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Die Grenzen der Verflechtung

Michael Strebel
22nd November 2021

Der Forderung nach einem neuen nationalen Koordinationsgremium und einer verstärkten Zusammenarbeit sollten grundlegende staatspolitische Überlegungen vorausgehen.

Die kritische Rückschau auf den Umgang mit der Coronapandemie ist Anlass, vermehrt über den Föderalismus zu diskutieren. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) hat in ihrer fundierten Analyse des Krisenmanagements Reformen für die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen und dem Bund aufgeführt – sekundiert durch entsprechende Gastbeiträge ihres Präsidenten (NZZ, 27.5.2021). «So sollte für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen künftig ein schlankes und paritätisch zusammengesetztes Führungsgremium auf politischer Ebene eingesetzt werden, das die geteilte Verantwortung der Staatsebenen adäquat abbildet. Dieses Gremium könnte eine umfassende und kohärente Koordination sicherstellen, regelmässig Lagebeurteilungen vornehmen und die Grundlagen für klare und rasche Entscheide von Bundesrat und Kantonsregierungen erarbeiten.»

Dichtes Netz nationaler und regionaler Exekutivgremien

Wie ein solches Koordinations- bzw. Führungsgremium aussehen könnte, wurde in der NZZ (19.10.2021) skizziert: ein dreiköpfiger Kantonsausschuss des Bundesrats plus Bundespräsident/-in und die Präsidien der vier regionalen Regierungskonferenzen plus Vorsteher/-in der KdK.

Solche Vorschläge beflügeln die politischen sowie wissenschaftlichen Diskurse, und ich möchte die redlichen Absichten nach guter Zusammenarbeit und Koordination auch nicht kritisieren. Jedoch lassen die Vorschläge wichtige Aspekte unbeachtet, die ich in diesen Zeilen darlegen möchte: Erstens müssen grundlegende staatspolitische Aspekte in die Überlegungen einfliessen. Zweitens hege ich die Befürchtung, dass bei all den noch kommenden Analysen von Auswirkungen der Coronapandemie auf den Föderalismus grundlegende Phänomene einmal mehr nicht beachtet werden oder – wie in der Vergangenheit – es bei der reinen Benennung derselben bleibt, anstatt sie zu diskutieren.

Selbstredend kann nach einer Prüfung ein (weiteres) Gremium und eine (weitere) exekutive Zusammenarbeit proklamiert werden. Allerdings möchte ich kritisch hinterfragen, ob das beschriebene Gremium die angemessene Antwort ist.

Betrachten wir hierfür zuerst einmal das bestehende dichte Netz nationaler und regionaler Exekutivgremien: Dies sind – je nach Zählweise – 45 bis 50 an der Zahl, ohne Berücksichtigung länderübergreifender Gremien und im Rahmen eines spezifischen Konkordats geschaffener Exekutivgremien (ein Beispiel hierfür folgt sogleich). So sind die Regierungen der Ostschweizer Kantone durchschnittlich in 16 nationalen und regionalen Regierungs- und Direktorenkonferenzen vertreten. Dieses dichte Netz an Exekutivgremien ist – wie auch deren Kompetenzen – typisch schweizerisch.

Parlamentsmitwirkungsdefizit

Ein staatspolitisch kritischer Aspekt dieser Gremien ist ein mögliches Demokratie- beziehungsweise Parlamentsmitwirkungsdefizit. Hier werden hauptsächlich zwei Gegenargumente angeführt – erstens: diese Gremien hätten keine verbindlichen Entscheidungsbefugnisse; zweitens: die Mitglieder der Kantonsregierungen sind durch die Volkswahl demokratisch legitimiert.

Das Argument fehlender Entscheidungsbefugnisse trifft indes nur bei oberflächlicher Betrachtung zu. Dies kann am Beispiel der Interkantonalen Vereinbarung über die hochspezialisierte Medizin (IVHSM) dargelegt werden: Das HSM-Beschlussorgan, dessen stimmberechtigte Mitglieder ausschliesslich Gesundheitsdirektoren, also Exekutivmitglieder sind, «trifft die Planungs- und Zuteilungsentscheide. Die Leistungszuteilungen […] haben einen schweizweit rechtsverbindlichen Charakter». Wenig überraschend verfügen einige interkantonale Exekutivgremien wie dieses folglich über umfassende finanzielle und personelle Ressourcen.

Zum Argument der Volkswahl der kantonalen Exekutivmitglieder: Ein wichtiger Output der Exekutivgremien sind Vereinbarungen und Entscheide, deren Inhalte (bezogen auf die geregelten Sachfragen und/oder finanziellen Konsequenzen) bedeutender sind als so manches kantonale Gesetz. Die bisherige vertikale und horizontale Verflechtung ging auf Kosten der Parlamente, deren Entscheidungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Da das Parlament (bzw. die Landsgemeinde) gemäss den Kantonsverfassungen die höchste Behörde und der Gesetzgeber ist, kann die Volkswahl der kantonalen Exekutivmitglieder nicht der alleinige Massstab für die Beantwortung der Frage nach der Legitimität dieser Gremien sein.

Um auf das Koordinationsgremium zurückzukommen, müssen somit die Aspekte der Legitimität sowie der geforderten schlanken und paritätischen Zusammensetzung dieses Führungsgremiums sorgfältig untersucht werden. Ein solches Gremium bedürfte zwingend einer verfassungsrechtlichen Grundlage – auch dann, wenn es lediglich «vorbereitende, nicht bindende Entscheide» treffen soll.

Doch bis zu einer rechtlichen Verankerung kämen so manche Fragen auf: Würde damit nicht eine weitere Staatsebene geschaffen? Auf welcher Grundlage wäre es den Regierungsvertretern möglich, für 26 Kantone, notabene in den unterschiedlichsten Politikfeldern, zu sprechen? Würde dies nicht die Souveränität der einzelnen Kantone einschränken? Wie kann die Rückkoppelung in die Kantonsparlamente und die Bundesversammlung sichergestellt werden? Wie sollte dieses Gremium die gewünschte Koordination, Zusammenarbeit und die notwendigen Massnahmen besser – und im Falle einer Pandemiesituation wohl auch schneller und effektiver – erreichen als die bereits bestehenden? Hat die Bekämpfung der Pandemie nicht auch gezeigt, was für eine enorme Herausforderdung es für verschiedene interkantonale Exekutivgremien war, konsolidierte und einheitliche (einstimmige) Beschlüsse nach aussen konsistent zu tragen?

Dritte Staatsebene nicht vergessen

Schliesslich möchte ich einen weiteren, ebenfalls staatspolitischen Gedanken anführen: Bei der Diskussion, wie die Kantone (meistens sind ja damit die Kantonsregierungen gemeint) stärker einbezogen werden könnten, gilt es, die dritte Staatsebene im Blick zu behalten – die rund 2100 Gemeinden, die nicht zuletzt bei der Bekämpfung der Pandemie unverzichtbare Arbeit «vor Ort» geleistet haben und immer noch leisten. Die Forderung wird (vermehrt) laut werden, dass eine (weitere) Stärkung einer Staatsebene nicht isoliert von der/den anderen Staatsebene/n diskutiert oder realisiert werden kann.

Nach diesen Ausführungen möchte ich die zusammenfassende Frage stellen: Wird die vertikale und horizontale Politikgestaltung in der aktuellen Ausprägung den Bedürfnissen aller Staatsebenen noch gerecht, oder sind nicht prinzipielle staatspolitische Überlegungen zu Zuständigkeiten, Legitimität, Kompetenzen, Strukturen, Koordination (zwischen Kantonen, Regierungskonferenzen etc.), Rückkoppelung in Exekutiven und Legislativen notwendig?

Werden in der Bekämpfung der Pandemie Mängel diagnostiziert, so lassen sich diese meistens den genannten Punkten zuordnen. Wenn Defizite bei den Gremien ausgemacht werden, die auch im Vergleich mit dem Ausland in ihrer hohen Anzahl und ihrer Zuständigkeiten herausstechen, kann ein zusätzliches Gremium eine Antwort sein; sie gleicht aus meiner Sicht jedoch eher einer Symptombekämpfung als einer Behebung der Ursachen.


Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 16. November 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung.

Bild: Wikimedia Commons