Der grosse Wurf auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter in der AHV

Eines der gleich­stel­lungs­po­li­ti­schen Haupt­pro­ble­me der AHV war lan­ge Zeit die unter­schied­li­che Behand­lung der Frau­en je nach Zivil­stand. Grund dafür war vor allem die Ori­en­tie­rung an einem tra­di­tio­nel­len Fami­li­en­bild. Nach­dem gros­se gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Revi­sio­nen in die­sem The­men­be­reich immer wie­der ver­scho­ben wor­den waren, gelang 1995 in der 10. AHV-Revi­si­on etwas, das in der Schwei­zer Poli­tik eher sel­ten ist: eine gros­se Systemumstellung.

Die Ausgangslage: Die Schaffung der AHV

1947 schu­fen die Stimm­bür­ger mit 80 Pro­zent Ja-Stim­men die Alters- und Hin­ter­las­se­nen­ver­si­che­rung (AHV): Bei­trags­pflich­tig soll­ten alle ver­si­cher­ten Per­so­nen sein – mit Aus­nah­me der nicht­er­werbs­tä­ti­gen Ehe­frau­en, der Wit­wen und der im Betrieb des Ehe­man­nes ohne Lohn mit­ar­bei­ten­den Ehe­frau­en. Beim Errei­chen des Ren­ten­al­ters erhiel­ten allein­ste­hen­de Per­so­nen eine ein­fa­che Alters­ren­te und Ehe­paa­re eine Ehe­paar-Alters­ren­te in der Höhe von 160 Pro­zent der ein­fa­chen Altersrente.

Kei­ne Bevöl­ke­rungs­grup­pe war in der AHV bei ihrer Schaf­fung 1947 schlech­ter gestellt als geschie­de­ne Frau­en. Die­se hat­ten ab 65 Jah­ren anfäng­lich nur Anrecht auf eine auf ihren eige­nen, meis­tens sehr spär­li­chen Bei­trä­gen beru­hen­de und um die feh­len­den Bei­trags­jah­re gekürz­te ein­fa­che Alters­ren­te oder auf eine aus­ser­or­dent­li­che Alters­ren­te von CHF 900. An der Ren­te der Män­ner änder­te eine Schei­dung hin­ge­gen nichts. Bis zur 10. AHV-Revi­si­on gelan­gen in die­sem Bereich zwar klei­ne Ver­bes­se­run­gen, ins­ge­samt blieb die Situa­ti­on für die geschie­de­nen Frau­en jedoch auch nach meh­re­ren AHV-Revi­sio­nen schlecht.

Wit­wen erhiel­ten – solan­ge sie Kin­der hat­ten oder min­des­tens fünf Jah­re ver­hei­ra­tet waren – eine Wit­wen­ren­te, deren Höhe von ihrem Alter bei der Ver­wit­wung abhän­gig war. Ab einer Ver­wit­wung mit 40 Jah­ren erhiel­ten sie bei­spiels­wei­se eine 50-pro­zen­ti­ge Alters­ren­te, konn­ten aber sel­ber kei­ne zusätz­li­che Ren­te anhäu­fen, auch wenn sie neben der Ren­te noch arbei­te­ten. Mit 65 Jah­ren hat­ten sie Anrecht auf eine ein­fa­che Alters­ren­te, die auf den Bei­trä­gen ihrer ver­stor­be­nen Ehe­män­ner beruhte.

Auch für ver­hei­ra­te­te Frau­en erga­ben sich beim AHV-Bezug teil­wei­se Pro­ble­me. So hat­te der Ehe­mann gemäss ZGB eine Unter­halts­pflicht für sei­ne Frau und Kin­der, wes­halb er – aus­ser bei Ver­nach­läs­si­gung der Fami­lie oder Tren­nung – im Gegen­zug auch allei­ni­ger Anspruchs­be­rech­tig­ter auf die Ehe­paar­ren­te war. Zwar erhiel­ten die Ehe­frau­en in der 8. AHV-Revi­si­on einen Anspruch auf die Hälf­te der Ehe­paar­ren­ten, wei­ter­ge­hen­de For­de­run­gen etwa nach einem Split­ting, also einer hälf­ti­gen Anrech­nung sämt­li­cher Bei­trä­ge der Ehe­part­ner sowie einer hälf­ti­gen Aus­zah­lung der Ren­te, blie­ben jedoch ungehört.

Ledi­ge Frau­en konn­ten anfäng­lich wie die Män­ner mit 65 Jah­ren eine Ren­te bezie­hen, wäh­rend ver­hei­ra­te­te Män­ner für ihre Ehe­frau­en bereits ab deren 60. Alters­jahr eine Ehe­paar-Ren­te, spä­ter gar ab deren 45. Alters­jahr eine Zusatz­ren­te erhiel­ten. Mit Ver­weis auf die schwe­ren Beru­fe der Frau­en, auf ihre um 30–40 Pro­zent tie­fe­ren Löh­ne und auf die grös­se­re Belas­tung der AHV durch Män­ner als durch Frau­en – Män­ner konn­ten mit ihren Bei­trä­gen 160-pro­zen­ti­ge Ehe­paar­ren­ten, Wit­wen- und Wai­sen­ren­ten aus­lö­sen, Frau­en ledig­lich ein­fa­che Ren­ten – wur­de das Ren­ten­al­ter 1956 auf 63 Jah­re und 1963 auf 62 Jah­re redu­ziert. In der Fol­ge domi­nier­te jedoch die For­de­rung nach einer erneu­ten Erhö­hung des Frauenrentenalters.

Der grosse Umbruch in der 10. AHV-Revision

Die ers­ten neun Revi­sio­nen der AHV brach­ten im Bereich der Gleich­stel­lung zwi­schen den Geschlech­tern nur klei­ne Ver­bes­se­run­gen – oft­mals wur­den die ent­spre­chen­den For­de­run­gen auf spä­te­re Revi­sio­nen ver­scho­ben. So war denn die 10. AHV-Revi­si­on auch als gros­se Frau­en­re­vi­si­on ange­kün­digt wor­den, hielt die­ses Ver­spre­chen anfangs jedoch nicht: Trotz ent­spre­chen­der For­de­run­gen woll­te der Bun­des­rat auf die Ein­füh­rung eines Split­tings verzichten.

Nach hit­zi­gen Debat­ten und einer Rück­wei­sung an die Kom­mis­si­on gelang dem Par­la­ment schliess­lich der gros­se Wurf einer Sys­tem­um­stel­lung, auch auf­grund des gros­sen Drucks aus der Zivil­ge­sell­schaft: Neu wur­de ein Indi­vi­du­al­ren­ten­sys­tem ein­ge­führt, durch das neu auch nicht­er­werbs­tä­ti­ge Ehe­frau­en ihre eige­ne AHV auf­bau­en konn­ten, indem die Ein­kom­men von Ehe­paa­ren hälf­tig der Ehe­frau und dem Ehe­mann ange­rech­net wur­den. Gleich­zei­tig wur­den auch Erzie­hungs- und Betreu­ungs­gut­schrif­ten ein­ge­führt, wel­che – eben­falls hälf­tig geteilt – Eltern von min­der­jäh­ri­gen Kin­dern als AHV-Bei­trä­ge ange­rech­net wurden.

Mit die­ser Umstel­lung konn­te auf einen Schlag eine Rei­he von gleich­stel­lungs­po­li­ti­schen Pro­ble­men bei der AHV gelöst wer­den. So konn­ten sich nun im Prin­zip alle Frau­en, unab­hän­gig ihres Zivil­stands, eine eige­ne Ren­te auf­bau­en, wodurch sich bei­spiels­wei­se ihr Armuts­ri­si­ko im Alter bei Schei­dung oder Ver­wit­wung redu­zier­te. Finan­ziert wur­den die­se Ände­run­gen durch eine Erhö­hung des Frau­en­ren­ten­al­ters auf 64 Jah­re. Obwohl Letz­te­res stark umstrit­ten war, nah­men 1995 60.7 Pro­zent aller Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger die 10. AHV-Reform an der Urne an.

Aktuelle Entwicklungen

Seit die­ser gros­sen Revi­si­on 1995 steht im AHV-Bereich die Erhö­hung des Frau­en­ren­ten­al­ters auf 65 Jah­re im Zen­trum der Debat­ten. Die For­de­rung wur­de seit­her in sämt­li­che Reform­pro­jek­te auf­ge­nom­men – auch in die aktu­el­le Reform «AHV 21» –, wor­auf die­se bis­her jeweils abge­lehnt wur­den. Neu­en Druck erfährt die Poli­tik zudem bei der Fra­ge der Wit­wer­ren­te, die eben­falls in der 10. AHV-Revi­si­on geschaf­fen wor­den war: Der EGMR erach­tet die gross­zü­gi­ge­re Aus­ge­stal­tung der Wit­wen- gegen­über der Wit­wer­ren­te als dis­kri­mi­nie­rend, wes­halb nun dis­ku­tiert wird, ob die Wit­wer­ren­te aus- oder die Wit­wen­ren­te abge­baut wer­den soll.

Fazit

Der Sys­tem­wech­sel 1995 hat die gröss­ten gleich­stel­lungs­po­li­ti­schen Pro­ble­me der AHV gelöst, was auch ein Blick auf den Gen­der Pen­si­on Gap zeigt: So erhal­ten Frau­en durch­schnitt­lich eine nur 2.7 Pro­zent tie­fe­re AHV-Ren­te als Män­ner (Flu­der et al. 2016). Die gros­sen Unter­schie­de in der Alters­vor­sor­ge stam­men statt­des­sen aus der beruf­li­chen Vor­sor­ge, wo der Gen­der Pen­si­on Gap 63 Pro­zent beträgt (Flu­der et al. 2016). Bis heu­te sind näm­lich die seit lan­gem bekann­ten gros­sen Pro­ble­me in der 2. Säu­le, ins­be­son­de­re beim Koor­di­na­ti­ons­ab­zug und bei der Ein­tritts­schwel­le – im Gegen­satz zur AHV – nicht gelöst.


Refe­renz:

  • Hei­del­ber­ger, Anja (2021). Gleich­stel­lung in den Sozi­al­ver­si­che­run­gen – zwi­schen Aus­bau, Abbau und Umbau. In Dem Lauf­git­ter ent­kom­men: Frau­en­for­de­run­gen im eid­ge­nös­si­schen Par­la­ment seit 1950, hg. Mar­lè­ne Ger­ber & Anja Hei­del­ber­ger (393–448). Zürich, Genf: Seis­mo Verlag.
  • Flu­der, Robert, Rena­te Salz­ge­ber, Luzi­us von Gun­ten, Dori­an Kess­ler und Regi­ne Fan­k­hau­ser, Regi­ne (2016). Gen­der Pen­si­on Gap in der Schweiz: geschlechts­spe­zi­fi­sche Unter­schie­de bei den Alters­ren­ten: Schluss­be­richt (Bei­trä­ge zur sozia­len Sicher­heit: For­schungs­be­richt 12). Bern: Bun­des­amt für Sozi­al­ver­si­che­run­gen BSV.

Bild: unsplash.com

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