Eine #NeueSchweiz – für alle, die hier sind und noch kommen werden: Teil II

Der post­mi­gran­ti­sche Think & Act Tank Insti­tut Neue Schweiz INES steht für eine viel­stim­mi­ge und soli­da­ri­sche, selbst­kri­ti­sche und ergeb­nis­of­fe­ne #Neue­Schweiz, die das Den­ken in «Wir» und «Ihr» über­win­det. Das soeben erschie­ne­ne gleich­na­mi­ge Hand­buch von INES bie­tet eine Stand­ort­be­stim­mung zu lau­fen­den post­mi­gran­ti­schen, ras­sis­mus­kri­ti­schen und inter­sek­tio­na­len Debat­ten. Doch wie ent­stand INES? Und wel­che Visio­nen für unse­re Demo­kra­tie wer­den im Hand­buch formuliert? 

Das Insti­tut Neue Schweiz INES reiht sich ein in die Tra­di­ti­on zahl­rei­cher Initia­ti­ven. Seit den späteren 1960er-Jah­ren setz­ten sich in der Mit­en­and-Bewe­gung Men­schen mit und ohne Schwei­zer Staatsangehörigkeit mit der gleich­na­mi­gen Volks­in­itia­ti­ve für eine mensch­li­che Ein­wan­de­rungs­po­li­tik ein. Die Volks­in­itia­ti­ve schei­ter­te an der Urne, aber aus der Bewe­gung gin­gen vie­le wei­te­re soli­da­ri­sche Pro­jek­te her­vor: etwa die Asyl­be­we­gung, migran­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen, Sans-Papiers-Solidarität und die Bewe­gun­gen der soge­nann­ten Second@s. Im his­to­ri­schen Rückblick zeigt sich, dass in den letz­ten Jahr­zehn­ten viel von ihnen erreicht wurde.

Zentrale Fragen bleiben ungelöst

Die post­mi­gran­ti­sche Gesell­schaft bleibt jedoch geprägt von Mehr­deu­tig­kei­ten und Wider­sprü­chen. Der Auf­bau des Asyl­re­gimes seit den 1990er-Jah­ren hat neue For­men des Aus­schlus­ses und des Ras­sis­mus pro­du­ziert. So wie im «Kampf gegen Ter­ro­ris­mus» seit 9/11 neue Sicher­heits­dis­po­si­ti­ve als mus­li­misch wahr­ge­nom­me­ne Men­schen stig­ma­ti­sie­ren. Inte­gra­ti­ons­po­li­tisch waren hin­ge­gen auch Fort­schrit­te zu ver­zeich­nen. Der Staat über­nahm Ver­ant­wor­tung und gewähr­te sei­ner migran­ti­schen Bevölkerung Zugang zu Dienst­leis­tun­gen und Res­sour­cen. Ande­rer­seits wur­den in den Begriff der Inte­gra­ti­on – einst ein Schlacht­ruf der Mit­en­and-Bewe­gung – alte Überfremdungsängste und Assi­mi­la­ti­ons­im­pe­ra­ti­ve ein­ge­schrie­ben. Die Fra­ge, wie das Verhältnis von Staatsangehörigkeit, Bürger*innenschaft und Teil­ha­be gestal­tet wird, ist längst nicht geklärt. Was es braucht, ist ein breit ange­leg­tes Verständnis von Citi­zenship bzw. einer Citoy­enne­té in der Neu­en Schweiz.

Missstände aufzeigen und Brücken bauen

Was aber bedeu­tet eine Demo­kra­ti­sie­rung der Schwei­zer Demo­kra­tie im Zeit­al­ter von Migra­ti­on und Glo­ba­li­sie­rung? Wie können natio­nal­staat­li­che Grenz­zie­hun­gen infra­ge gestellt wer­den, ohne den Natio­nal­staat als poli­ti­sches Pro­jekt und Bezugs­rah­men für eman­zi­pa­to­ri­sche Anlie­gen auf­zu­ge­ben? Wie kann die Schweiz ihre Ver­ant­wor­tung als glo­ba­le Playe­rin wahr­neh­men und dabei loka­le, natio­na­le und glo­ba­le Solidarität unterstützen? Wie können Ras­sis­mus und kolo­nia­le Nach­wir­kun­gen in der heu­ti­gen Schweiz the­ma­ti­siert wer­den, ohne Spal­tun­gen ent­lang von Identität, Haut­far­be, sozia­ler Grup­pe und religiöser Welt­an­schau­ung zu ver­tie­fen oder gar fest­zu­schrei­ben? Und all­ge­mein: Wie können Missstände auf­ge­zeigt und gleich­zei­tig Brücken gebaut werden?

Auf dem Weg zu einer NEUEN SCHWEIZ

Im Gründungsjahr 2016 initi­ier­te INES unter­schied­lichs­te Stand­ort­be­stim­mun­gen der post­mi­gran­ti­schen Schweiz. Seit­dem ist eini­ges pas­siert: In Basel, Bern, Genf, St. Gal­len und Zürich wur­den Ana­ly­sen und Pro­jek­te zu den Berei­chen Medi­en, Recht, Kul­tur und Bil­dung ent­wi­ckelt und Late Night Shows zu ver­schie­de­nen The­men ver­an­stal­tet. Der Ver­ein Neue Schwei­zer Medienmacher*innen NCHM* ent­stand eben­so wie die Akti­on Vier­vier­tel, die sich für eine grund­le­gen­de Bürgerrechtsreform stark­macht. INES lan­cier­te mit der Stif­tung Mer­ca­tor zudem ein Pro­jekt zur Förderung der Chan­cen­gleich­heit von Schüler*innen mit Migra­ti­ons­bio­gra­fie und Ras­sis­muser­fah­rung. INES koope­rier­te wei­ter mit der Kaser­ne Basel und dem Lite­ra­tur­haus Basel im Pro­jekt «Ate­lier Neue Schweiz Basel» und ver­an­stal­te­te am Thea­ter Gess­ne­ral­lee eine Aus­ein­an­der­set­zung mit Demo­kra­tie und Viel­falt in der Kul­tur sowie im Thea­ter Neu­markt eine selbst­kri­ti­sche Refle­xi­on anti­ras­sis­ti­schen Enga­ge­ments mit der Rei­he Un/Safe Spaces.

Der auf ein brei­tes und jun­ges Publi­kum aus­ge­rich­te­te Ver­ein «Friends of INES» (FrI­NES) wirk­te unter ande­rem am Auf­bau des Kol­lek­tivs Ost­schweiz mit Migra­ti­ons­vor­sprung mit. Die­ses Kol­lek­tiv macht die Per­spek­ti­ve von Men­schen mit Migra­ti­ons­ge­schich­te und Ras­sis­muser­fah­rung sicht­ba­rer, unter ande­rem mit der ers­ten Schwei­zer Talk­show aus dem «Migra­ti­ons­un­ter­grund»: We Talk. Schweiz unge­fil­tert.

Für ein gerechtes Bürgerrecht und globale Verantwortung

Ein Wan­del der Vor­stel­lun­gen von Zugehörigkeit in einer post­mi­gran­ti­schen Schweiz soll­te mit einem insti­tu­tio­nel­len Wan­del und einer Anpas­sung recht­li­cher Grund­la­gen ein­her­ge­hen. So geht es etwa beim Bürgerrecht nicht nur um sym­bo­li­sche, son­dern auch um exis­ten­zi­el­le Fra­gen, etwa bezüg­lich der Auf­ent­halts- und sozia­len Sicher­heit oder des Zugangs zum Woh­nungs- und Arbeits­markt, Bil­dung und Gesund­heits­an­ge­bo­ten. Es gilt, aus einer Geschich­te zu ler­nen, in der fun­da­men­ta­le Grund- und Men­schen­rech­te von Migrant*innen immer wie­der ver­letzt wor­den sind, etwa im Fall der soge­nann­ten «ver­steck­ten Kin­der» der ita­lie­ni­schen «Gast»-Arbeiterfamilien in den 1970er-Jah­ren. Die Auf­ar­bei­tung die­ser gewalt­vol­len Pra­xis würde hof­fent­lich auf­zei­gen, dass die Kin­der- und Fami­li­en­rech­te, gera­de im Asyl­sys­tem, in der Not­hil­fe oder bei Sans-Papiers wei­ter­hin all­zu oft ver­letzt werden.

Das vor­lie­gen­de Hand­buch wirft auch einen Blick auf die glo­ba­len Ver­flech­tun­gen der Schweiz und ihre Mit­ver­ant­wor­tung für inter­na­tio­na­le Wohlstandsgefälle und Ungleich­heit. Die Neue Schweiz endet nicht an den Lan­des­gren­zen und der Reich­tum und der hohe Lebens­stan­dard hängen zum Gross­teil von anders­wo gewon­ne­nen und ver­ar­bei­te­ten Res­sour­cen ab. Dies zeigt sich etwa dar­in, dass die Schweiz Dreh­schei­be des welt­wei­ten Roh­stoff­han­dels und ein siche­rer Hafen für Steu­er­flucht und Gel­der von Glo­ba­li­sie­rungs­ge­win­nern und autoritären Regimes ist.

Gleich­zei­tig ist die Schweiz wirt­schaft­lich auf Ein­wan­de­rung ange­wie­sen und dabei Teil des Europäischen Migra­ti­ons­re­gimes, das auf Binnenfreizügigkeit inner­halb der EU und selek­ti­ver Abgren­zung gegenüber Dritt­staa­ten sowie einer zuneh­mend restrik­ti­ven Asyl­po­li­tik beruht. Wie lies­se sich das humanitäre und neu­tra­le Selbstverständnis der Schweiz im inter­na­tio­na­len und spe­zi­ell auch europäischen Zusam­men­hang selbst­kri­tisch neu defi­nie­ren? Und was heisst das für die Erin­ne­rungs­kul­tur und die Deu­tung der Vergangenheit?

Vielstimmige Plattform

Die zahl­rei­chen Autor*innen die­ses Hand­buchs tra­gen mit ihren his­to­ri­schen Per­spek­ti­ven, Gegen­warts­dia­gno­sen und Zukunfts­vi­sio­nen dazu bei, einen Ima­gi­na­ti­ons- und Gesprächsraum für die Neue Schweiz zu ent­wi­ckeln. Per­spek­ti­ven – auch widersprüchliche und mehr­deu­ti­ge – wer­den in einen Dia­log gebracht. Das Hand­buch bil­det nicht die Posi­ti­on von INES ab, son­dern schafft eine viel­stim­mi­ge Platt­form, die zum Nach­den­ken, zum Gespräch und zur Dis­kus­si­on ein­la­den möchte – und die vor allem Mut machen soll: Auf zu einer Schweiz mit Migra­ti­ons­vor­der­grund, yal­la, andia­mo, cha­lo, vamos…!

Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien am 25. Janu­ar 2021 auf dem Blog von NCCR on the move.


Refe­renz:

Redak­ti­ons­team: Ani­sha Imhas­ly, Rohit Jain, Manu­el Krebs, Tarek Naguib, Shira­na Shahbazi.

Mit Tex­ten von Said Adrus, Cenk Akdoğan­bu­lut, Iza­bel Bar­ros, Yania Betancourt Gar­cia, Léa Aimée Bir­rer, Bla*Sh, Irena Brežná„ Ntan­do Cele, Pas­cal Clau­de, Sere­na Owu­sua Dank­wa, Pao­la De Mar­tin, Asmaa Deh­bi, Fan­ny de Weck, Kadia­tou Dial­lo, Mo Die­ner, Jovi­ta dos San­tos Pin­to, Rahel El-Maawi, Sami­ra El-Maawi, Kijan Espa­han­gi­zi, Nina Farg­ahi, Micha­el Felix Grie­der, Domi­nik Gross, Charles Hel­ler, Ani­sha Imhas­ly, Rohit Jain, Shpre­sa Jas­ha­ri, Jurc­zok 1001, Mar­do­ché Kaben­ge­le, Rena­to Kai­ser, Meral Kaya, Milen­ko Lazić, Katha­ri­na Mora­wek, Fati­ma Mou­mouni, Melin­da Nadj Abon­ji, Mari­an­ne Naeff, Tarek Naguib, André Nicacio Lima, Simon Noo­ri, Mas­si­mo Peri­nel­li, Maria-Ceci­lia Qua­dri, Dra­gi­ca Rajčić Holz­ner, Nora Refaeil, Roma Jam Ses­si­on art Kol­lek­tiv, Bafta Sar­bo, Sarah Schil­li­ger, Fran­zis­ka Schutz­bach, Schwarz­fe­mi­nis­ti­sches Kol­lek­tiv, Hen­ri Michel Yéré.

 

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