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Fluch oder Segen? Die Rolle der direkten Demokratie bei der Entwicklung der Frauen- und Gleichstellungspolitik seit 1971

Anja Heidelberger, Marlène Gerber
23rd September 2022

Es gibt verschiedene prominente Beispiele für negative Auswirkungen der direktdemokratischen Instrumente auf die Gleichstellung der Frauen — man denke etwa an den langen Weg zur Einführung des Frauenstimmrechts oder der Mutterschaftsversicherung. Für eine umfassende Einschätzung der Wirkung der direkten Demokratie seit 1971 auf die Gleichstellung müssen neben diesen direkten Effekten aber auch mögliche indirekte Effekte berücksichtigt werden — so können Initiativen beispielsweise auch neue Diskussionen anstossen. Diese Effekte — direkt und indirekt — haben wir untersucht.

Gemeinhin geht man – insbesondere mit Blick auf die Ablehnung des Frauenstimmrechts 1959 – davon aus, dass die direktdemokratischen Instrumente einen negativen Effekt auf die Gleichstellung der Frauen in der Schweiz gehabt haben. So haben Gruppen, die sich weder im Parlament noch an der Urne einbringen dürfen, keine Möglichkeit, die entsprechenden Instrumente zu nutzen, gleichzeitig können sie jedoch zu ihren Ungunsten eingesetzt werden.

Auch nach 1971 gibt es gewichtige Beispiele, bei denen die rechtliche Gleichstellung der Frauen durch eine Urnenabstimmung behindert wurde – man denke etwa an den langen Weg zur Mutterschaftsversicherung und zur Fristenlösung.

Jedoch üben Volksinitiativen und Referenden nicht nur direkt durch das Ergebnis eines Urnengangs einen Einfluss auf die Rechtsetzung oder auf die Politik aus, sondern häufig auch indirekt, indem dadurch weitere Gesetzgebungsprozesse angestossen werden oder neue Themen auf die politische Agenda gelangen (Rohner 2012; Linder & Mueller 2017). Wir untersuchen nun in unserem Artikel, welche Effekte – direkte und indirekte – die direktdemokratischen Instrumente der Schweiz seit 1971 auf die Durchsetzung gleichstellungspolitischer und frauenspezifischer Anliegen ausgeübt haben.

Die indirekten Effekte direktdemokratischer Instrumente

Neben den direkten Effekten, die bei Annahme einer Volksinitiative (sog. Rechtsetzungseffekt, Linder & Mueller 2017; Rohner 2012) oder Ablehnung einer Referendumsvorlage (sog. Bremseffekt; Linder & Mueller 2017) an der Urne zu tragen kommen, können sich direktdemokratische Instrumente auch auf verschiedenste Weise indirekt auf die Politikgestaltung auswirken.

Rein die Möglichkeit des fakultativen Referendums kann dazu führen, dass es einer Gruppe oder Organisation durch ihre Referendumsfähigkeit gelingt, ihre Interessen in ein Gesetzgebungsprojekt einfliessen zu lassen. Hierbei spricht man vom Integrationseffekt des Referendums (Neidhart 1970; Kriesi 1991; Christmann 2010).

Bei Volksinitiativen können Bundesrat oder Parlament einen direkten Gegenentwurf oder einen indirekten Gegenvorschlag erarbeiten (Schwungrad- oder Verhandlungspfandeffekt; Linder und Mueller 2017), der Anliegen der Initiative teilweise berücksichtigt. 

Sowohl durch den Urnenausgang als auch den Abstimmungskampf können sich weitere indirekte Effekte zeigen: Die Annahme von Volksinitiativen, aber auch von Referendumsvorlagen kann verwandten Anliegen einen Schub verleihen, etwa dadurch, dass sie vermehrt in die politische Arena getragen werden (Erfolgseffekt).

Umgekehrt ist auch denkbar, dass die Ablehnung einer Vorlage an der Urne als Zeichen gewertet wird, dass die Zeit für die Forderung noch nicht reif ist. Insbesondere wenn eine Seite deutlich verliert, können ihre Aspirationen in diesem Bereich für die folgenden Jahre stark ausgebremst und auch seltener ins Parlament getragen werden (Niederlageeffekt).

Nicht zuletzt können mit dem Instrument der Volksinitiative neue Themen auf die politische Agenda gebracht und durch die Abstimmung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dieser sogenannte Katalysatoreffekt der Initiative (Linder & Mueller 2017) könnte somit dazu führen, dass Anliegen, die zuvor noch kaum im Parlament thematisiert worden waren, trotz Ablehnung an der Urne plötzlich vermehrt in parlamentarische Vorstösse einfliessen. Dies insbesondere dann, wenn der Abstimmungskampf sowie die Resonanz in den Medien und bei der Bevölkerung gewisse Akteure zu einer Neubeurteilung der Relevanz des Anliegens bewegten.

Messung der Effekte

Frauen bilden bekanntlich keine homogene Gruppe, sondern unterscheiden sich nicht zuletzt auch in ihren politischen Positionen, was für ihr Abstimmungsverhalten oftmals entscheidender ist als ihr Geschlecht (Lloren 2015). Dennoch gibt es Vorlagen, die die Mehrheit der Frauen stärker betreffen als andere. Wir untersuchen dazu diejenigen Vorlagen, die entweder einen Aus- oder Abbau der Rechte oder Privilegien der Frauen beinhalten oder bei denen es um die tatsächliche Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, also eine Verbreiterung der Handlungsoptionen der Frauen, geht. Für unsere Auswertung definieren wir auch, ob eine Vorlage auf einen Aus- oder einen Abbau der Rechte, Privilegien oder Handlungsoptionen von Frauen abzielt. Wir untersuchen dazu die Abstimmungsvorlagen seit 1971. Das genaue Vorgehen sowie die Messmethoden für die verschiedenen Effekte finden sich in unserem Buchbeitrag.

Resultate

In Bezug auf die Volksinitiativen ist die Schlussfolgerung zu den direkten Effekten rasch gezogen: Keiner Ausbauinitiative war ein direkter Erfolg an der Urne vergönnt, gleichzeitig fand aber auch keine Abbauinitiative je eine Mehrheit in einer Volksabstimmung. Hingegen gelang es einigen Volksinitiativen zu unterschiedlichen frauenspezifischen und gleichstellungspolitischen Anliegen, ausreichend Druck aufzusetzen, um das Parlament zur Erarbeitung von griffigen Gegenvorschlägen zu bewegen (Schwungradeffekt). So wurden zu den hier betrachteten Anliegen im Vergleich zu allen zustandegekommenen Volksinitiativen gar etwas häufiger direkte Gegenentwürfe oder indirekte Gegenvorschläge erlassen.

Häufig fanden sich nach einer Ablehnung von Vorlagen an der Urne verwandte Anliegen auch vermehrt auf der politischen Agenda des Parlaments; ein Niederlageeffekt liess sich hingegen seltener beobachten. Die Fristenlösungsinitiative entpuppte sich zudem als wichtiger Katalysator, mit dessen Hilfe die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs auch im Parlament auf die Traktandenliste gesetzt werden konnte.

Insgesamt können wir somit das von Senti (1994) gezogene Fazit zu den Auswirkungen von Volksinitiativen auf die Gleichstellungspolitik bestätigen: Auch wenn Volksinitiativen zu frauenspezifischen und gleichstellungspolitischen Anliegen kaum je angenommen oder bereits vor der Abstimmung zurückgezogen wurden, sind ihre indirekten Effekte bedeutend.

Tabelle 1: Zusammenfassung der festgestellten Effekte

    Anteil bei Aus- oder Abbauvorlagen Anteil bei allen Vorlagen
Direkter Effekt Referendum Erfolgsquote fak. Ref. Ausbau (Erfolg=Annahme) 75% 69%
Erfolgsquote obl. Ref. Ausbau (Erfolg=Annahme) 75% 75%
Erfolgsquote fak. Ref. Abbau (Erfolg=Ablehnung) 57% 31%
Erfolgsquote obl. Ref. Abbau (Erfolg=Ablehnung) 100% 25%
Indirekter Effekt
des Referendums (Ausgrenzungs- und Integrationseffekt)
Anzahl vom Parlament beschlossene Ausbauvorlagen steigt über die Zeit an Kein Vergleich möglich
Anteil Ausbauvorlagen, zu denen ein Referendum ergriffen wird, sinkt über die Zeit Kein Vergleich möglich
Anteil ergriffener Referenden zu Ausbauvorlagen 25,5%b 6,5%a
Direkter Effekt der Initiative Erfolgsquote Ausbau (Erfolg=Annahme) 0% 10%
Erfolgsquote Abbau (Erfolg=Ablehnung) 100% 90%
Ja-Stimmen-Anteil 32,9% 35,8%
Indirekter Effekt der Initiative (Schwungrad-effekt) Anteil direkte Gegenentwürfe 8,3% 7,9%
Anteil indirekter Gegenvorschläge

(mit Rückzug der Initiative)

13,0% 9,1%
Erfolgseffekt Urnenerfolge wirkten sich mehrfach positiv auf verwandte Forderungen aus, allerdings waren diese kaum von direktem Erfolg gekrönt. Kein Vergleich möglich
Niederlageeffekt Urnenmisserfolge wirkten sich nur bei Quoteninitiative abschreckend aus, sowie bei Ofra teilweise (Elternurlaub) Kein Vergleich möglich
Katalysatoreffekt Ein Katalysatoreffekt lässt sich im Untersuchungszeitraum für die Fristenlösungsinitiative nachweisen Kein Vergleich möglich

Anmerkungen: aDieser Wert stammt aus Vatter (2020, 358 f.) und bezieht sich auf die Jahre 1971–2019. bZum besseren Vergleich bezieht sich dieser Wert auf den Zeitraum 1971–2019. Quellen: Swissvotes (2021), Bundeskanzlei (2022), eigene Berechnungen (indirekte Effekte des Referendums, Schwungradeffekt).

Das fakultative Referendum erweist sich in unserem Artikel als zweischneidiges Schwert. So wurden bis Ende der 1990er Jahre zentrale frauenspezifische und gleichstellungspolitische Anliegen (v.a. Fristenlösung und Mutterschaftsversicherung) dadurch massgeblich gebremst. Seit dem Jahr 2000 waren hingegen alle Ausbauvorlagen in fakultativen Referendumsabstimmungen erfolgreich. Zudem konnte das Referendum bisher auch mehrheitlich erfolgreich als Waffe gegen Vorlagen eingesetzt werden, die einen Abbau der Rechte und Privilegien der Frauen bedeutet hätten (siehe auch Vatter & Danaci 2010).

So zeigt Tabelle 1 auf, dass frauenspezifische und gleichstellungspolitische Vorlagen verglichen mit den übrigen Vorlagen seit 1971 insgesamt vergleichsweise erfolgreich waren. Ausbauvorlagen, gegen die ein fakultatives Referendum ergriffen worden war, wurden häufiger angenommen als alle anderen Vorlagen (75% zu 69%), während Abbauvorlagen häufiger abgelehnt wurden (57% zu 31%). Gleichzeitig wurde aber zu Ausbauvorlagen auch deutlich häufiger das fakultative Referendum ergriffen als zu allen in demselben Zeitraum durch das Parlament bearbeiteten Vorlagen (25.5% zu 6.5%).

Seit den 1980er Jahren werden frauenspezifische und gleichstellungspolitische Anliegen auch vermehrt in Parlamentsbeschlüsse aufgenommen – somit können sich diese Anliegen auch neben der Abstimmungsurne verstärkt durchsetzen, was auf eine stärkere perzipierte Referendumsfähigkeit und somit stärkere indirekte Effekte des Referendums zugunsten von Ausbauanliegen hindeutet. Weiter erweist sich der Anteil an Ausbauvorlagen, gegen die das fakultative Referendum ergriffen worden war, seit der Jahrtausendwende bisher als stark rückläufig.

Unsere Ergebnisse deuten somit darauf hin, dass sich Gleichstellungsbefürworter:innen je länger je mehr zu einer starken politischen Kraft entwickeln, die ihre Interessen an der Urne durchzusetzen vermögen, während gleichzeitig ihre Referendumsfähigkeit – also die Glaubwürdigkeit ihrer Referendumsdrohung – und somit auch ihre Handlungsmacht innerhalb des Parlaments steigt.


Hinweis: Dieser Beitrag ist die schriftliche Kurzfassung des Buchkapitels «Fluch oder Segen? Die Rolle der direkten Demokratie bei der Entwicklung der Frauen- und Gleichstellungspolitik seit 1971», in: Schaub Hans-Peter/Bühlmann Marc (Hrsg.). Direkte Demokratie in der Schweiz, Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung. Zürich: Seismo.

Bild: pixabay.com