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Wer soll bei nationalen Wahlen mitbestimmen dürfen?

Joachim Blatter, Samuel D. Schmid, Elie Michel
22nd August 2022

Die Frage, wer zum Stimmvolk gehören soll, bringt ganz unterschiedliche Vorstellungen in europäischen Ländern zum Vorschein: Emigrant:innen? Immigrant:innen? Beide? Oder weder noch? Wir zeigen im Folgenden die Erkenntnisse aus einer vergleichenden Befragung im Detail auf.

Erneut heftige politische Auseinandersetzungen um die Ausweitung des Stimm- bzw. Wahlvolkes

In den letzten Jahrzehnten unternahmen viele Demokratien Schritte zur Ausweitung des Wahl- und Stimmrechtes auf weitere Bevölkerungsgruppen. Dabei ging es nicht um die Überwindung von Klassen- und Geschlechtergrenzen, sondern um die Frage, ob und wo Migranten mitstimmen dürfen. In der westlichen Welt zeigt sich ein gesetzlicher Trend zur Inklusion von Emigrant:innen (Auslandsbürger:innen) auf der nationalen Ebene und von Immigrant:innen (ausländische Bewohner:innen) auf der lokalen Ebene (Arrighi und Bauböck 2017). Allerdings sind diese Ausweitungen des Stimmvolkes politisch genauso heftig umstritten wie die früheren Inklusionsschritte.

Fast immer wird die Entscheidung, wer mitstimmen darf, von Parlamenten getroffen – die aktuell Gewählten entscheiden also über die zukünftige Zusammensetzung des Stimmvolkes – wodurch sich nicht nur in den USA die gefährliche Versuchung ergibt, dass sich die Regierenden ihr Volk wählen und nicht umgekehrt. In den wenigen Fällen, in denen das Volk gefragt wurde (v.a. in der Schweiz und in Luxemburg), zeigte sich die «Ingroup» kaum bereit, diejenigen, die auch den Gesetzen des Landes unterworfen sind (die ausländische Bevölkerung) in der Form eines Ausländer:innenstimmrechts mitbestimmen zu lassen. Die Vergabe des Wahlrechts an Auslandsbürger:innen erfolgte immer ohne direkte Zustimmung des Volkes. Dort, wo das Volk dies in einer Volksabstimmung abgelehnt hat (in Ungarn), wurde es von der Regierung Orban trotzdem eingeführt. U.a. diese externen Wähler:innen verhalfen ihm dann zu einer so grossen Mehrheit, dass er das Land zu einer «illiberalen Demokratie» umbauen konnte.

Europaweiter Survey beginnt Wissenslücken zu schliessen und notwendige Verbindungen herzustellen

Insgesamt wissen wir aber sehr wenig darüber, was die Bevölkerung darüber denkt, ob und wo Migrant:innen oder ethnische Minderheiten in Nachbarsländern mitstimmen dürfen. Ausserdem wird sehr oft die Frage der Inklusion von Immigrant:innen (ausländischen Bewohner:innen) völlig unabhängig von der Frage der Inklusion der Emigrant:innen (Auslandsbürger:innen) diskutiert, obwohl Migrant:innen immer gleichzeitig Emigrant:innen und Immigrant:innen sind. In einem vom Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt (Projektnummer: 100027_172651/1) mit dem Titel «Towards Transnational Voting in Europe!?» haben wir begonnen, diese Wissenslücken zu schliessen und dabei die notwendigen Verbindungen zwischen Emigration und Immigration herzustellen.

Die Studie
In Zusammenarbeit mit DEMOScope und seinen europäischen Partnerinstitutionen führten wir im Mai 2019 in 26 europäischen Ländern (25 EU Ländern und der Schweiz) eine repräsentative Umfrage durch. Insgesamt nahmen 16,555 Personen an der Umfrage teil (ungefähr 1000 Personen in grösseren Ländern und ungefähr 500 Personen in kleineren Ländern, wobei sichergestellt wurde, dass nur Personen teilnahmen, die in dem Land stimmberechtigt sind; d.h. unserer Umfrage bildet die Meinung der unumstrittenen «Ingroup» ab). Die Umfrageergebnisse haben wir bei FORS deponiert und für die weitere Verwendung zugänglich gemacht (Michel und Blatter 2021)..

Empirische Ergebnisse

Die Umfrage erbrachte die folgenden ersten Erkenntnisse (vgl. Abbildung 1):

  • Eine relative Mehrheit der Europäer:innen wollen alle Staatsbürger:innen mitwählen lassen, unabhängig davon, wo sie wohnen (39,1%), aber ein erheblicher Anteil will das nationale Wahlrecht auf die Bürger:innen beschränken, die auch im Land wohnen (27,9%).
  • Von denjenigen, die für ein Ausländer- bzw. Bewohner:innen-Wahlrecht sind (insgesamt 33%) möchte ein grösserer Anteil diese Ausweitung nicht auf die Immigrant:innen beschränken (14,4%), sondern sondern die Emigrant:innen gleichzeitig inkludieren (18,6%).
Abbildung 1: Zustimmung zu verschieden Möglichkeiten der elektoralen Inklusion in Europa

Darüber hinaus wurde deutlich, wie stark sich die Ansichten der «Ingroups» in den verschiedenen Ländern Europas unterscheiden (vgl. Abbildung 2):

  • Während über zwei Drittel der Rumän:innen die Inklusion der Auslandsrumän:innen (nicht aber der ausländischen Bewohner:innen) befürworten, sind dies in Kroatien gerade einmal 12%. Dies ist insbesondere deswegen bemerkenswert, weil in Rumänien die Auslandsbürger:innen aufgrund ihrer Anzahl einen noch grösseren Einfluss auf die Wahlergebnisse haben als in Kroatien.
  • In Irland und Italien (zwei traditionelle Auswanderungsländer) würde ein relativ grosser Anteil der Befragten zwar den ausländischen Bewohner:innen das nationale Wahlrecht geben aber nicht den Auslandsbürger:innen (Italien praktiziert Letzteres seit langem, in Irland sind dagegen alle Vorstösse in diese Richtung im Parlament abgelehnt worden). In vielen osteuropäischen Ländern gibt es dagegen nur ganz minimale Zustimmung für ein solche «territorial definiertes» Stimmvolk.
  • Eine besonders hohe Varianz zwischen den Ländern zeigt sich auch bei der Zustimmung für eine exklusive Regelung, in der nur die Staatsangehörigen wählen dürfen, die auch im Land wohnen. In Ungarn findet eine solch exklusive Regelung des Stimmvolks eine absolute Mehrheit, während sie insbesondere in den südeuropäischen Ländern kaum Unterstützung findet.
  • Vor allem bei den Südeuropäer:innen findet dagegen eine generell inklusive Regulierung relativ grosse Unterstützung, während sie in Osteuropa, aber z.B. auch in Deutschland oder Dänemark kaum Unterstützung findet.
Abbildung 2: Zustimmungsanteile zu verschieden Wahlrechtsverteilungen in europäischen Ländern (in Prozent)

Weitergehende Analysen

In zwei wissenschaftlichen Aufsätzen haben wir diese empirischen Erkenntnisse eingeordnet und erste weitergehende Analysen geliefert:

  • Im Aufsatz «Enfrachisement regimes beyond de-territorialization and post-nationalism» (2022) haben wir auf die inhärenten Implikationen einer unkoordinierten Ausweitung des Wahl- und Stimmrechtes über die Grenzen des Staatsterritoriums und der Staatsbürgerschaft hinaus hingewiesen. Diese Entwicklung geht mit einem weltweiten Trend zur Anerkennung und Verbreitung der Doppelten Staatsbürgerschaft einher (jede/r vierte Schweizer:in ist bereits Mehrfachbürger:in, vgl. Blatter, Sochin D’Elia, und Buess 2018). Gemeinsam unterminieren bzw. überwinden (je nach Standpunkt) diese Entwicklungen das sogenannte Westphälischen System der Internationalen Ordnung, in dem es eine Übereinstimmung zwischen Staatsterritorium, dem Staatsvolk, und der staatlichen Gewalt gab. Wir argumentieren, dass bei einer bewussten und gemeinsamen Gestaltung dieser Entwicklungen die Demokratien (insbesondere) in Europa die Vorteile dieser Entwicklung nutzen können, denn auch die Staatsgewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Staatliche Herrschaft wird nicht mehr in einer rechtlich autonomen Weise auf einem klar eingegrenzten Territorium über ein Volk ausgeübt, bei dem alle Bewohner:innen auch gleichzeitig Bürger:innen sind. Stattdessen kennzeichnet sich staatliche Herrschaft auch durch vielfältige grenzüberschreitende Verflechtungen, Wettbewerb und Kooperation aus. Durch eine bewusste und gemeinsame Gestaltung des Systems von sich überlappenden Wahlvölkern könnte die Form des «demos» wieder der aktuellen Form des «kratos» angeglichen werden. In der aktuellen ungeregelten Form ist allerdings zu erwarten, dass eine der ganz grossen Errungenschaften der nationalstaatlichen Demokratie (die formale politische Gleichheit, die sich durch den slogan «one person, one vote» ausdrückt) in Gefahr. Während einige mobile Menschen damit konfrontiert sind, dass sie weder im Herkunfts- noch im Aufenthaltsland mitstimmen können, kann eine zunehmende Anzahl von Doppelbürger:innen und mobilen Menschen in mehreren Ländern mitstimmen. Damit dies nicht zu weiterem Ressentiment der sesshaften Einfachbürger:innen führt, plädieren wir dafür, dass Demokratien einen konstitutionellen Prozess beginnen, in dem sie allen ihren Bürger:innen gegenseitig das Recht einräumen, bei den nationalen Wahlen des anderen Landes eine beschränkte Anzahl von Repräsentanten zu wählen (wie dies in Ländern wie Italien für die Auslandsbürger:innen der Fall ist) – vgl. DeFacto-Beitrag: Neuer Vorschlag zur Demokratisierung der EU.

 

  • Im Aufsatz «Enfranchising immigrants and/or emigrants?» (2021) haben wir untersucht, welche individuellen Faktoren mit einer höheren Unterstützung der Inklusion von ausländischen Bewohner:innen und welche mit einer höheren Unterstützung für Stimmrecht von Auslandsbürger:innen verbunden sind. Während sich bei der Unterstützung der Inklusion von ausländischen Bewohner:innen ein erwartbares Bild zeigt (Frauen, Doppelbürger:innen, jüngere Menschen und links-orientierte Wähler:innen sind eher dafür als Männer, Einfachbürger:innen, ältere Menschen und rechts-orientierte Wähler:innen), gibt es auf der indiviuellen Ebene kaum Faktoren, welche einen Einfluss auf die Unterstützung der Inklusion der Auslandsbürger:innen haben (Ausnahme: ältere Menschen sind eher dafür als jüngere). Darüber hinaus gab es weitere überraschende Erkenntnisse, die z.B. bisherigen Analysen widersprechen. So sind diejenigen Europäer:innen, die sich ausschliesslich mit ihrer Nation identifizieren, nicht etwa nur stärker gegen die Inklusion von ausländischen Bewohner:innen als diejenigen, die sich entweder ausschliesslich mit Europa oder gleichzeitig mit Europa und ihrer Nation identifizieren, sondern auch stärker gegen die Inklusion von Staatsbürger:innen, die sich im Ausland aufhalten. Im Gegensatz zu anderen Studien finden wir in unserer Erhebung einen positiven Zusammenhang zwischen der relativen Grösse der Immigrationsgruppe und der Bereitschaft, dieser Gruppe ein Stimmrecht zu geben.

Um noch klarer zu eruieren, warum die Haupterklärungen für die unterschiedliche Einstellung der Europäer:innen zu den «Grenzen des demos» auf nationalstaatliche Faktoren statt individuelle Merkmale zurückzuführen sind, führen wir weitere verschiedene innovative Fallstudien durch. Diese werden uns helfen zu verstehen, welche Faktoren in welcher Weise dazu beitragen, dass Migranten das Stimmrecht erhalten (oder nicht) und wie sich diese verschiedenen «Erweiterungen des Volkes» auf gegenwärtige Demokratien und deren Funktionsweise auswirken.


Quellen:

Referenzen:

  • Arrighi, Jean-Thomas und Rainer Bauböck. ‘A Multilevel Puzzle: Migrants’ Voting Rights in National and Local Elections’. European Journal of Political Research 56, no. 3 (2017): 619–39.
  • Blatter, Joachim, Martina Sochin D’Elia und Micheal Buess (2018): Bürgerschaft und Demokratie in Zeiten transnationaler Migration: Hintergründe, Chancen und Risiken der Doppelbürgerschaft. Studie im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission (Herausgeberschaft).

 

Bild: Unsplash