Eine #NeueSchweiz – für alle, die hier sind und noch kommen werden: Teil I

Der postmigrantische Think & Act Tank Institut Neue Schweiz INES steht für eine vielstimmige und solidarische, selbstkritische und ergebnisoffene #NeueSchweiz, die das Denken in «Wir» und «Ihr» überwindet. Das soeben erschienene gleichnamige Handbuch von INES bietet eine Standortbestimmung zu laufenden postmigrantischen, rassismuskritischen und intersektionalen Debatten. Doch wie entstand INES? Und welche Visionen für unsere Demokratie werden im Handbuch formuliert? Ein Blogbeitrag in zwei Teilen, Teil 1.

Die Frage, ob die Schweiz ein Einwanderungsland ist, wird nicht erst seit gestern diskutiert. Doch die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 war ein migrationspolitischer Wendepunkt. Auf den anfänglichen Schock folgte für uns die Überzeugung, dass die Zeit reif ist, das die Einwanderungsdebatten seit den 1960er-Jahren bestimmende Narrativ der «Überfremdung» zu überwinden. Der Volksentscheid wurde ledigleich von 22 Prozent der damaligen Wohnbevölkerung der Schweiz gefällt und die demografische Realität der Schweiz erzählt längst eine andere Geschichte. Es bildete sich ein Netzwerk von Menschen, die den Blick freibekommen wollten auf eine andere Zukunft, auf eine Neue Schweiz im Zeitalter der Migration und Globalisierung.

Neue Perspektiven und Bündnisse an der Schnittstelle von Wissenschaft und Praxis

An der Schnittstelle von Theorie und Praxis begannen wir zu experimentieren und fragen, wo wir stehen und wohin wir wollen. So organisierten 2015 einige von uns mit Gewerkschafter*innen den ersten Kongress der Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund. Andere veranstalteten das rassismuskritische Humorfestival Laugh up! Stand up!, um eigene Humorformen in den Mainstream einzubringen und von rassistischen Ausgrenzungen betroffenen Menschen eine Stimme zu verleihen. Weiter entstand das interventionistische Kunstprojekt «Die ganze Welt in Zürich». Bald kamen weitere Initiativen hinzu, wie die mittlerweile schweizweit aktive «Stadt für alle»-Bewegung, die Allianz gegen Racial Profiling, die erste kanakische Late Night Show-Serie «Salon Bastarde» und der Berner Rassismus-Stammtisch. Wichtiger Bestandteil dieser Anfänge war der Austausch mit Vertreter*innen von migrantischen und antirassistischen Bewegungen wie das «Bla*Sh – afro- und queerfeministisches Netzwerk» und das Collectif Afro-Swiss aus Genf.

Trotz dieser Aufbruchstimmung war klar, dass es eine gesellschaftliche Vision für die nächsten Jahrzehnte braucht. Bald konkretisierte sich die Idee, den politischen Diskurs über die Migrationsgesellschaft Schweiz mit einem neuen Think & Act Tank langfristig und nachhaltig zu verändern. Im Mai 2016 kamen 15 Menschen aus der ganzen Schweiz in Montézillon oberhalb von Neuchâtel zusammen und riefen das Institut Neue Schweiz INES ins Leben. Viele weitere Treffen sollten folgen.

Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen

Die Schweizer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Dieser Wandel wird nicht selten am wachsenden Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund festgemacht. Im Jahr 2019 lag dieser bei 38 Prozent, Tendenz steigend. Bei Jugendlichen und Kindern liegt er gar über fünfzig Prozent.

Die Unterscheidung in Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund ist jedoch viel zu grobschlächtig, um die Komplexität einer von Migration und Globalisierung geprägten Gesellschaft zu erfassen, in der transnationale Lebenswelten und Mehrfachzugehörigkeiten nicht nur akademische Konzepte, sondern auch gelebter Alltag sind. Die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte seit dem Zweiten Weltkrieg, der Familiennachzug und die wachsende Fluchtmigration seit den 1980er-Jahren haben das Gesicht der Schweiz unwiderruflich verändert; auf den Strassen, in den Wohnzimmern, Schulen, Vereinen, Spitälern und Betrieben.

Noch nie haben die Klischees darüber, wie Schweizer*innen auszusehen und zu leben haben, weniger zur sozialen Realität gepasst. Dennoch prägen sie bis heute das nationale Selbstverständnis sowie Gesetze und Institutionen. Die Folge davon ist ein markantes Demokratiedefizit: ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz hat kein Schweizer Bürgerrecht – auch weil zu wenig und zu restriktiv eingebürgert wird. Und selbst wer einen Schweizer Pass hat, sieht seine symbolische Zugehörigkeit infrage gestellt, wenn Sprache, Aussehen und Lebensweise nicht ins dominante Bild passen.

Auch die politisch-mediale Landschaft steht im Schatten des Themas Migration. Mit der globalen Geschichte des modernen Nationalstaats und dessen kolonialen Verstrickungen haben sich auch in der Schweiz unterschiedliche Vorstellungen über die «Anderen» festgesetzt, die spezifische Formen des Rassismus hervorbringen. Gleichzeitig schliessen sich immer mehr Menschen dem Kampf gegen Rassismus an, wie die Black-Lives-Matter-Bewegung im Sommer 2020 zeigte.

So ist die Gegenwart durch vielfältige Kontroversen und Konflikte gekennzeichnet, in denen die Beziehungen zwischen einem «Wir» und den «Anderen» neu ausgehandelt werden. Auf der politischen Ebene hat dies zu einer Polarisierung geführt zwischen jenen, die Einwanderung als Bedrohung verstehen und nationale Vorstellungen von Identität konservieren möchten, und jenen, die migrationsbedingte Vielfalt als Bereicherung verstehen.

Für eine Pluralisierung statt Polarisierung

Was in diesen binären Modellen zu kurz kommt, sind Sichtweisen, die diese Polarisierung überwinden und ihr eine pragmatisch-realistische Haltung entgegensetzen. INES setzt sich ein für eine Perspektive, die Migration und die damit verbundene Pluralisierung weder als gut noch als schlecht betrachtet, sondern als Tatsachen in einer von Kriegen, Wohlstandsunterschieden, Klimakatastrophen, globalisierter Kommunikation und Mobilität geprägten Welt. Tatsachen, die sowohl neue Möglichkeiten eröffnen als auch Herausforderungen mit sich bringen.

Es gilt, diese postmigrantische Realität der Schweiz im Sinne der Verfassung und ihrer Werte zu gestalten: demokratisch, freiheitlich, solidarisch, menschenrechtsbasiert und sozial gerecht. Die, die heute schon da sind, und die, die morgen noch kommen werden, sind faktisch Mitglieder derselben Schicksalsgemeinschaft. Dieses Eingeständnis schafft Gestaltungsräume und ebnet den Weg zu einer neuen Zukunft. Vonnöten ist ein Austausch darüber, wer und was die Schweiz ausmacht und was sie sein kann und will.

INES hat sich der Aufgabe gestellt, diesen Fragen nachzugehen. Nebst einem historischen Rückblick und einer Gegenwartsanalyse begeben sich verschiedene Akteur*innen in unserem Handbuch auf die Suche nach einem neuen Gemeinsinn und einer neuen Demokratie im Zeitalter der Migration und Globalisierung. Ihre Beiträge sind ebenso dezidiert wie ergebnisoffen, behutsam und lautstark sowie ernsthaft und ironisch zugleich und formulieren damit ein Gesprächsangebot für eine gemeinsame Zukunft.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 18. Januar 2021 auf dem Blog von NCCR on the move.


Referenz:

Redaktionsteam: Anisha Imhasly, Rohit Jain, Manuel Krebs, Tarek Naguib, Shirana Shahbazi.

Mit Texten von Said Adrus, Cenk Akdoğanbulut, Izabel Barros, Yania Betancourt Garcia, Léa Aimée Birrer, Bla*Sh, Irena Brežná,, Ntando Cele, Pascal Claude, Serena Owusua Dankwa, Paola De Martin, Asmaa Dehbi, Fanny de Weck, Kadiatou Diallo, Mo Diener, Jovita dos Santos Pinto, Rahel El-Maawi, Samira El-Maawi, Kijan Espahangizi, Nina Fargahi, Michael Felix Grieder, Dominik Gross, Charles Heller, Anisha Imhasly, Rohit Jain, Shpresa Jashari, Jurczok 1001, Mardoché Kabengele, Renato Kaiser, Meral Kaya, Milenko Lazić, Katharina Morawek, Fatima Moumouni, Melinda Nadj Abonji, Marianne Naeff, Tarek Naguib, André Nicacio Lima, Simon Noori, Massimo Perinelli, Maria-Cecilia Quadri, Dragica Rajčić Holzner, Nora Refaeil, Roma Jam Session art Kollektiv, Bafta Sarbo, Sarah Schilliger, Franziska Schutzbach, Schwarzfeministisches Kollektiv, Henri Michel Yéré.

 

 

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KategorienSchweizer Geschichte, Schweizer PolitikThemen
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