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Das Covid-Zertifikat: Grund für eine neue politische Spaltung?

Line Rennwald, Anke Tresch, Lukas Lauener
26th Januar 2022

Seit Herbst 2021 kommt auch in der Schweiz ein Covid-Zertifikat zum Einsatz und regelt den Zugang zu manchen öffentlichen Orten und Veranstaltungen für Geimpfte, Genese oder Getestete. Grossmehrheitlich wird das Covid-Zertifikat akzeptiert, doch ein Teil der Bevölkerung ist entschieden dagegen. Wir zeigen im Folgenden auf, welche politischen Überzeugungen die Gegnerinnen und Gegner des Covid-Zertifikats haben.

Wie in vielen europäischen Ländern stellt das Covid-Zertifikat (in Frankreich auch «Pass sanitaire/Pass vaccinal» und in Italien «(Super) Green Pass» genannt) auch in der Schweiz ein wichtiges Instrument der Behörden zur Eindämmung der Pandemie dar. Seit Herbst 2021 gehört das Covid-Zertifikat zum Alltag von Tausenden von Schweizerinnen und Schweizern, anfangs in der Version «3G» (als Nachweis einer Impfung, Genesung oder eines negativen Tests) und mittlerweile in der Version «2G» oder «2G+».

Welche politischen Präferenzen erklären die Haltung zum Zertifikat am besten?

Wir zeigen im Folgenden, inwiefern sich politische Orientierungen und Parteipräferenzen auf die Befürwortung bzw. die Ablehnung des Covid-Zertifikats auswirken. Damit soll ermittelt werden, inwieweit sich die Auseinandersetzungen um das Covid-Zertifikat in bestehende politische Konflikte einfügen oder sogar das Potenzial haben, neue Arten von Konflikten zu schüren.

Die SVP war bei der Abstimmung im November 2021 die einzige grosse Partei, die sich gegen das Covid-Gesetz stellte, wobei das Covid-Zertifikat im Zentrum der Debatten stand. Dennoch ist es nicht die SVP, die im Mittelpunkt der Strassenproteste gegen die Corona-Massnahmen steht, sondern eine Vielzahl von Gruppen mit unterschiedlichen ideologischen Profilen. 

Ist die Gegnerschaft des Covid-Zertifikats allgemein gegen staatliche Eingriffe?

Das Covid-Zertifikat wird von seiner Gegnerschaft oft als inakzeptable Intervention des Staates dargestellt, die die individuelle Freiheit einschränkt und die Privatsphäre verletzt. Sind die Gegnerinnen und Gegner des Covid-Zertifikats auch ganz allgemein gegen staatliche Eingriffe, insbesondere gegen ein Eingreifen des Staates in die Wirtschaft?

Die Selects-Panelbefragung zeigt, dass die Ablehnung des Covid-Zertifikats nur geringfügig mit Präferenzen zu staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zusammenhängt (Grafik 1). Unter den Personen, die sich eher für ein stärkeres Eingreifen des Staates in die Wirtschaft aussprechen (dies sind 23 % der Befragten), sind 22 % gegen das Covid-Zertifikat («sehr dagegen» und «eher dagegen»). Dieser Anteil ist bei Personen mit einer Zwischenposition («weder noch») und bei denjenigen, die sich eher für mehr Wettbewerb auf dem Markt aussprechen, nur unwesentlich höher (28 % resp. 25 %). Interessant ist jedoch, dass in der kleinen Gruppe von Personen, die sich deutlich für mehr Wettbewerb aussprechen (6 % der Stichprobe), gut ein Drittel das Covid-Zertifikat ablehnt. Diese wirtschaftlich sehr liberalen Personen sind daher am ehesten geneigt, im Bereich der Gesundheitsmassnahmen weitgehende Freiheiten zu fordern.

Grafik 1: Einstellung gegenüber dem Covid-Zertifikat nach Präferenzen im Bereich Wirtschaftsregulierung (in %)

Quellenangabe: Selects-Panelbefragung, Welle 5. N gewichtet=2310.

Daten und Datenerhebung
Die Panelbefragung 2021 der Schweizer Wahlstudie Selects[i] ermöglicht es, die Meinungen zum Covid-Zertifikat auf individueller Ebene zu analysieren. Die Umfrage wurde vom 27. September bis zum 1. November 2021 bei insgesamt 2’323 Schweizer Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt und enthielt eine Reihe von Fragen zur Coronakrise. Die Befragten sollten insbesondere ihre Meinung dazu abgeben, ob es eine Verpflichtung zum Nachweis eines Covid-Zertifikats in öffentlich zugänglichen Innenräumen (z. B. Restaurants und Kinos) geben sollte. Zur Auswahl standen fünf Antwortmöglichkeiten: «Sehr dafür», «Eher dafür», «Weder noch», «Eher dagegen», «Sehr dagegen». Hierbei muss berücksichtigt werden, dass sich die Frage auf die anfängliche Zertifikatsversion «3G» bezog. Bei dieser Umfrage sprach sich eine grosse Mehrheit für das Covid-Zertifikat aus: 68 % der Befragten gaben an, dass sie das Zertifikat befürworten (davon waren 49 % «sehr dafür» und 19 % «eher dafür»), 26 % lehnten das Zertifikat ab (davon waren 16 % «sehr dagegen» und 10 % «eher dagegen») und 6 % nahmen eine Zwischenposition ein («weder noch»). Diese Umfrage ermöglicht es in gewisser Weise, die Meinungen zum Covid-Zertifikat schon vor der Abstimmungskampagne und unabhängig von anderen im Covid-Gesetz enthaltenen Bestimmungen zu ermitteln. Das Covid-Gesetz wurde am Sonntag, den 28. November 2021 mit einem JA-Stimmenanteil von 62 % angenommen.

Zusammenhang Einstellung zur EU und Covid-Zertifikat

Die Beziehungen zur EU nehmen in der Schweizer Politik einen wichtigen Platz ein. Bei der Selects-Panelbefragung wurden die Teilnehmenden gefragt, ob sie für eine stärkere Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU sind oder ob sie die Unabhängigkeit der Schweiz von der EU gestärkt sehen möchten. Die Meinungen zum Covid-Zertifikat korrelieren stärker mit denen zur europäischen Integration (Spearman-Korrelationskoeffizient von 0.32) als mit denen zu Staatseingriffen in die Wirtschaft (0.03). Grafik 2 zeigt, dass eine Person das Covid-Zertifikat umso stärker ablehnt, je euroskeptischer sie ist. Der Anteil derer, die das Covid-Zertifikat ablehnen, steigt von 9 % bei Personen, die für eine stärkere Zusammenarbeit mit der EU sind, auf 51 % bei Personen, die die Unabhängigkeit der Schweiz von der EU stärken möchten.

Grafik 2: Einstellung gegenüber dem Covid-Zertifikat nach Präferenzen zur europäischen Integration (in %)

Quellenangabe: Selects-Panelbefragung, Welle 5. N gewichtet=2312.

Diese Korrelation zwischen den Meinungen zur europäischen Integration und zum Covid-Zertifikat muss in Beziehung gesetzt werden mit der Ablehnung des Covid-Zertifikats durch die SVP (und damit mit dem überdurchschnittlichen Anteil von SVP-Sympathisierenden unter denjenigen, die die Unabhängigkeit der Schweiz stärken möchten).

Ablehnung am grössten bei der SVP

Betrachtet man nun den Einfluss der Wahlabsicht (wenn am nächsten Sonntag Wahlen stattfinden würden) auf die Befürwortung oder die Ablehnung des Covid-Zertifikats, so findet man bei den grossen Schweizer Parteien den grössten Anteil an Covid-Zertifikat-Ablehnenden erwartungsgemäss in der SVP-Anhängerschaft (46 %).

Zu Beginn des Abstimmungskampfs zum Covid-Gesetz zeigten sich die SVP-Sympathisierenden jedoch gespalten, denn in ihren Reihen war der Zuspruch zum Covid-Zertifikat mit 46 % ebenso hoch wie die Ablehnung (8 % waren unentschlossen). Ein noch höherer Anteil an Personen, die das Covid-Zertifikat ablehnen (50 %), findet sich in der Restkategorie derjenigen, die nicht wussten, welche Partei sie am kommenden Sonntag wählen würden, oder die eine andere Antwort gaben (9 % der Befragten).

Bei den Wählerinnen und Wählern anderer rechter Parteien (insbesondere Lega, MCG und EDU) stösst das Covid-Zertifikat auch auf eine mehrheitliche Ablehnung (72 %). Da diese Kategorie jedoch sehr klein ist (1 % der Befragten), ist bei der Interpretation dieses Resultates Vorsicht geboten.

Das Zertifikat findet in der politischen Mitte am meisten Unterstützung

Wie sich in unserer Umfrage einige Wochen vor der Abstimmung über das Covid-Gesetz gezeigt hat, ist die Unterstützung des Covid-Zertifikats in den Anhängerschaften der GLP und der Mitte mit 84 % am stärksten. Es folgen die Anhängerschaften der FDP (80 %), SP (75 %) und dann der Grünen (71 %). Unter den grossen Parteien (ohne SVP) weisen die Grünen den höchsten Anteil an Personen auf, die das Covid-Zertifikat ablehnen (24 %). Auch bei den anderen Mitte-Parteien (30 %) und den anderen linken Parteien (22%) gibt es einen nicht unerheblichen Widerstand gegen das Covid-Zertifikat, aber aufgrund der geringen Fallzahlen in diesen Kategorien ist auch hier bei der Interpretation der Ergebnisse Vorsicht geboten. Anhängerschaften der anderen Linken (PdA, solidaritéS und andere alternative Listen) zeichnen sich vor allem durch den höchsten Anteil an Personen aus, die eine Mittelstellung «weder für noch gegen das Covid-Zertifikat» einnehmen (24 %).

Grafik 3: Einstellung gegenüber dem Covid-Zertifikat nach Wahlabsicht (in %)

Quellenangabe: Selects-Panelbefragung, Welle 5. N gewichtet=2314.
Bekannte Konfliktlinie

Die durchgeführte Analyse der Einstellungen gegenüber dem Covid-Zertifikat erinnert an eine Konfliktlinie, wie wir sie seit mehreren Jahrzehnten aus Debatten in den Bereichen Zuwanderung und Aussenpolitik kennen und die durch eine starke Opposition zwischen der SVP und den anderen Parteien gekennzeichnet ist. 

Die Korrelation zwischen den Meinungen zum Covid-Zertifikat und den Ansichten über die europäische Integration sowie der grosse Anteil der SVP-Anhängerschaft, die das Zertifikat ablehnt, deuten in diese Richtung. Die VOX-Analyse der Abstimmung vom 28. November 2021 zeigt auch einen starken Widerstand der SVP-Sympathisierenden gegen das Covid-Gesetz (70 %) und einen nicht unerheblichen Widerstand bei den konservativen Kräften (31 % Nein bei der Wählerschaft der Mitte). Mehrere Elemente unserer Analyse deuten jedoch auch auf eine gewisse Heterogenität in der Opposition gegen das Covid-Zertifikat hin. Ein grosser Teil der Personen ohne Wahlabsicht für eine bestimmte Partei lehnt das Covid-Zertifikat ab, ebenso ein kleiner Teil der wirtschaftlich sehr liberalen Personen und eine Minderheit im Lager der Grünen. Es wird interessant sein, zu sehen, ob diese «Gruppierung» in den kommenden Monaten auch bei neuen Gesundheitsmassnahmen bestehen bleibt und welche Positionen die SVP einnehmen wird.

Die Schweizer Wahlstudie Selects
Selects untersucht seit 1995 die Wahlteilnahme und das Wahlverhalten bei eidgenössischen Wahlen. Im Rahmen von Selects 2019 wurde unter anderem eine Panelbefragung durchgeführt. Vor und nach den eidgenössischen Wahlen 2019 wurden dieselben Personen dreimal befragt. Zum ersten Mal in der Geschichte von Selects wird diese Panelbefragung bis zu den nächsten eidgenössischen Wahlen mit jährlichen Befragungswellen weitergeführt. Dies erlaubt es Forschenden zu untersuchen, wie sich individuelle Präferenzen zwischen zwei eidgenössischen Wahlgängen entwickeln. Im Herbst 2020 fand die vierte Panelwelle statt. Die hier beschriebenen Auswertungen beruhen auf der fünften Befragungswelle, welche vom 27. September bis 1. November 2021 stattfand. Selects wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert und von FORS in Lausanne durchgeführt. Sämtliche Datensätze sind dokumentiert und für wissenschaftliche Zwecke frei zugänglich.


[i] Selects (2022). Panel Survey (waves 1-5) 2019-2021 [Dataset]. Distributed by FORS, Lausanne, www.selects.ch.

Bild: unsplash