Eds.), Collective skill formation in the knowledge economy. Oxford: Oxford Universty Press.
- Bonoli, G., & Wilson, A. (2019). Bringing firms on board. Inclusiveness of the dual apprenticeship systems in Germany, Switzerland and Denmark. International Journal of Social Welfare, 28( 4 ), 369-379. doi: https://doi.org/10.1111/ijsw.12371
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