Schweizer Bürger:innen entscheiden regelmässig an der Urne über mögliche Gemeindefusionen. Sie treffen diese Entscheidungen entweder in Volksabstimmungen oder in Gemeindeversammlungen. Beeinflussen diese verschiedenen politischen Prozesse die Art der Entscheidungen? Anhand einer Analyse aller Entscheidungen über Gemeindefusionen in der Schweiz seit 1999 zeigen wir, dass bei Urnenentscheiden grössere Uneinigkeit herrscht als bei Versammlungsentscheiden. Dieses Ergebnis lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Bürger:innen, die mit der Mehrheit nicht einverstanden sind, an Urnenabstimmungen eher teilnehmen als an Versammlungen.
Die Art und Weise, wie wir über bestimmte politische Fragen entscheiden – einzeln oder in der Gruppe, mit oder ohne Informationen, etc. – kann den Inhalt unserer kollektiven Entscheide beeinflussen. Die Art und Ursachen solcher Einflüsse zu verstehen ist wichtig, um zu bestimmen, welche Art von Prozessen in demokratischen Systemen implementiert werden sollten.
Warum Gemeindeversammlungen zu höherer Einigkeit führen könnten als Urnenabstimmungen
In der Demokratietheorie wird oft angenommen, dass Entscheidungen, die in einer Versammlung von Bürger:innen getroffen werden, die sich in einem Raum versammeln, weniger voneinander abweichen als Entscheidungen, die an der Urne von einzelnen Bürger:innen getroffen werden. Dies kann auf zwei Typen von Mechanismen zurückgeführt werden.
Beim ersten Typ handelt es sich um «interne» Mechanismen, die dem Ablauf der Versammlungen eigen sind. Die Tatsache, dass die Teilnehmer:innen am selben Ort versammelt sind, kann die Einigkeit unter ihnen fördern, weil die physische Nähe es ihnen beispielsweise ermöglicht, die Positionen ihrer andersdenkenden Mitbürger:innen besser zu verstehen, oder weil alle während der Versammlung dieselben Informationen erhalten haben.
Physische Nähe kann jedoch auch negative Auswirkungen haben, weil sie die Möglichkeit verstärkt, dass sozialer Druck ausgeübt wird, der Meinungsverschiedenheiten unterdrückt, so dass es die Teilnehmer:innen einer Versammlung nicht wagen, ihre abweichende Meinung in einer nicht geheimen Abstimmung auszudrücken, oder wenn die Informationen, die sie erhalten, bestimmte Positionen marginalisieren. In beiden Fällen stützt der Unterschied, dass Bürger:innen einander in Versammlungen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen, in Urnenabstimmungen jedoch nicht, die Annahme, dass die Ergebnisse von Versammlungen mit höherer Einigkeit getroffen werden.
Der zweite Mechanismus ist ein «externer». Er betrifft die Frage, wer sich für die Teilnahme an Abstimmungen oder Versammlungen entscheidet und wer sich von ihnen fernhält – die Teilnahme an Urnenabstimmungen und Versammlungen erfolgt auf freiwilliger Basis. Da es beispielsweise länger dauern kann, an einer Versammlung teilzunehmen, als per Stimmzettel abzustimmen, und die Teilnehmer:innen gezwungen sind, öffentlich abzustimmen, ist es möglich, dass sich weniger Menschen für die Teilnahme an einer Versammlung als an der Urne entscheiden – vor allem unter denjenigen, die glauben, mit der Mehrheit der Stimmenden nicht einverstanden zu sein.
Diese Form der Selbstselektion (oder De-Selektion) kann bedeuten, dass die Vielfalt der, in der breiteren Gesellschaft vorhandenen, Perspektiven in Versammlungen weniger stark vertreten ist als bei Urnenabstimmungen, besonders wenn die Personen, die sich für die Teilnahme an Versammlungen entscheiden, schon vor ihrer Teilnahme ähnliche Meinungen vertreten. Dieser externe Mechanismus kann also auch erklären, warum die Ergebnisse von Versammlungen weniger kontrovers sind als die Ergebnisse von Urnenabstimmungen.
Eine Analyse der Volksentscheide zu Gemeindefusionen in der Schweiz
Trifft diese Annahme in der Praxis zu? Um dies herauszufinden, haben wir die Ergebnisse von 1’400 Entscheidungen untersucht, die seit 1999 von Schweizer Bürger:innen zu derselben Frage getroffen wurden: Soll ihre Gemeinde mit einer oder mehreren anderen Gemeinden fusionieren?
Die Umsetzung von Gemeindefusionsprojekten erfordert in der Schweiz nämlich die Unterstützung einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in jeder beteiligten Gemeinde. Die Stimmberechtigten können ihre Entscheidung entweder in einer Urnenabstimmung (in diesem Fall können sie per Brief oder durch Einwerfen des Stimmzettels in die Urne abstimmen) oder an einer Gemeindeversammlung (in diesem Fall erhalten sie Informationen von den lokalen Behörden, können sich an einer Diskussion beteiligen und stimmen nicht geheim ab) treffen. Die Wahl des einen oder anderen Entscheidungsprozesses wird durch kantonale oder kommunale Gesetze bestimmt.
Mit unseren Daten können wir nachvollziehen, welche Entscheidungen in der Gemeindeversammlung oder an der Wahlurne getroffen wurden und wie das genaue Abstimmungsergebnis lautete. Dadurch können wir zwischen kontroversen Entscheidungen, bei denen das Ergebnis nahe bei 50 % (Ja- oder Nein-Stimmen) liegt, und Entscheidungen mit höherer Einigkeit, bei denen das Ergebnis näher bei 100 % liegt, unterscheiden. Je größer die Mehrheit, die eine Entscheidung unterstützt, desto höher ist der Grad der Einigkeit dieser Entscheidung.
Abbildung 1. Verteilung des Grades der Einigkeit in Urnen- und Versammlungsentscheiden
Entscheidungen, die in Gemeindeversammlungen getroffen werden, sind weniger kontrovers…
Wie in der Demokratietheorie erwartet, zeigt unsere Analyse, dass Gemeindefusionen zwar sowohl in Gemeindeversammlungen als auch in Urnenabstimmungen mehrheitlich angenommen werden, Versammlungsentscheide von den Teilnehmer:innen jedoch weitaus häufiger einstimmig getroffen werden als Urnenabstimmungen (Abbildung 1). Genauer gesagt wurden mehr als 16 Prozent aller in Versammlungen getroffenen Entscheide (rund 67 von insgesamt 416 Entscheiden) ohne Gegenstimme getroffen. An der Urne hingegen gab es praktisch keine einstimmigen Entscheide.
… weil nur bestimmte Personen teilnehmen (und andere nicht)
Wie lässt sich dieses Ergebnis erklären? Welcher Mechanismus ist dafür verantwortlich? Um den Zusammenhang zwischen der Art des Entscheidungsprozesses und dem Grad der Einigkeit über eine Entscheidung genauer zu untersuchen, haben wir verschiedene Regressionsmodelle berechnet (siehe Kasten «Methodisches Vorgehen»). Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse dieser Analysen.
In einem bivariaten Regressionsmodell, das nur den Grad der Einigkeit und die Information über die Entscheidung an der Urne oder in der Versammlung umfasst, zeigt sich, dass Versammlungsentscheide im Durchschnitt um neun Prozentpunkte einstimmiger ausfallen als Entscheidungen, die in Abstimmungen getroffen werden. In einer multivariaten Analyse, die auch andere Faktoren einbezieht, welche den Grad der Einigkeit erklären könnten, ist dieser Unterschied etwas geringer, beträgt aber immer noch 5,6 Prozentpunkte. Wenn man jedoch die Wahlbeteiligung in das Modell einbezieht, verschwindet dieser Unterschied zwischen den Ergebnissen der Gemeindeversammlungen und den Abstimmungen. Der Grad der Einigkeit ist bei Entscheidungen, die in Versammlungen getroffen werden, sogar etwas geringer als bei Entscheidungen, die an der Urne getroffen werden.
Abbildung 2. Regressionsanalyse: Grad der Einigkeit
Wie kann man dieses Ergebnis interpretieren? Die plausibelste Erklärung in diesem Fall ist eine sogenannte «Mediation». Dabei handelt es sich um eine Situation, in der die kausale Wirkung einer Variable auf eine andere indirekt ist. Sie läuft über eine dritte Variable, die als Vermittlerin fungiert.
In unserem Fall ist diese dritte Variable die Beteiligung. Dies ist in Abbildung 3 zu sehen: An Gemeindeversammlungen nehmen weniger Stimmberechtigte teil als an Urnenabstimmungen; und eine höhere Beteiligung führt zu einem geringeren Grad an Einigkeit. Genauer gesagt ist die Beteiligung an Versammlungen, in denen Entscheidungen über Gemeindefusionen getroffen wurden, um fast 27 Prozentpunkte niedriger als die Beteiligung an Urnenabstimmungen zum selben Thema. Und für jeden zusätzlichen Prozentpunkt Beteiligung sinkt der Grad der Einigkeit um 0,35 Prozentpunkte. Somit hat die Verwendung des einen anstelle des anderen Entscheidungsprozesses einen indirekten Einfluss, über die Beteiligungsquote, von 9,4 Prozentpunkten (26,86*0,35) auf den Grad der Einigkeit.
Abbildung 3. Mediationsanalyse
Wer nimmt nicht teil?
Dieses Ergebnis legt nahe, dass der externe Mechanismus eine große Rolle bei der Erklärung des höheren Grades an Einigkeit in Gemeindeversammlungen als bei Urnenabstimmungen spielt. Mit anderen Worten: An den Versammlungen nehmen weniger Bürger:innen teil, die nicht mit der Mehrheit übereinstimmen, als an Urnenabstimmungen.
Das kann daran liegen, dass sie der Meinung sind, dass Gemeindeversammlungen zu viel Zeit oder logistischen Aufwand erfordern, beispielsweise um Kinderbetreuung zu organisieren, oder daran, dass sie es nicht riskieren wollen, öffentlich gegen die Mehrheit zu stimmen. In jedem Fall relativieren unsere Ergebnisse die Bedeutung der internen Mechanismen an Versammlungen – wie zum Beispiel die Rolle der physischen Nähe zu den Mitbürger:innen oder die Stärke des besseren Arguments – für die Erklärung der größeren Einigkeit in Versammlungen im Vergleich zu Urnenentscheiden.
Interne Mechanismen wirken sich trotzdem auf die Einstimmigkeit aus
Dennoch sollten wir solche internen Mechanismen nicht völlig außer Acht lassen. Wenn wir nämlich nur zwischen einstimmigen und nicht einstimmigen Entscheidungen unterscheiden, stellen wir fest, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entscheidung vollkommen einstimmig getroffen wird, in Gemeindeversammlungen um 2,5 Prozentpunkte höher ist als an der Wahlurne – selbst wenn wir für die Beteiligung kontrollieren (Abbildung 4).
Dies ist ein relativ großer Effekt, wenn man bedenkt, dass nur knapp 6% aller Gemeindefusionsentscheide einstimmig getroffen wurden. Er legt nahe, dass, auch wenn die Selbstselektion der Teilnehmer:innen den Großteil des Unterschieds im Grad der Einigkeit zwischen Versammlungs- und Urnenentscheidungen erklärt, die einstimmigen Entscheidungen eher von den internen Mechanismen der Versammlungen abhängen. Unsere Daten erlauben uns jedoch keine Aussage darüber, ob es sich dabei um Dynamiken der Konsensbildung oder des sozialen Drucks handelt.
Abbildung 4. Regressionsanalyse: Einstimmigkeit
Die Inklusion stärken
Unsere Studie legt also nahe, dass partizipative Entscheidungsfindungsprozesse einen klaren Effekt auf die Art der getroffenen Entscheidungen haben: An Gemeindeversammlungen getroffene Entscheide sind einstimmiger als in Urnenabstimmungen getroffene. Im Fall der Entscheidfindung zu Schweizer Gemeindefusionen lässt sich dieses Ergebnis vor allem dadurch erklären, dass Bürger:innen, die eine von der Mehrheit abweichende Meinung haben, an Versammlungen weniger teilnehmen als an Urnenabstimmungen.
Dies deutet auf eine demokratische Schwäche hin: die Perspektive einiger Bürger:innen wird in Versammlungen nicht angemessen repräsentiert – was sich auf den Inhalt der Entscheidungen, aber auch auf die Art der Debatten vor der Abstimmung auswirken kann. Während die Gründe, warum bestimmte Bürger:innen den Versammlungen fernbleiben, noch zu erforschen sind, sollten Gemeindeversammlungen so konzipiert und ihr Ablauf so strukturiert werden, dass sich die Barrieren für die Teilnahme verringern und die demokratische Inklusion gestärkt wird.
Referenz:
- el-Wakil, Alice, and Michael A. Strebel. 2022. “Participatory Processes and their Outcomes: Comparing Assembly and Popular Vote Decisions.” European Political Science Review (online first). DOI: 10.1017/S1755773922000157