Die Schweiz hat diese Stadt-Land-Polemik nicht nötig 

Die Stadt-Land-Kon­tro­ver­se, die nach den Bun­des­rats­wah­len hoch­ge­kocht ist, greift in viel­fa­cher Hin­sicht zu kurz. Die Ver­tre­tung regio­na­ler Inter­es­sen in der Bun­des­po­li­tik hängt von vie­lem ab, aber kaum vom aktu­el­len Wohn­ort der Bun­des­rats­mit­glie­der. Und wie ein Blick in die Sta­tis­tik zeigt, waren die Städ­te in den letz­ten Jahr­zehn­ten im Bun­des­rat über- und nicht untervertreten. 

Es ist zum eigent­li­chen Volks­sport gewor­den: Vor und nach Bun­des­rats­wah­len blickt man arg­wöh­nisch auf die sie­ben­köp­fi­ge Lan­des­re­gie­rung und schreibt gegen Über- oder Unter­ver­tre­tun­gen an. Der­zeit ist es das angeb­lich schie­fe Ver­hält­nis von “Stadt” und “Land”, das man­che Gemü­ter erhitzt. Es kur­sie­ren Schwei­zer­kar­ten, wel­che die Wohn­sit­ze der Bundesrät:innen vom beschau­li­chen Les Breu­leux JU bis zum städ­ti­schen-aber-eini­gen-doch-nicht-genü­gend-urba­nen Wil SG ein­zeich­nen. Was dabei vor lau­ter Auf­re­gung unter­ging: Die Schweiz besteht nicht nur aus Gross­stadt und Land, son­dern auch aus Klein­städ­ten und – vor allem – Agglo­me­ra­ti­ons­ge­mein­den. Zu die­sem Zwi­schen­stadt­land zählt das Bun­des­amt für Sta­tis­tik etwa Köniz BE, Herr­li­berg ZH oder Bel­faux FR

Übergewicht der Grossstädte 

Zudem soll­te der bun­des­rät­li­che Urba­ni­täts­grad auf lan­ge Sicht betrach­tet wer­den. Unse­re Daten­er­he­bung zu den magis­tra­len Wohn­or­ten zeigt: Über alle 52 Bun­des­rats­mit­glie­der gese­hen, die in der Zau­ber­for­mel-Ära seit 1960 amtier(t)en, sind die Gross­städ­te mar­kant über­ver­tre­ten. Wäh­rend 17 Pro­zent der Bevöl­ke­rung in Bal­lungs­zen­tren mit mehr als 50‘000 Einwohner:innen woh­nen, beläuft sich deren kumu­lier­te Bun­des­rats­ver­tre­tung auf 34 Pro­zent. Auf die Agglo­me­ra­tio­nen ent­fal­len nur etwas mehr Bun­des­rats­mit­glie­der, obwohl sie einen deut­lich grös­se­ren Bevöl­ke­rungs­an­teil aus­ma­chen. Immer­hin stieg ihre Ver­tre­tung im Lau­fe der Zeit. Unter­ver­tre­ten ist auch das länd­li­che Ele­ment: Das Land stellt 15 Pro­zent der Bevöl­ke­rung, aber nur 10 Pro­zent des Regie­rungs­per­so­nals. Eli­sa­beth Bau­me-Schnei­der ist sogar die ers­te Bun­des­rä­tin aus der länd­li­chen Schweiz seit 2003. 

Abbildung 1. Bundesratsmitglieder nach Siedlungstypen, 1960–2023

Quelle: Eigene Darstellung unter Beizug von Daten von Anja Giudici, Nenad Stojanović, Adrian Vatter und eigenen Recherchen.
Mobile Biografien, fluide Identitäten 

Zwei­fel­los hat die geo­gra­phi­sche und sozia­le Her­kunft der Bun­des­rats­mit­glie­der eine sym­bo­li­sche Bedeu­tung; sie schafft Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Regie­ren­den. Auch kann die Her­kunft poli­ti­sche Sicht­wei­sen und Sen­si­bi­li­tä­ten prä­gen: Wer auf dem Land wohnt, wird regel­mäs­sig an den aus­ge­dünn­ten Bus­fahr­plan erin­nert. Den­noch ist der Wohn­ort aus meh­re­ren Grün­den nur ein wack­li­ges Kri­te­ri­um dafür, wes­sen Per­spek­ti­ve ein Bun­des­rats­mit­glied ein­bringt. Mehr­heits­po­si­tio­nen der links­grün domi­nier­ten Stadt­be­völ­ke­rung wer­den ver­mut­lich von einer Eli­sa­beth Bau­me-Schnei­der eher abge­deckt als von einem Hans-Ueli Vogt. Denn natür­lich kön­nen Landbewohner:innen auch Poli­tik im Sin­ne der Stadt­be­völ­ke­rung machen und umgekehrt. 

Auch zielt eine Fixie­rung auf den aktu­el­len Wohn­ort an den mobi­len Schwei­zer Lebens­rea­li­tä­ten vor­bei. Bundesrät:innen sind da kei­ne Aus­nah­me. So wuchs Albert Rös­ti im länd­li­chen Kan­der­steg auf, absol­vier­te das Gym­na­si­um im klein­städ­ti­schen Thun, leb­te eini­ge Jah­re in der Stadt Zürich und ist jetzt in der Agglo­me­ra­ti­on in Ueten­dorf daheim. Wird er nun ein Ver­tre­ter des Lan­des, der Agglo­me­ra­ti­on, der Klein- oder der Gross­stadt? Oder viel­leicht alles in einem, weil er ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven kennt? Womög­lich weiss Rös­ti das selbst nicht so genau. 

Damit wäre er nicht allein, denn: Als Fol­ge mobi­ler Bio­gra­fien klaf­fen objek­ti­ver Wohn­ort und sub­jek­ti­ve Iden­ti­tät häu­fig aus­ein­an­der.  Wäh­rend gemäss BFS-Typo­lo­gie nur jede:r sieb­te Einwohner:in der Schweiz auf dem Land lebt, schätzt sich fast jede:r Drit­te selbst als länd­lich ein. Der Wohn­ort eines Bun­des­rats­mit­glieds mag also für sein Selbst­bild und sein Han­deln eine gewis­se Bedeu­tung haben; über­schät­zen soll­te man die­se aber nicht. 

 
Ein Blick über den Tellerrand 

In der gan­zen Dis­kus­si­on darf auch nicht ver­ges­sen wer­den, dass es vie­le wei­te­re legi­ti­me Reprä­sen­ta­ti­ons­kri­te­ri­en gäbe, die sich kei­nes­wegs in Wohn­ort, Geschlecht, Sprach­re­gi­on und Kan­ton erschöp­fen. So ver­eint jedes Mit­glied des Bun­des­rats ver­schie­dens­te, poten­ti­ell ins Gewicht fal­len­de Iden­ti­tä­ten auf sich. Jedoch wer­den längst nicht alle poli­tisch mit gleich viel Nach­druck ver­han­delt. Wem ist bei­spiels­wei­se bewusst, dass die Schweiz 2021 mit einem Durch­schnitts­al­ter von 60 Jah­ren über das ältes­te Kabi­nett Euro­pas ver­füg­te? Oder dass bis 2018 durch­wegs eine Mehr­heit von Akademiker:innen im Bun­des­rat sass? 

Auch kommt die Reprä­sen­ta­ti­ons­dis­kus­si­on oft nicht über den Bun­des­rat hin­aus. So blei­ben etwa – um nur eini­ge wei­te­re ein­fluss­rei­che Akteur:innen zu nen­nen – die Chef­ka­der der Bun­des­ver­wal­tung, par­la­men­ta­ri­sche Kom­mis­si­ons- und Frak­ti­ons­spit­zen, Kan­tons­re­gie­run­gen oder inter­kan­to­na­le Kon­fe­renz­prä­si­di­en häu­fig unbe­ach­tet. Wer an den Wert von Reprä­sen­ta­ti­vi­tät glaubt, soll­te den Fokus also ent­schie­den brei­ter set­zen als bloss auf Bundesrät:innen und ihre Wohnorte. 

Abbildung 2. Durchschnittsalter der Regierungsmitglieder in 29 europäischen Ländern, 2021

Quelle: WhoGov-Datensatz 2021

Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien in leicht geän­der­ter Fas­sung am 19.12.2022 als Gast­bei­trag im Tages­an­zei­ger.

 

Bild: St. Ursan­ne

image_pdfimage_print