Die Grenzen der Verflechtung

Der For­de­rung nach einem neu­en natio­na­len Koor­di­na­ti­ons­gre­mi­um und einer ver­stärk­ten Zusam­men­ar­beit soll­ten grund­le­gen­de staats­po­li­ti­sche Über­le­gun­gen vorausgehen.

Die kri­ti­sche Rück­schau auf den Umgang mit der Coro­na­pan­de­mie ist Anlass, ver­mehrt über den Föde­ra­lis­mus zu dis­ku­tie­ren. Die Kon­fe­renz der Kan­tons­re­gie­run­gen (KdK) hat in ihrer fun­dier­ten Ana­ly­se des Kri­sen­ma­nage­ments Refor­men für die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Kan­to­nen und dem Bund auf­ge­führt – sekun­diert durch ent­spre­chen­de Gast­bei­trä­ge ihres Prä­si­den­ten (NZZ, 27.5.2021). «So soll­te für die Zusam­men­ar­beit zwi­schen Bund und Kan­to­nen künf­tig ein schlan­kes und pari­tä­tisch zusam­men­ge­setz­tes Füh­rungs­gre­mi­um auf poli­ti­scher Ebe­ne ein­ge­setzt wer­den, das die geteil­te Ver­ant­wor­tung der Staats­ebe­nen adäquat abbil­det. Die­ses Gre­mi­um könn­te eine umfas­sen­de und kohä­ren­te Koor­di­na­ti­on sicher­stel­len, regel­mäs­sig Lage­be­ur­tei­lun­gen vor­neh­men und die Grund­la­gen für kla­re und rasche Ent­schei­de von Bun­des­rat und Kan­tons­re­gie­run­gen erarbeiten.»

Dichtes Netz nationaler und regionaler Exekutivgremien

Wie ein sol­ches Koor­di­na­ti­ons- bzw. Füh­rungs­gre­mi­um aus­se­hen könn­te, wur­de in der NZZ (19.10.2021) skiz­ziert: ein drei­köp­fi­ger Kan­tons­aus­schuss des Bun­des­rats plus Bun­des­prä­si­den­t/-in und die Prä­si­di­en der vier regio­na­len Regie­rungs­kon­fe­ren­zen plus Vor­ste­her/-in der KdK.

Sol­che Vor­schlä­ge beflü­geln die poli­ti­schen sowie wis­sen­schaft­li­chen Dis­kur­se, und ich möch­te die red­li­chen Absich­ten nach guter Zusam­men­ar­beit und Koor­di­na­ti­on auch nicht kri­ti­sie­ren. Jedoch las­sen die Vor­schlä­ge wich­ti­ge Aspek­te unbe­ach­tet, die ich in die­sen Zei­len dar­le­gen möch­te: Ers­tens müs­sen grund­le­gen­de staats­po­li­ti­sche Aspek­te in die Über­le­gun­gen ein­flies­sen. Zwei­tens hege ich die Befürch­tung, dass bei all den noch kom­men­den Ana­ly­sen von Aus­wir­kun­gen der Coro­na­pan­de­mie auf den Föde­ra­lis­mus grund­le­gen­de Phä­no­me­ne ein­mal mehr nicht beach­tet wer­den oder – wie in der Ver­gan­gen­heit – es bei der rei­nen Benen­nung der­sel­ben bleibt, anstatt sie zu diskutieren.

Selbst­re­dend kann nach einer Prü­fung ein (wei­te­res) Gre­mi­um und eine (wei­te­re) exe­ku­ti­ve Zusam­men­ar­beit pro­kla­miert wer­den. Aller­dings möch­te ich kri­tisch hin­ter­fra­gen, ob das beschrie­be­ne Gre­mi­um die ange­mes­se­ne Ant­wort ist.

Betrach­ten wir hier­für zuerst ein­mal das bestehen­de dich­te Netz natio­na­ler und regio­na­ler Exe­ku­tiv­gre­mi­en: Dies sind – je nach Zähl­wei­se – 45 bis 50 an der Zahl, ohne Berück­sich­ti­gung län­der­über­grei­fen­der Gre­mi­en und im Rah­men eines spe­zi­fi­schen Kon­kor­dats geschaf­fe­ner Exe­ku­tiv­gre­mi­en (ein Bei­spiel hier­für folgt sogleich). So sind die Regie­run­gen der Ost­schwei­zer Kan­to­ne durch­schnitt­lich in 16 natio­na­len und regio­na­len Regie­rungs- und Direk­to­ren­kon­fe­ren­zen ver­tre­ten. Die­ses dich­te Netz an Exe­ku­tiv­gre­mi­en ist – wie auch deren Kom­pe­ten­zen – typisch schweizerisch.

Parlamentsmitwirkungsdefizit

Ein staats­po­li­tisch kri­ti­scher Aspekt die­ser Gre­mi­en ist ein mög­li­ches Demo­kra­tie- bezie­hungs­wei­se Par­la­ments­mit­wir­kungs­de­fi­zit. Hier wer­den haupt­säch­lich zwei Gegen­ar­gu­men­te ange­führt – ers­tens: die­se Gre­mi­en hät­ten kei­ne ver­bind­li­chen Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se; zwei­tens: die Mit­glie­der der Kan­tons­re­gie­run­gen sind durch die Volks­wahl demo­kra­tisch legitimiert.

Das Argu­ment feh­len­der Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se trifft indes nur bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung zu. Dies kann am Bei­spiel der Inter­kan­to­na­len Ver­ein­ba­rung über die hoch­spe­zia­li­sier­te Medi­zin (IVHSM) dar­ge­legt wer­den: Das HSM-Beschluss­or­gan, des­sen stimm­be­rech­tig­te Mit­glie­der aus­schliess­lich Gesund­heits­di­rek­to­ren, also Exe­ku­tiv­mit­glie­der sind, «trifft die Pla­nungs- und Zutei­lungs­ent­schei­de. Die Leis­tungs­zu­tei­lun­gen […] haben einen schweiz­weit rechts­ver­bind­li­chen Cha­rak­ter». Wenig über­ra­schend ver­fü­gen eini­ge inter­kan­to­na­le Exe­ku­tiv­gre­mi­en wie die­ses folg­lich über umfas­sen­de finan­zi­el­le und per­so­nel­le Ressourcen.

Zum Argu­ment der Volks­wahl der kan­to­na­len Exe­ku­tiv­mit­glie­der: Ein wich­ti­ger Out­put der Exe­ku­tiv­gre­mi­en sind Ver­ein­ba­run­gen und Ent­schei­de, deren Inhal­te (bezo­gen auf die gere­gel­ten Sach­fra­gen und/oder finan­zi­el­len Kon­se­quen­zen) bedeu­ten­der sind als so man­ches kan­to­na­le Gesetz. Die bis­he­ri­ge ver­ti­ka­le und hori­zon­ta­le Ver­flech­tung ging auf Kos­ten der Par­la­men­te, deren Ent­schei­dungs- und Mit­ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten ein­ge­schränkt wer­den. Da das Par­la­ment (bzw. die Lands­ge­mein­de) gemäss den Kan­tons­ver­fas­sun­gen die höchs­te Behör­de und der Gesetz­ge­ber ist, kann die Volks­wahl der kan­to­na­len Exe­ku­tiv­mit­glie­der nicht der allei­ni­ge Mass­stab für die Beant­wor­tung der Fra­ge nach der Legi­ti­mi­tät die­ser Gre­mi­en sein.

Um auf das Koor­di­na­ti­ons­gre­mi­um zurück­zu­kom­men, müs­sen somit die Aspek­te der Legi­ti­mi­tät sowie der gefor­der­ten schlan­ken und pari­tä­ti­schen Zusam­men­set­zung die­ses Füh­rungs­gre­mi­ums sorg­fäl­tig unter­sucht wer­den. Ein sol­ches Gre­mi­um bedürf­te zwin­gend einer ver­fas­sungs­recht­li­chen Grund­la­ge – auch dann, wenn es ledig­lich «vor­be­rei­ten­de, nicht bin­den­de Ent­schei­de» tref­fen soll.

Doch bis zu einer recht­li­chen Ver­an­ke­rung kämen so man­che Fra­gen auf: Wür­de damit nicht eine wei­te­re Staats­ebe­ne geschaf­fen? Auf wel­cher Grund­la­ge wäre es den Regie­rungs­ver­tre­tern mög­lich, für 26 Kan­to­ne, nota­be­ne in den unter­schied­lichs­ten Poli­tik­fel­dern, zu spre­chen? Wür­de dies nicht die Sou­ve­rä­ni­tät der ein­zel­nen Kan­to­ne ein­schrän­ken? Wie kann die Rück­kop­pe­lung in die Kan­tons­par­la­men­te und die Bun­des­ver­samm­lung sicher­ge­stellt wer­den? Wie soll­te die­ses Gre­mi­um die gewünsch­te Koor­di­na­ti­on, Zusam­men­ar­beit und die not­wen­di­gen Mass­nah­men bes­ser – und im Fal­le einer Pan­de­mie­si­tua­ti­on wohl auch schnel­ler und effek­ti­ver – errei­chen als die bereits bestehen­den? Hat die Bekämp­fung der Pan­de­mie nicht auch gezeigt, was für eine enor­me Her­aus­for­der­dung es für ver­schie­de­ne inter­kan­to­na­le Exe­ku­tiv­gre­mi­en war, kon­so­li­dier­te und ein­heit­li­che (ein­stim­mi­ge) Beschlüs­se nach aus­sen kon­sis­tent zu tragen?

Dritte Staatsebene nicht vergessen

Schliess­lich möch­te ich einen wei­te­ren, eben­falls staats­po­li­ti­schen Gedan­ken anfüh­ren: Bei der Dis­kus­si­on, wie die Kan­to­ne (meis­tens sind ja damit die Kan­tons­re­gie­run­gen gemeint) stär­ker ein­be­zo­gen wer­den könn­ten, gilt es, die drit­te Staats­ebe­ne im Blick zu behal­ten – die rund 2100 Gemein­den, die nicht zuletzt bei der Bekämp­fung der Pan­de­mie unver­zicht­ba­re Arbeit «vor Ort» geleis­tet haben und immer noch leis­ten. Die For­de­rung wird (ver­mehrt) laut wer­den, dass eine (wei­te­re) Stär­kung einer Staats­ebe­ne nicht iso­liert von der/den ande­ren Staatsebene/n dis­ku­tiert oder rea­li­siert wer­den kann.

Nach die­sen Aus­füh­run­gen möch­te ich die zusam­men­fas­sen­de Fra­ge stel­len: Wird die ver­ti­ka­le und hori­zon­ta­le Poli­tik­ge­stal­tung in der aktu­el­len Aus­prä­gung den Bedürf­nis­sen aller Staats­ebe­nen noch gerecht, oder sind nicht prin­zi­pi­el­le staats­po­li­ti­sche Über­le­gun­gen zu Zustän­dig­kei­ten, Legi­ti­mi­tät, Kom­pe­ten­zen, Struk­tu­ren, Koor­di­na­ti­on (zwi­schen Kan­to­nen, Regie­rungs­kon­fe­ren­zen etc.), Rück­kop­pe­lung in Exe­ku­ti­ven und Legis­la­ti­ven notwendig?

Wer­den in der Bekämp­fung der Pan­de­mie Män­gel dia­gnos­ti­ziert, so las­sen sich die­se meis­tens den genann­ten Punk­ten zuord­nen. Wenn Defi­zi­te bei den Gre­mi­en aus­ge­macht wer­den, die auch im Ver­gleich mit dem Aus­land in ihrer hohen Anzahl und ihrer Zustän­dig­kei­ten her­aus­ste­chen, kann ein zusätz­li­ches Gre­mi­um eine Ant­wort sein; sie gleicht aus mei­ner Sicht jedoch eher einer Sym­ptom­be­kämp­fung als einer Behe­bung der Ursachen.


Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien am 16. Novem­ber 2021 in der Neu­en Zür­cher Zei­tung.

Bild: Wiki­me­dia Commons
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