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Der grosse Wurf auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter in der AHV

Anja Heidelberger
17th Dezember 2021

Eines der gleichstellungspolitischen Hauptprobleme der AHV war lange Zeit die unterschiedliche Behandlung der Frauen je nach Zivilstand. Grund dafür war vor allem die Orientierung an einem traditionellen Familienbild. Nachdem grosse gleichstellungspolitische Revisionen in diesem Themenbereich immer wieder verschoben worden waren, gelang 1995 in der 10. AHV-Revision etwas, das in der Schweizer Politik eher selten ist: eine grosse Systemumstellung.

Die Ausgangslage: Die Schaffung der AHV

1947 schufen die Stimmbürger mit 80 Prozent Ja-Stimmen die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV): Beitragspflichtig sollten alle versicherten Personen sein – mit Ausnahme der nichterwerbstätigen Ehefrauen, der Witwen und der im Betrieb des Ehemannes ohne Lohn mitarbeitenden Ehefrauen. Beim Erreichen des Rentenalters erhielten alleinstehende Personen eine einfache Altersrente und Ehepaare eine Ehepaar-Altersrente in der Höhe von 160 Prozent der einfachen Altersrente.

Keine Bevölkerungsgruppe war in der AHV bei ihrer Schaffung 1947 schlechter gestellt als geschiedene Frauen. Diese hatten ab 65 Jahren anfänglich nur Anrecht auf eine auf ihren eigenen, meistens sehr spärlichen Beiträgen beruhende und um die fehlenden Beitragsjahre gekürzte einfache Altersrente oder auf eine ausserordentliche Altersrente von CHF 900. An der Rente der Männer änderte eine Scheidung hingegen nichts. Bis zur 10. AHV-Revision gelangen in diesem Bereich zwar kleine Verbesserungen, insgesamt blieb die Situation für die geschiedenen Frauen jedoch auch nach mehreren AHV-Revisionen schlecht.

Witwen erhielten – solange sie Kinder hatten oder mindestens fünf Jahre verheiratet waren – eine Witwenrente, deren Höhe von ihrem Alter bei der Verwitwung abhängig war. Ab einer Verwitwung mit 40 Jahren erhielten sie beispielsweise eine 50-prozentige Altersrente, konnten aber selber keine zusätzliche Rente anhäufen, auch wenn sie neben der Rente noch arbeiteten. Mit 65 Jahren hatten sie Anrecht auf eine einfache Altersrente, die auf den Beiträgen ihrer verstorbenen Ehemänner beruhte.

Auch für verheiratete Frauen ergaben sich beim AHV-Bezug teilweise Probleme. So hatte der Ehemann gemäss ZGB eine Unterhaltspflicht für seine Frau und Kinder, weshalb er – ausser bei Vernachlässigung der Familie oder Trennung – im Gegenzug auch alleiniger Anspruchsberechtigter auf die Ehepaarrente war. Zwar erhielten die Ehefrauen in der 8. AHV-Revision einen Anspruch auf die Hälfte der Ehepaarrenten, weitergehende Forderungen etwa nach einem Splitting, also einer hälftigen Anrechnung sämtlicher Beiträge der Ehepartner sowie einer hälftigen Auszahlung der Rente, blieben jedoch ungehört.

Ledige Frauen konnten anfänglich wie die Männer mit 65 Jahren eine Rente beziehen, während verheiratete Männer für ihre Ehefrauen bereits ab deren 60. Altersjahr eine Ehepaar-Rente, später gar ab deren 45. Altersjahr eine Zusatzrente erhielten. Mit Verweis auf die schweren Berufe der Frauen, auf ihre um 30-40 Prozent tieferen Löhne und auf die grössere Belastung der AHV durch Männer als durch Frauen – Männer konnten mit ihren Beiträgen 160-prozentige Ehepaarrenten, Witwen- und Waisenrenten auslösen, Frauen lediglich einfache Renten – wurde das Rentenalter 1956 auf 63 Jahre und 1963 auf 62 Jahre reduziert. In der Folge dominierte jedoch die Forderung nach einer erneuten Erhöhung des Frauenrentenalters.

Der grosse Umbruch in der 10. AHV-Revision

Die ersten neun Revisionen der AHV brachten im Bereich der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern nur kleine Verbesserungen – oftmals wurden die entsprechenden Forderungen auf spätere Revisionen verschoben. So war denn die 10. AHV-Revision auch als grosse Frauenrevision angekündigt worden, hielt dieses Versprechen anfangs jedoch nicht: Trotz entsprechender Forderungen wollte der Bundesrat auf die Einführung eines Splittings verzichten.

Nach hitzigen Debatten und einer Rückweisung an die Kommission gelang dem Parlament schliesslich der grosse Wurf einer Systemumstellung, auch aufgrund des grossen Drucks aus der Zivilgesellschaft: Neu wurde ein Individualrentensystem eingeführt, durch das neu auch nichterwerbstätige Ehefrauen ihre eigene AHV aufbauen konnten, indem die Einkommen von Ehepaaren hälftig der Ehefrau und dem Ehemann angerechnet wurden. Gleichzeitig wurden auch Erziehungs- und Betreuungsgutschriften eingeführt, welche – ebenfalls hälftig geteilt – Eltern von minderjährigen Kindern als AHV-Beiträge angerechnet wurden.

Mit dieser Umstellung konnte auf einen Schlag eine Reihe von gleichstellungspolitischen Problemen bei der AHV gelöst werden. So konnten sich nun im Prinzip alle Frauen, unabhängig ihres Zivilstands, eine eigene Rente aufbauen, wodurch sich beispielsweise ihr Armutsrisiko im Alter bei Scheidung oder Verwitwung reduzierte. Finanziert wurden diese Änderungen durch eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf 64 Jahre. Obwohl Letzteres stark umstritten war, nahmen 1995 60.7 Prozent aller Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die 10. AHV-Reform an der Urne an.

Aktuelle Entwicklungen

Seit dieser grossen Revision 1995 steht im AHV-Bereich die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre im Zentrum der Debatten. Die Forderung wurde seither in sämtliche Reformprojekte aufgenommen – auch in die aktuelle Reform «AHV 21» –, worauf diese bisher jeweils abgelehnt wurden. Neuen Druck erfährt die Politik zudem bei der Frage der Witwerrente, die ebenfalls in der 10. AHV-Revision geschaffen worden war: Der EGMR erachtet die grosszügigere Ausgestaltung der Witwen- gegenüber der Witwerrente als diskriminierend, weshalb nun diskutiert wird, ob die Witwerrente aus- oder die Witwenrente abgebaut werden soll.

Fazit

Der Systemwechsel 1995 hat die grössten gleichstellungspolitischen Probleme der AHV gelöst, was auch ein Blick auf den Gender Pension Gap zeigt: So erhalten Frauen durchschnittlich eine nur 2.7 Prozent tiefere AHV-Rente als Männer (Fluder et al. 2016). Die grossen Unterschiede in der Altersvorsorge stammen stattdessen aus der beruflichen Vorsorge, wo der Gender Pension Gap 63 Prozent beträgt (Fluder et al. 2016). Bis heute sind nämlich die seit langem bekannten grossen Probleme in der 2. Säule, insbesondere beim Koordinationsabzug und bei der Eintrittsschwelle – im Gegensatz zur AHV – nicht gelöst.


Referenz:

  • Heidelberger, Anja (2021). Gleichstellung in den Sozialversicherungen – zwischen Ausbau, Abbau und Umbau. In Dem Laufgitter entkommen: Frauenforderungen im eidgenössischen Parlament seit 1950, hg. Marlène Gerber & Anja Heidelberger (393–448). Zürich, Genf: Seismo Verlag.
  • Fluder, Robert, Renate Salzgeber, Luzius von Gunten, Dorian Kessler und Regine Fankhauser, Regine (2016). Gender Pension Gap in der Schweiz: geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Altersrenten: Schlussbericht (Beiträge zur sozialen Sicherheit: Forschungsbericht 12). Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen BSV.

Bild: unsplash.com