Das Covid-Zertifikat: Grund für eine neue politische Spaltung?

Seit Herbst 2021 kommt auch in der Schweiz ein Covid-Zer­ti­fi­kat zum Ein­satz und regelt den Zugang zu man­chen öffent­li­chen Orten und Ver­an­stal­tun­gen für Geimpf­te, Gene­se oder Getes­te­te. Gross­mehr­heit­lich wird das Covid-Zer­ti­fi­kat akzep­tiert, doch ein Teil der Bevöl­ke­rung ist ent­schie­den dage­gen. Wir zei­gen im Fol­gen­den auf, wel­che poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen die Geg­ne­rin­nen und Geg­ner des Covid-Zer­ti­fi­kats haben.

Wie in vie­len euro­päi­schen Län­dern stellt das Covid-Zer­ti­fi­kat (in Frank­reich auch «Pass sanitaire/Pass vac­ci­nal» und in Ita­li­en «(Super) Green Pass» genannt) auch in der Schweiz ein wich­ti­ges Instru­ment der Behör­den zur Ein­däm­mung der Pan­de­mie dar. Seit Herbst 2021 gehört das Covid-Zer­ti­fi­kat zum All­tag von Tau­sen­den von Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zern, anfangs in der Ver­si­on «3G» (als Nach­weis einer Imp­fung, Gene­sung oder eines nega­ti­ven Tests) und mitt­ler­wei­le in der Ver­si­on «2G» oder «2G+».

Welche politischen Präferenzen erklären die Haltung zum Zertifikat am besten?

Wir zei­gen im Fol­gen­den, inwie­fern sich poli­ti­sche Ori­en­tie­run­gen und Par­tei­prä­fe­ren­zen auf die Befür­wor­tung bzw. die Ableh­nung des Covid-Zer­ti­fi­kats aus­wir­ken. Damit soll ermit­telt wer­den, inwie­weit sich die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um das Covid-Zer­ti­fi­kat in bestehen­de poli­ti­sche Kon­flik­te ein­fü­gen oder sogar das Poten­zi­al haben, neue Arten von Kon­flik­ten zu schüren.

Die SVP war bei der Abstim­mung im Novem­ber 2021 die ein­zi­ge gros­se Par­tei, die sich gegen das Covid-Gesetz stell­te, wobei das Covid-Zer­ti­fi­kat im Zen­trum der Debat­ten stand. Den­noch ist es nicht die SVP, die im Mit­tel­punkt der Stras­sen­pro­tes­te gegen die Coro­na-Mass­nah­men steht, son­dern eine Viel­zahl von Grup­pen mit unter­schied­li­chen ideo­lo­gi­schen Profilen. 

Ist die Gegnerschaft des Covid-Zertifikats allgemein gegen staatliche Eingriffe?

Das Covid-Zer­ti­fi­kat wird von sei­ner Geg­ner­schaft oft als inak­zep­ta­ble Inter­ven­ti­on des Staa­tes dar­ge­stellt, die die indi­vi­du­el­le Frei­heit ein­schränkt und die Pri­vat­sphä­re ver­letzt. Sind die Geg­ne­rin­nen und Geg­ner des Covid-Zer­ti­fi­kats auch ganz all­ge­mein gegen staat­li­che Ein­grif­fe, ins­be­son­de­re gegen ein Ein­grei­fen des Staa­tes in die Wirtschaft?

Die Selects-Panel­be­fra­gung zeigt, dass die Ableh­nung des Covid-Zer­ti­fi­kats nur gering­fü­gig mit Prä­fe­ren­zen zu staat­li­chen Inter­ven­tio­nen in die Wirt­schaft zusam­men­hängt (Gra­fik 1). Unter den Per­so­nen, die sich eher für ein stär­ke­res Ein­grei­fen des Staa­tes in die Wirt­schaft aus­spre­chen (dies sind 23 % der Befrag­ten), sind 22 % gegen das Covid-Zer­ti­fi­kat («sehr dage­gen» und «eher dage­gen»). Die­ser Anteil ist bei Per­so­nen mit einer Zwi­schen­po­si­ti­on («weder noch») und bei den­je­ni­gen, die sich eher für mehr Wett­be­werb auf dem Markt aus­spre­chen, nur unwe­sent­lich höher (28 % resp. 25 %). Inter­es­sant ist jedoch, dass in der klei­nen Grup­pe von Per­so­nen, die sich deut­lich für mehr Wett­be­werb aus­spre­chen (6 % der Stich­pro­be), gut ein Drit­tel das Covid-Zer­ti­fi­kat ablehnt. Die­se wirt­schaft­lich sehr libe­ra­len Per­so­nen sind daher am ehes­ten geneigt, im Bereich der Gesund­heits­mass­nah­men weit­ge­hen­de Frei­hei­ten zu fordern.

Grafik 1: Einstellung gegenüber dem Covid-Zertifikat nach Präferenzen im Bereich Wirtschaftsregulierung (in %)

Quellenangabe: Selects-Panelbefragung, Welle 5. N gewichtet=2310.
Daten und Datenerhebung
Die Panel­be­fra­gung 2021 der Schwei­zer Wahl­stu­die Selects[i] ermög­licht es, die Mei­nun­gen zum Covid-Zer­ti­fi­kat auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne zu ana­ly­sie­ren. Die Umfra­ge wur­de vom 27. Sep­tem­ber bis zum 1. Novem­ber 2021 bei ins­ge­samt 2’323 Schwei­zer Bür­ge­rin­nen und Bür­gern durch­ge­führt und ent­hielt eine Rei­he von Fra­gen zur Coro­na­kri­se. Die Befrag­ten soll­ten ins­be­son­de­re ihre Mei­nung dazu abge­ben, ob es eine Ver­pflich­tung zum Nach­weis eines Covid-Zer­ti­fi­kats in öffent­lich zugäng­li­chen Innen­räu­men (z. B. Restau­rants und Kinos) geben soll­te. Zur Aus­wahl stan­den fünf Ant­wort­mög­lich­kei­ten: «Sehr dafür», «Eher dafür», «Weder noch», «Eher dage­gen», «Sehr dage­gen». Hier­bei muss berück­sich­tigt wer­den, dass sich die Fra­ge auf die anfäng­li­che Zer­ti­fi­kats­ver­si­on «3G» bezog. Bei die­ser Umfra­ge sprach sich eine gros­se Mehr­heit für das Covid-Zer­ti­fi­kat aus: 68 % der Befrag­ten gaben an, dass sie das Zer­ti­fi­kat befür­wor­ten (davon waren 49 % «sehr dafür» und 19 % «eher dafür»), 26 % lehn­ten das Zer­ti­fi­kat ab (davon waren 16 % «sehr dage­gen» und 10 % «eher dage­gen») und 6 % nah­men eine Zwi­schen­po­si­ti­on ein («weder noch»). Die­se Umfra­ge ermög­licht es in gewis­ser Wei­se, die Mei­nun­gen zum Covid-Zer­ti­fi­kat schon vor der Abstim­mungs­kam­pa­gne und unab­hän­gig von ande­ren im Covid-Gesetz ent­hal­te­nen Bestim­mun­gen zu ermit­teln. Das Covid-Gesetz wur­de am Sonn­tag, den 28. Novem­ber 2021 mit einem JA-Stim­men­an­teil von 62 % angenommen.
Zusammenhang Einstellung zur EU und Covid-Zertifikat

Die Bezie­hun­gen zur EU neh­men in der Schwei­zer Poli­tik einen wich­ti­gen Platz ein. Bei der Selects-Panel­be­fra­gung wur­den die Teil­neh­men­den gefragt, ob sie für eine stär­ke­re Zusam­men­ar­beit der Schweiz mit der EU sind oder ob sie die Unab­hän­gig­keit der Schweiz von der EU gestärkt sehen möch­ten. Die Mei­nun­gen zum Covid-Zer­ti­fi­kat kor­re­lie­ren stär­ker mit denen zur euro­päi­schen Inte­gra­ti­on (Spear­man-Kor­re­la­ti­ons­ko­ef­fi­zi­ent von 0.32) als mit denen zu Staats­ein­grif­fen in die Wirt­schaft (0.03). Gra­fik 2 zeigt, dass eine Per­son das Covid-Zer­ti­fi­kat umso stär­ker ablehnt, je euro­skep­ti­scher sie ist. Der Anteil derer, die das Covid-Zer­ti­fi­kat ableh­nen, steigt von 9 % bei Per­so­nen, die für eine stär­ke­re Zusam­men­ar­beit mit der EU sind, auf 51 % bei Per­so­nen, die die Unab­hän­gig­keit der Schweiz von der EU stär­ken möchten.

Grafik 2: Einstellung gegenüber dem Covid-Zertifikat nach Präferenzen zur europäischen Integration (in %)

Quellenangabe: Selects-Panelbefragung, Welle 5. N gewichtet=2312.

Die­se Kor­re­la­ti­on zwi­schen den Mei­nun­gen zur euro­päi­schen Inte­gra­ti­on und zum Covid-Zer­ti­fi­kat muss in Bezie­hung gesetzt wer­den mit der Ableh­nung des Covid-Zer­ti­fi­kats durch die SVP (und damit mit dem über­durch­schnitt­li­chen Anteil von SVP-Sym­pa­thi­sie­ren­den unter den­je­ni­gen, die die Unab­hän­gig­keit der Schweiz stär­ken möchten).

Ablehnung am grössten bei der SVP

Betrach­tet man nun den Ein­fluss der Wahl­ab­sicht (wenn am nächs­ten Sonn­tag Wah­len statt­fin­den wür­den) auf die Befür­wor­tung oder die Ableh­nung des Covid-Zer­ti­fi­kats, so fin­det man bei den gros­sen Schwei­zer Par­tei­en den gröss­ten Anteil an Covid-Zer­ti­fi­kat-Ableh­nen­den erwar­tungs­ge­mäss in der SVP-Anhän­ger­schaft (46 %).

Zu Beginn des Abstim­mungs­kampfs zum Covid-Gesetz zeig­ten sich die SVP-Sym­pa­thi­sie­ren­den jedoch gespal­ten, denn in ihren Rei­hen war der Zuspruch zum Covid-Zer­ti­fi­kat mit 46 % eben­so hoch wie die Ableh­nung (8 % waren unent­schlos­sen). Ein noch höhe­rer Anteil an Per­so­nen, die das Covid-Zer­ti­fi­kat ableh­nen (50 %), fin­det sich in der Rest­ka­te­go­rie der­je­ni­gen, die nicht wuss­ten, wel­che Par­tei sie am kom­men­den Sonn­tag wäh­len wür­den, oder die eine ande­re Ant­wort gaben (9 % der Befragten).

Bei den Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern ande­rer rech­ter Par­tei­en (ins­be­son­de­re Lega, MCG und EDU) stösst das Covid-Zer­ti­fi­kat auch auf eine mehr­heit­li­che Ableh­nung (72 %). Da die­se Kate­go­rie jedoch sehr klein ist (1 % der Befrag­ten), ist bei der Inter­pre­ta­ti­on die­ses Resul­ta­tes Vor­sicht geboten.

Das Zertifikat findet in der politischen Mitte am meisten Unterstützung

Wie sich in unse­rer Umfra­ge eini­ge Wochen vor der Abstim­mung über das Covid-Gesetz gezeigt hat, ist die Unter­stüt­zung des Covid-Zer­ti­fi­kats in den Anhän­ger­schaf­ten der GLP und der Mit­te mit 84 % am stärks­ten. Es fol­gen die Anhän­ger­schaf­ten der FDP (80 %), SP (75 %) und dann der Grü­nen (71 %). Unter den gros­sen Par­tei­en (ohne SVP) wei­sen die Grü­nen den höchs­ten Anteil an Per­so­nen auf, die das Covid-Zer­ti­fi­kat ableh­nen (24 %). Auch bei den ande­ren Mit­te-Par­tei­en (30 %) und den ande­ren lin­ken Par­tei­en (22%) gibt es einen nicht uner­heb­li­chen Wider­stand gegen das Covid-Zer­ti­fi­kat, aber auf­grund der gerin­gen Fall­zah­len in die­sen Kate­go­rien ist auch hier bei der Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se Vor­sicht gebo­ten. Anhän­ger­schaf­ten der ande­ren Lin­ken (PdA, soli­da­ri­téS und ande­re alter­na­ti­ve Lis­ten) zeich­nen sich vor allem durch den höchs­ten Anteil an Per­so­nen aus, die eine Mit­tel­stel­lung «weder für noch gegen das Covid-Zer­ti­fi­kat» ein­neh­men (24 %).

Grafik 3: Einstellung gegenüber dem Covid-Zertifikat nach Wahlabsicht (in %)

Quellenangabe: Selects-Panelbefragung, Welle 5. N gewichtet=2314.
Bekannte Konfliktlinie

Die durch­ge­führ­te Ana­ly­se der Ein­stel­lun­gen gegen­über dem Covid-Zer­ti­fi­kat erin­nert an eine Kon­flikt­li­nie, wie wir sie seit meh­re­ren Jahr­zehn­ten aus Debat­ten in den Berei­chen Zuwan­de­rung und Aus­sen­po­li­tik ken­nen und die durch eine star­ke Oppo­si­ti­on zwi­schen der SVP und den ande­ren Par­tei­en gekenn­zeich­net ist. 

Die Kor­re­la­ti­on zwi­schen den Mei­nun­gen zum Covid-Zer­ti­fi­kat und den Ansich­ten über die euro­päi­sche Inte­gra­ti­on sowie der gros­se Anteil der SVP-Anhän­ger­schaft, die das Zer­ti­fi­kat ablehnt, deu­ten in die­se Rich­tung. Die VOX-Ana­ly­se der Abstim­mung vom 28. Novem­ber 2021 zeigt auch einen star­ken Wider­stand der SVP-Sym­pa­thi­sie­ren­den gegen das Covid-Gesetz (70 %) und einen nicht uner­heb­li­chen Wider­stand bei den kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten (31 % Nein bei der Wäh­ler­schaft der Mit­te). Meh­re­re Ele­men­te unse­rer Ana­ly­se deu­ten jedoch auch auf eine gewis­se Hete­ro­ge­ni­tät in der Oppo­si­ti­on gegen das Covid-Zer­ti­fi­kat hin. Ein gros­ser Teil der Per­so­nen ohne Wahl­ab­sicht für eine bestimm­te Par­tei lehnt das Covid-Zer­ti­fi­kat ab, eben­so ein klei­ner Teil der wirt­schaft­lich sehr libe­ra­len Per­so­nen und eine Min­der­heit im Lager der Grü­nen. Es wird inter­es­sant sein, zu sehen, ob die­se «Grup­pie­rung» in den kom­men­den Mona­ten auch bei neu­en Gesund­heits­mass­nah­men bestehen bleibt und wel­che Posi­tio­nen die SVP ein­neh­men wird.

Die Schwei­zer Wahl­stu­die Selects
Selects unter­sucht seit 1995 die Wahl­teil­nah­me und das Wahl­ver­hal­ten bei eid­ge­nös­si­schen Wah­len. Im Rah­men von Selects 2019 wur­de unter ande­rem eine Panel­be­fra­gung durch­ge­führt. Vor und nach den eid­ge­nös­si­schen Wah­len 2019 wur­den die­sel­ben Per­so­nen drei­mal befragt. Zum ers­ten Mal in der Geschich­te von Selects wird die­se Panel­be­fra­gung bis zu den nächs­ten eid­ge­nös­si­schen Wah­len mit jähr­li­chen Befra­gungs­wel­len wei­ter­ge­führt. Dies erlaubt es For­schen­den zu unter­su­chen, wie sich indi­vi­du­el­le Prä­fe­ren­zen zwi­schen zwei eid­ge­nös­si­schen Wahl­gän­gen ent­wi­ckeln. Im Herbst 2020 fand die vier­te Panel­wel­le statt. Die hier beschrie­be­nen Aus­wer­tun­gen beru­hen auf der fünf­ten Befra­gungs­wel­le, wel­che vom 27. Sep­tem­ber bis 1. Novem­ber 2021 statt­fand. Selects wird vom Schwei­ze­ri­schen Natio­nal­fonds (SNF) geför­dert und von FORS in Lau­sanne durch­ge­führt. Sämt­li­che Daten­sät­ze sind doku­men­tiert und für wis­sen­schaft­li­che Zwe­cke frei zugäng­lich.

[i] Selects (2022). Panel Sur­vey (waves 1–5) 2019–2021 [Data­set]. Dis­tri­bu­t­ed by FORS, Lau­sanne, www.selects.ch.

Bild: unsplash

 

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