Die Geschichte einer Zangengeburt: Die Mutterschaftsversicherung

Seit Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts kämpf­ten (vor allem) Frau­en kon­stant und inten­siv für die Errich­tung einer Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung. Es gelang ihnen dabei, Druck auf Bun­des­rat und Par­la­ment aus­zu­üben. Aber die Stimm­be­völ­ke­rung hiess erst beim sechs­ten Anlauf an der Urne eine Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung gut. Wie las­sen sich die häu­fi­gen Nie­der­la­gen der Ein­füh­rung einer Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung an der Urne erklä­ren? Dem geht der fol­gen­de Arti­kel nach. 

Im Dezem­ber 1984 stimm­te die Schwei­zer Stimm­be­völ­ke­rung über eine Volks­in­itia­ti­ve der Orga­ni­sa­ti­on für die Sache der Frau (Ofra) ab. Neben der Ein­füh­rung eines min­des­tens 16-wöchi­gen Mut­ter­schafts­ur­laubs ver­lang­te die Initia­ti­ve für erwerbs­tä­ti­ge Eltern einen bezahl­ten Eltern­ur­laub von min­des­tens neun Mona­ten. Die Initia­ti­ve erlitt damals ordent­lich Schiff­bruch und ging als Vor­la­ge mit dem bis­her zehnt­schlech­tes­ten Abstim­mungs­re­sul­tat in die Geschich­te der Schwei­zer Volks­ab­stim­mun­gen ein (15.8% Ja).

Konstanter Druck von Seiten der Frauen

Die Deut­lich­keit die­ses Volks­ver­dikts soll nicht dar­über hin­weg­täu­schen, wie bedeu­tend der Ein­fluss ver­schie­dens­ter Frau­en auf dem lan­gen und stei­ni­gen Weg hin zu einer Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung in der Schweiz war. Bereits lan­ge vor Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts setz­ten sich lin­ke und bür­ger­li­che Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen für die Schaf­fung einer Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung ein.

Seit Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts schu­fen Bun­des­rat und Par­la­ment ins­ge­samt vier Revi­si­ons­pro­jek­te zur Errich­tung einer Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung. Dies gelang nicht zuletzt auf­grund Druck diver­ser par­la­men­ta­ri­scher Vor­stös­se und zwei­er Volks­in­itia­ti­ven – eine davon die oben erwähn­te. Bis auf das letz­te die­ser Pro­jek­te schei­ter­ten sie aber alle­samt und eben­so wie die Volks­in­itia­ti­ven an der Urne (sie­he Infobox).

Wie auch schon bei der Erar­bei­tung der 1999 vors Volk kom­men­den Vor­la­ge waren an der schluss­end­lich obsie­gen­den Vari­an­te Poli­ti­ke­rin­nen mass­geb­lich betei­ligt: Drei Par­la­men­ta­rie­rin­nen und ein Par­la­men­ta­ri­er – Jac­que­line Fehr (SP), Ursu­la Hal­ler (SVP), Thé­rè­se Mey­er-Käl­in (CVP) und Pierre Tri­po­nez (FDP) – erar­bei­te­ten 2001 einen par­tei­über­grei­fen­den Kom­pro­miss­vor­schlag in Form einer par­la­men­ta­ri­schen Initia­ti­ve. Die­ser über­zeug­te mit der Lösung einer über die Erwerbs­er­satz­ord­nung (EO) finan­zier­ten Lohn­aus­fall­ent­schä­di­gung 2004 zu guter Letzt auch die Stimmbevölkerung.

Die Stimmbevölkerung und die Wirtschaft als Vetospieler

Im Fal­le der Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung agier­te die Stimm­be­völ­ke­rung also klar als Brem­se. Was waren Grün­de für die wie­der­hol­te Ableh­nung an der Urne?

Zum einen erfuhr die Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung sehr lan­ge kon­stan­ten Wider­stand von Sei­ten der Wirt­schaft, die pro­mi­nent vor hohen Mehr­kos­ten warn­te und auf bestehen­de Lösun­gen (sie­he Info­box) ver­wies. Mit zuneh­men­der Betei­li­gung der Frau­en am Arbeits­markt gewann die Fra­ge nach einer finan­zier­ba­ren und für die Wirt­schaft ver­träg­li­chen Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung schliess­lich an Bedeu­tung. Eher lang­sam setz­te sich schliess­lich die Über­zeu­gung durch, dass eine Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung die Wirt­schaft im Schnitt gar finan­zi­ell ent­las­ten könnte.

Das mehr­fa­che Nein der Stimm­be­völ­ke­rung ist sicher­lich auch als Aus­druck der star­ken Ver­an­ke­rung des tra­di­tio­nel­len Fami­li­en­bil­des in der Schweiz zu ver­ste­hen. Die erwerbs­tä­ti­ge Mut­ter pass­te nicht ins Bild, respek­ti­ve sie wur­de gedul­det, aber nicht als unter­stüt­zungs­wür­dig betrachtet.

Hier schliesst auch die Beob­ach­tung an, dass die CVP im Par­la­ment die Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung zwar stets unter­stütz­te oder gar vor­an­trieb, jedoch im Unter­schied zu den lin­ken Par­tei­en eher zum Schut­ze der Fami­lie (und in frü­hen Jah­ren auch zur Ver­hin­de­rung von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen aus finan­zi­el­len Eng­päs­sen) und nicht in ers­ter Linie zum Schut­ze der erwerbs­tä­ti­gen Frau. Bis und mit 1999 lehn­te die Anhän­ger­schaft der CVP eine Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung an der Urne mehr­heit­lich ab, obwohl die Pro­jek­te jeweils auch Leis­tun­gen für nicht­er­werbs­tä­ti­ge Müt­ter beinhal­tet hat­ten. Sympathisant:innen der SVP lehn­ten die Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung gar bis zuletzt ab.

Von der Maximalforderung zur Minimalvariante

Ein wei­te­rer Grund für die schwa­che Unter­stüt­zung der Revi­sio­nen an der Urne liegt eben­falls dar­in, dass die Reform­pro­jek­te oft­mals zu vie­le Angriffs­flä­chen boten. So etwa war die Ein­füh­rung der Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung lan­ge in eben­falls umstrit­te­ne Kran­ken­ver­si­che­rungs­re­vi­sio­nen ein­ge­baut wor­den. Die 1999 abge­lehn­te Vari­an­te hät­te etwa zusätz­lich einen vier­wö­chi­gen Adop­ti­ons­ur­laub beinhal­tet, was das Refe­ren­dums­ko­mi­tee als «unnö­ti­gen Luxus» bezeich­ne­te. Als kom­pro­miss­fä­hig erwies sich letzt­lich nur eine abge­speck­te Mini­mal­va­ri­an­te für erwerbs­tä­ti­ge Müt­ter mit einem Zücker­chen für die Män­ner: Mit Annah­me der Vor­la­ge war die Grund­ent­schä­di­gung für Armee­dienst­leis­ten­de auf 80 Pro­zent ange­ho­ben worden.

Mit einem Lohn­er­satz­an­spruch von 80 Pro­zent wäh­rend einer Dau­er von 14 Wochen – bis 2020 ohne ergän­zen­den Eltern- oder Vater­schafts­ur­laub – bewegt sich die Schweiz im euro­päi­schen Ver­gleich bezüg­lich der Gross­zü­gig­keit der Leis­tun­gen bei Mut­ter­schaft am unte­ren Rand. Dass seit­her nicht ver­stärkt ver­sucht wor­den war, die Leis­tun­gen aus­zu­bau­en, mag damit zu tun haben, dass der bezahl­te Mut­ter­schafts­ur­laub den Frau­en zwar den not­wen­di­gen Schutz bie­tet, dass er sich mit zuneh­men­der Dau­er ohne ent­spre­chen­de Urlaubs­mög­lich­kei­ten für den Part­ner für deren Inte­gra­ti­on in den Arbeits­markt eher als hin­der­lich erweist. In dem Sin­ne war die Ver­knüp­fung des Mut­ter­schafts- mit dem Eltern­ur­laub in der Ofra-Initia­ti­ve nur kon­se­quent hin­sicht­lich Erfül­lung des Ziels einer aus­ge­wo­ge­ne­ren Rol­len­ver­tei­lung zwi­schen den Geschlech­tern, sowohl in der Fami­lie als auch im Erwerbsleben. 


Refe­renz:

  • Ger­ber, Mar­lè­ne (2021). Die Geschich­te einer Zan­gen­ge­burt: die Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung. In Dem Lauf­git­ter ent­kom­men: Frau­en­for­de­run­gen im eid­ge­nös­si­schen Par­la­ment seit 1950, hg. Mar­lè­ne Ger­ber & Anja Hei­del­ber­ger (313–43). Zürich, Genf: Seis­mo Verlag.

Bild: Sozi­al­ar­chiv

 

Der Weg zur Mutterschaftsversicherung

Mit der Schaf­fung des eid­ge­nös­si­schen Fabrik­ge­set­zes 1877 ver­häng­te der Gesetz­ge­ber für Müt­ter ein acht­wö­chi­ges Arbeits­ver­bot nach der Geburt, ent­schä­dig­te sie aber nicht für den damit ein­her­ge­hen­den Einkommensverlust.

Mit dem Kran­ken- und Unfall­ver­si­che­rungs­ge­setz (1918) erhiel­ten Frau­en die Mög­lich­keit, eine frei­wil­li­ge Tag­geld­ver­si­che­rung abzu­schlies­sen. Die­se konn­te den Erwerbs­aus­fall zwar min­dern, aber nicht kom­pen­sie­ren (und längst nicht alle konn­ten sich die­se leisten).

1945 schuf die (männ­li­che) Stimm­be­völ­ke­rung mit 76.3% Ja-Stim­men den Ver­fas­sungs­auf­trag zur Errich­tung einer Mutterschaftsversicherung.

Ab 1972 sah das Obli­ga­tio­nen­recht vor, dass Arbeit­ge­ben­de zu einer Lohn­fort­zah­lungs­pflicht bei einem Arbeits­aus­fall wegen Schwan­ger­schaft oder Nie­der­kunft ver­pflich­tet sind. Die Dau­er der Lohn­fort­zah­lungs­pflicht war jedoch abhän­gig von der­je­ni­gen des Anstellungsverhältnisses.

Die von der SP und dem Gewerk­schafts­bund lan­cier­te Volks­in­itia­ti­ve «für eine sozia­le Kran­ken­ver­si­che­rung» sowie ein Gegen­ent­wurf, die einen bezahl­ten Mut­ter­schafts­ur­laub mit­tels Kran­ken­ver­si­che­rungs­re­vi­si­on ein­füh­ren woll­ten, schei­ter­ten 1974 an der Urne.

1984 schei­ter­te die Volks­in­itia­ti­ve «für einen wirk­sa­men Schutz der Mut­ter­schaft» (Ofra-Initia­ti­ve; sie­he oben – 15.8% Ja).

1987 lehn­te die Stimm­be­völ­ke­rung trotz Unter­stüt­zung aller Bun­des­rats­par­tei­en eine Kran­ken­ver­si­che­rungs­re­vi­si­on ab, die die Schaf­fung einer Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung beinhal­tet hät­te (28.7%). Das Refe­ren­dum ergrif­fen Akteu­re aus dem Gesund­heits­we­sen und der Gewerbeverband.

1999 ergriff die Jun­ge SVP, unter­stützt von den Prä­si­den­ten des Arbeit­ge­ber­ver­bands und des Gewer­be­ver­bands, das Refe­ren­dum gegen ein neu geschaf­fe­nes Bun­des­ge­setz über die Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung. Der Ja-Anteil an der Volks­ab­stim­mung betrug 39.0%.

55.5% der Stim­men­den befür­wor­te­ten 2004 eine Ände­rung der Erwerbs­er­satz­ord­nung, die knapp 60 Jah­re nach dem Ver­fas­sungs­auf­trag die Ein­füh­rung der Mut­ter­schafts­ver­si­che­rung ermög­lich­te. Das Refe­ren­dum gegen die Vor­la­ge ergriff die SVP.

 

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