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Eine #NeueSchweiz – für alle, die hier sind und noch kommen werden: Teil II

Tarek Naguib
31st Januar 2022

Der postmigrantische Think & Act Tank Institut Neue Schweiz INES steht für eine vielstimmige und solidarische, selbstkritische und ergebnisoffene #NeueSchweiz, die das Denken in «Wir» und «Ihr» überwindet. Das soeben erschienene gleichnamige Handbuch von INES bietet eine Standortbestimmung zu laufenden postmigrantischen, rassismuskritischen und intersektionalen Debatten. Doch wie entstand INES? Und welche Visionen für unsere Demokratie werden im Handbuch formuliert?

Das Institut Neue Schweiz INES reiht sich ein in die Tradition zahlreicher Initiativen. Seit den späteren 1960er-Jahren setzten sich in der Mitenand-Bewegung Menschen mit und ohne Schweizer Staatsangehörigkeit mit der gleichnamigen Volksinitiative für eine menschliche Einwanderungspolitik ein. Die Volksinitiative scheiterte an der Urne, aber aus der Bewegung gingen viele weitere solidarische Projekte hervor: etwa die Asylbewegung, migrantische Organisationen, Sans-Papiers-Solidarität und die Bewegungen der sogenannten Second@s. Im historischen Rückblick zeigt sich, dass in den letzten Jahrzehnten viel von ihnen erreicht wurde.

Zentrale Fragen bleiben ungelöst

Die postmigrantische Gesellschaft bleibt jedoch geprägt von Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen. Der Aufbau des Asylregimes seit den 1990er-Jahren hat neue Formen des Ausschlusses und des Rassismus produziert. So wie im «Kampf gegen Terrorismus» seit 9/11 neue Sicherheitsdispositive als muslimisch wahrgenommene Menschen stigmatisieren. Integrationspolitisch waren hingegen auch Fortschritte zu verzeichnen. Der Staat übernahm Verantwortung und gewährte seiner migrantischen Bevölkerung Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen. Andererseits wurden in den Begriff der Integration – einst ein Schlachtruf der Mitenand-Bewegung – alte Überfremdungsängste und Assimilationsimperative eingeschrieben. Die Frage, wie das Verhältnis von Staatsangehörigkeit, Bürger*innenschaft und Teilhabe gestaltet wird, ist längst nicht geklärt. Was es braucht, ist ein breit angelegtes Verständnis von Citizenship bzw. einer Citoyenneté in der Neuen Schweiz.

Missstände aufzeigen und Brücken bauen

Was aber bedeutet eine Demokratisierung der Schweizer Demokratie im Zeitalter von Migration und Globalisierung? Wie können nationalstaatliche Grenzziehungen infrage gestellt werden, ohne den Nationalstaat als politisches Projekt und Bezugsrahmen für emanzipatorische Anliegen aufzugeben? Wie kann die Schweiz ihre Verantwortung als globale Playerin wahrnehmen und dabei lokale, nationale und globale Solidarität unterstützen? Wie können Rassismus und koloniale Nachwirkungen in der heutigen Schweiz thematisiert werden, ohne Spaltungen entlang von Identität, Hautfarbe, sozialer Gruppe und religiöser Weltanschauung zu vertiefen oder gar festzuschreiben? Und allgemein: Wie können Missstände aufgezeigt und gleichzeitig Brücken gebaut werden?

Auf dem Weg zu einer NEUEN SCHWEIZ

Im Gründungsjahr 2016 initiierte INES unterschiedlichste Standortbestimmungen der postmigrantischen Schweiz. Seitdem ist einiges passiert: In Basel, Bern, Genf, St. Gallen und Zürich wurden Analysen und Projekte zu den Bereichen Medien, Recht, Kultur und Bildung entwickelt und Late Night Shows zu verschiedenen Themen veranstaltet. Der Verein Neue Schweizer Medienmacher*innen NCHM* entstand ebenso wie die Aktion Vierviertel, die sich für eine grundlegende Bürgerrechtsreform starkmacht. INES lancierte mit der Stiftung Mercator zudem ein Projekt zur Förderung der Chancengleichheit von Schüler*innen mit Migrationsbiografie und Rassismuserfahrung. INES kooperierte weiter mit der Kaserne Basel und dem Literaturhaus Basel im Projekt «Atelier Neue Schweiz Basel» und veranstaltete am Theater Gessnerallee eine Auseinandersetzung mit Demokratie und Vielfalt in der Kultur sowie im Theater Neumarkt eine selbstkritische Reflexion antirassistischen Engagements mit der Reihe Un/Safe Spaces.

Der auf ein breites und junges Publikum ausgerichtete Verein «Friends of INES» (FrINES) wirkte unter anderem am Aufbau des Kollektivs Ostschweiz mit Migrationsvorsprung mit. Dieses Kollektiv macht die Perspektive von Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrung sichtbarer, unter anderem mit der ersten Schweizer Talkshow aus dem «Migrationsuntergrund»: We Talk. Schweiz ungefiltert.

Für ein gerechtes Bürgerrecht und globale Verantwortung

Ein Wandel der Vorstellungen von Zugehörigkeit in einer postmigrantischen Schweiz sollte mit einem institutionellen Wandel und einer Anpassung rechtlicher Grundlagen einhergehen. So geht es etwa beim Bürgerrecht nicht nur um symbolische, sondern auch um existenzielle Fragen, etwa bezüglich der Aufenthalts- und sozialen Sicherheit oder des Zugangs zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, Bildung und Gesundheitsangeboten. Es gilt, aus einer Geschichte zu lernen, in der fundamentale Grund- und Menschenrechte von Migrant*innen immer wieder verletzt worden sind, etwa im Fall der sogenannten «versteckten Kinder» der italienischen «Gast»-Arbeiterfamilien in den 1970er-Jahren. Die Aufarbeitung dieser gewaltvollen Praxis würde hoffentlich aufzeigen, dass die Kinder- und Familienrechte, gerade im Asylsystem, in der Nothilfe oder bei Sans-Papiers weiterhin allzu oft verletzt werden.

Das vorliegende Handbuch wirft auch einen Blick auf die globalen Verflechtungen der Schweiz und ihre Mitverantwortung für internationale Wohlstandsgefälle und Ungleichheit. Die Neue Schweiz endet nicht an den Landesgrenzen und der Reichtum und der hohe Lebensstandard hängen zum Grossteil von anderswo gewonnenen und verarbeiteten Ressourcen ab. Dies zeigt sich etwa darin, dass die Schweiz Drehscheibe des weltweiten Rohstoffhandels und ein sicherer Hafen für Steuerflucht und Gelder von Globalisierungsgewinnern und autoritären Regimes ist.

Gleichzeitig ist die Schweiz wirtschaftlich auf Einwanderung angewiesen und dabei Teil des Europäischen Migrationsregimes, das auf Binnenfreizügigkeit innerhalb der EU und selektiver Abgrenzung gegenüber Drittstaaten sowie einer zunehmend restriktiven Asylpolitik beruht. Wie liesse sich das humanitäre und neutrale Selbstverständnis der Schweiz im internationalen und speziell auch europäischen Zusammenhang selbstkritisch neu definieren? Und was heisst das für die Erinnerungskultur und die Deutung der Vergangenheit?

Vielstimmige Plattform

Die zahlreichen Autor*innen dieses Handbuchs tragen mit ihren historischen Perspektiven, Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsvisionen dazu bei, einen Imaginations- und Gesprächsraum für die Neue Schweiz zu entwickeln. Perspektiven – auch widersprüchliche und mehrdeutige – werden in einen Dialog gebracht. Das Handbuch bildet nicht die Position von INES ab, sondern schafft eine vielstimmige Plattform, die zum Nachdenken, zum Gespräch und zur Diskussion einladen möchte – und die vor allem Mut machen soll: Auf zu einer Schweiz mit Migrationsvordergrund, yalla, andiamo, chalo, vamos…!

Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 25. Januar 2021 auf dem Blog von NCCR on the move.


Referenz:

Redaktionsteam: Anisha Imhasly, Rohit Jain, Manuel Krebs, Tarek Naguib, Shirana Shahbazi.

Mit Texten von Said Adrus, Cenk Akdoğanbulut, Izabel Barros, Yania Betancourt Garcia, Léa Aimée Birrer, Bla*Sh, Irena Brežná,, Ntando Cele, Pascal Claude, Serena Owusua Dankwa, Paola De Martin, Asmaa Dehbi, Fanny de Weck, Kadiatou Diallo, Mo Diener, Jovita dos Santos Pinto, Rahel El-Maawi, Samira El-Maawi, Kijan Espahangizi, Nina Fargahi, Michael Felix Grieder, Dominik Gross, Charles Heller, Anisha Imhasly, Rohit Jain, Shpresa Jashari, Jurczok 1001, Mardoché Kabengele, Renato Kaiser, Meral Kaya, Milenko Lazić, Katharina Morawek, Fatima Moumouni, Melinda Nadj Abonji, Marianne Naeff, Tarek Naguib, André Nicacio Lima, Simon Noori, Massimo Perinelli, Maria-Cecilia Quadri, Dragica Rajčić Holzner, Nora Refaeil, Roma Jam Session art Kollektiv, Bafta Sarbo, Sarah Schilliger, Franziska Schutzbach, Schwarzfeministisches Kollektiv, Henri Michel Yéré.