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Die Schweizer Verkehrspolitik: der letzte europapolitische Trumpf?

Anja Heidelberger
15th Dezember 2022

In ihrer Verkehrspolitik der 1990er Jahre versuchte die Schweiz, die Forderung der EG/EU nach einer Erhöhung des LKW-Transitverkehrs mit der innenpolitischen Forderung nach mehr Alpenschutz in Einklang zu bringen. Dabei brachten sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger regelmässig mit Urnenentscheiden in die Diskussionen ein und stellten die Schweizer Verkehrspolitik mehrmals vor grössere Herausforderungen. Gleichzeitig erachteten Bundesrat und Parlament den Verkehrsbereich – v.a. die 28-Tonnen-Limite und die NEAT – als einen Trumpf in ihren europapolitischen Verhandlungen.

Konkurrenz durch die Strassen-Transporte

Lange Zeit spielte der alpenquerende Güterverkehr auf der Schiene in der Schweiz eine zentrale Rolle (Litra 2017). Mit dem Bau des Gotthard-Strassentunnels (1970–1980) stieg jedoch der Anteil des Güterverkehrs auf der Strasse am Gesamtgüterverkehr an und begann denjenigen auf der Schiene zu konkurrenzieren (Alpentransitportal 2022).

Dass der Anteil des Strassengüterverkehrs nicht noch stärker anstieg, war auf die 28-Tonnen-Limite für Lastwagen und auf das Nacht- und Sonntagsfahrverbot in der Schweiz zurückzuführen (BBl, 1990, II, S. 1102). Während die umliegenden Staaten das Maximalgewicht für Lastwagen kontinuierlich erhöhten, begrenzte die tiefere Limite in der Schweiz den Anstieg des Transitgüterverkehrs zulasten der Nachbarländer Österreich und Frankreich.

Dieses Vorgehen führte jedoch bald zu Widerstand in der EG, die sich an den Einschränkungen des freien Warenverkehrs zwischen ihren Mitgliedern störte.

Das Transitabkommen

Ab 1989 verhandelten die EG und die Schweiz über ein Transitabkommen. Die EG verlangte einen Strassenkorridor für 40-Tonnen-Lastwagen, die Schweiz schlug stattdessen eine Verlagerung des Strassengütertransports auf die Schiene vor. Beim für die Verlagerung nötigen Ausbau der Schienen-Transportkapazitäten setzte der Bundesrat auf die bereits geplante NEAT.

Die Schweiz und die EU einigten sich darauf, dass die Schweiz ihre 28-Tonnen-Limite für Lastwagen sowie das Nacht- und Sonntagsfahrverbot beibehält, aber neben einer Kapazitätserhöhung beim Schienentransport je 50 Hin- und Rückfahrten von 40-Tonnen-Lastwagen täglich erlaubt. Zudem wurde eine Ausdehnung des Zugangs der Schweizer Transportunternehmen zum EG-Verkehrsmarkt im gleichzeitig ausgehandelten EWR-Vertrag geregelt. Diese Ausdehnung entfiel jedoch mit der Ablehnung des EWR-Beitritts am 6. Dezember 1992.

Das Landverkehrsabkommen

In der Folge wünschte der Bundesrat neue Verhandlungen mit der EU unter anderem zum Marktzugang der Transportunternehmen, während sich die EU – trotz Regelung im Transitabkommen – weiterhin an der 28-Tonnen-Limite und am Sonntags- und Nachtfahrverbot störte. 1994 standen somit die Verhandlungen zum Landverkehrsabkommen – als Teil der Bilateralen I – an. Die 28-Tonnen-Limite half somit quasi als Trumpf mit, die EU nach dem Schweizer EWR-Nein wieder an den Verhandlungstisch zu bringen.

Doch bevor die Verhandlungen beginnen konnten, nahmen die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Februar 1994 die sogenannte Alpeninitiative an. Diese verlangte unter anderem einen Verzicht auf Kapazitätsausbau auf den Transitachsen und eine vollständige Verlagerung des Transitgüterverkehrs von der Strasse auf die Schiene.

Da die EG-Staaten eine entsprechende Regelung als Verstoss gegen die Grundsätze der Nichtdiskriminierung erachteten, konnten die Verhandlungen zum Landverkehrsabkommen erst aufgenommen werden, nachdem der Bundesrat einen diskriminierungsfreien Umsetzungsentwurf präsentiert hatte: Im Rahmen der neu zu schaffenden LSVA sollten alle LKW Gebühren für die Benutzung der Transitachsen bezahlen müssen, auch Fahrzeuge im Binnenverkehr.

Nach langwierigen Verhandlungen einigten sich die Schweiz und die EU auf eine schrittweise ansteigende Gewichtslimite für LKW bis auf 40 Tonnen und auf eine im Gleichschritt mit der Gewichtslimite ansteigende LSVA-Abgabe. Die Schweiz verteidigte hingegen das Nacht- und Sonntagsfahrverbot und erhielt die Möglichkeit, bei einem zu starken Anstieg der Verkehrszahlen Sondermassnahmen zu erlassen.

Mit diesem Kompromiss beim Landverkehrsabkommen konnte sich die Schweiz schliesslich die Bilateralen I insgesamt sichern – ohne dieses letzte noch offene Dossier wären auch die übrigen Übereinkommen mit der EU Makulatur gewesen. Zur Mehrheitsfähigkeit dieses Kompromisses in der EU trugen zwei Schweizer Urnenentscheide bei, bei denen die Stimmbevölkerung 1998 die Einführung der LSVA und die Finanzierung von ÖV-Projekten (FinÖV) guthiess und somit den rechtlichen Rahmen und die Finanzierung der Verkehrsverlagerung sicherte.

Im Mai 2000 sprachen sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für Annahme der Bilateralen I aus, wobei dem Landverkehrsabkommen gemäss Vox-Analyse nur eine geringe Bedeutung für den Stimmentscheid zukam – im Gegensatz zu den meisten anderen Dossiers (mit Ausnahme der sehr zentralen Personenfreizügigkeit) wurde es aber immerhin vereinzelt als Entscheidungsgrund genannt (Hirter und Linder 2000).

Das Verkehrsverlagerungsziel

Zur Umsetzung der Alpeninitiative definierten Bundesrat und Parlament ein bis 2009 zu erreichendes Verkehrsverlagerungsziel von maximal 650'000 jährlichen alpenquerenden Güterschwerverkehrsfahrten auf der Strasse. In den folgenden Jahren wurden die Umsetzungsfrist für dieses Ziel verlängert und zusätzliche Massnahmen zur Förderung der Verkehrsverlagerung geschaffen.

Dennoch konnte das Ziel bis ins Jahr 2021 nicht erreicht werden: Die Anzahl Fahrten sank von 1,4 Mio. (2000) bis 2021 auf 860’000 Fahrten jährlich (UVEK 2022). Verglichen mit Frankreich (2019: 12%) und Österreich (2019: 25%) konnte die Schweiz jedoch einen vergleichsweise hohen Anteil des Schienentransports (2000: 70%; 2019: 72%) am gesamten alpenquerenden Transport erhalten. Somit scheinen LSVA, NEAT und die zusätzlichen erlassenen Massnahmen zumindest die Aufhebung der 28-Tonnen-Limite kompensiert zu haben.

Abbildung 1: 

Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Die Schweizer Verkehrspolitik: der letzte europapolitische Trumpf?», in: Heer Elia, Heidelberger Anja, Bühlmann Marc (Hrsg.). Schweiz – EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege. Die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein. Zürich: NZZ Libro. S. 289 – 326.

 

Referenz:

  • Alptransitportal (2022). Schweizerisches Bundesarchiv BAR, online https://www.alptransit-portal.ch/de/ (Zugriff: 2.5.22).

  • BFS – Bundesamt für Statistik (2022a). Alpenquerender Güterverkehr (Gesamtverkehr 1) ) nach Ländern, online https://www.bfs.admin.ch/asset/de/18864258 (Zugriff: 2.5.22).

  • BFS – Bundesamt für Statistik (2022b). Anzahl Fahrten im alpenquerenden Strassengüterverkehr (nur Schweiz), online https://www.bfs.admin.ch/asset/de/18864259 (Zugriff: 2.5.22).

  • Hirter, Hans; Linder, Wolf (2000). Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 21. Mai 1999, Vox Nr. 70, GfS und IPW, Bern.

  • Litra (2017). Verkehrszahlen, online https://litra.ch/media/article_images/2019/02/Litra_Verkehrszahlen_2017.pdf (Zugriff: 2.5.22).

  • UVEK – Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (2022). Verkehrsverlagerung, online https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home/verkehr/verkehrsverlagerung.html (Zugriff: 2.5.22).

 

Bild: unsplash.com