Krisen und Migrationspolitisierung: Kontext ist Trumpf

Wel­chen Ein­fluss haben Kri­sen auf die Poli­ti­sie­rung von Migra­ti­on? Die­ser Fra­ge sind wir mit Les­lie Ader und Didier Rue­din in einem jüngst erschie­ne­nen Arti­kel nach­ge­gan­gen, in dem wir soge­nann­te ‘claims’ – Ein­zel­aus­sa­gen und Inter­view­äus­se­run­gen aber auch Abstim­mun­gen oder Pro­tes­te – unter­sucht haben, über die in gros­sen Schwei­zer Print­me­di­en berich­tet wur­de. Unser Ziel: die Poli­ti­sie­rung von Migra­ti­ons­fra­gen im Zeit­ver­lauf und vor einem dezi­dier­ten Kri­sen­hin­ter­grund bes­ser nachzuvollziehen.

Was aber bedeu­tet ‘poli­ti­siert’ genau? Für uns bezeich­net der Begriff die Kom­bi­na­ti­on von Pola­ri­sie­rung und The­men­sa­li­enz. Pola­ri­sie­rung meint, dass es zu einer Fra­ge stark abwei­chen­de und zumeist kon­trä­re Ansich­ten gibt. Wenn etwa SARS-CoV‑2 für Anna ein gefähr­li­ches Virus aber für Den­nis ein bana­ler Grip­pe­er­re­ger ist, dann haben wir es offen­kun­dig mit einem hohen Pola­ri­sie­rungs­po­ten­ti­al zu tun. Eben­so wenn Anna in Donald Trump einen rechts­ra­di­ka­len Dem­ago­gen zu erken­nen glaubt, Den­nis hin­ge­gen die Wie­der­ge­burt von Wil­liam Wal­lace. Sali­enz bezieht sich dem­ge­gen­über auf die Pro­mi­nenz des The­mas im öffent­li­chen Raum. So mögen Anna und Den­nis Trump zwar unter­schied­lich bewer­ten, doch wür­den bei­de nicht umhin­kom­men, ihm eine gewis­se Bedeu­tung zuzu­spre­chen. Viel­leicht sind sie ähn­lich geteil­ter Mei­nung, was das bes­te Café der Stadt oder die Stür­mer­qua­li­tä­ten von Annas Bru­der anbe­langt, doch in die­sen Fäl­len erschöpft sich die The­men­re­le­vanz im All­täg­li­chen und wird in der Regel medi­al nicht wei­ter gespiegelt.

Pola­ri­sie­rung und Sali­enz gehen viel­fach Hand in Hand, auch wenn es durch­aus The­men gibt, die ‘pola­ri­siert’ aber nicht son­der­lich ‘sali­ent’ sind; im heu­ti­gen West­eu­ro­pa bei­spiels­wei­se Abtrei­bungs­de­bat­ten, bei denen der zen­tra­le Ver­ständ­nis­ge­gen­satz Mord/Körperautonomie zwar fort­be­steht aber kaum mehr gesell­schaft­li­ches Erre­gungs­po­ten­ti­al besitzt. Ande­re The­men wie­der­um sind sali­ent aber nicht unbe­dingt pola­ri­siert, etwa Bil­dungs­fra­gen, die zwar leb­haft aber doch mit einer gewis­sen Ein­mü­tig­keit dis­ku­tiert wer­den. Ein poli­ti­sier­tes The­ma ist indes bei­des, pola­ri­siert und sali­ent, wird also sowohl kon­tro­vers als auch öffent­lich­keits­wirk­sam dis­ku­tiert. Unse­re Annah­me: Migra­ti­on ist solch ein The­ma, das noch dazu in Kri­sen­zei­ten stär­ker poli­ti­siert wird als in Nicht­kri­sen­zei­ten – nicht zuletzt, weil sich Migrant*innen als über Jahr­zehn­te kon­stru­ier­te Out­group gut als ‘rhe­to­ri­sche Blitz­ab­lei­ter’ im Kri­sen­ge­wit­ter eignen.

Der Krisenkontext zählt

Um die­se Annah­me zu über­prü­fen, haben wir an die 2’800 claims wäh­rend zwei­er bedeu­ten­der Kri­sen­epi­so­den ana­ly­siert – der Ölkri­se der 1970er- und der Finanz­kri­se der 2000er-Jah­re. In bei­den Fäl­len han­delt es sich um gesell­schafts­prä­gen­de öko­no­mi­sche Schock­mo­men­te; so gilt die Ölkri­se, zumin­dest im Wes­ten, als Was­ser­schei­de zwi­schen der lang­an­hal­ten­den kon­junk­tur­be­ding­ten Auf­bruch­pha­se der Nach­kriegs­zeit und der ‘refle­xi­ven Risi­ko­ge­sell­schaft’ des letz­ten Jahr­hun­dert­vier­tels; die Finanz­kri­se wie­der­um stellt den Aus­gangs­punkt eines bis in unse­re Tage aus­strah­len­den Geflechts an Schulden‑, Wäh­rungs- und Sou­ve­rä­ni­täts­kri­sen dar. Doch so ähn­lich bei­de Kri­sen in ihrer Wirk­mäch­tig­keit auch gewe­sen sein mögen, so ver­schie­den sind die Befun­de unse­rer Ana­ly­se (für Vor­ar­bei­ten sie­he Van der Brug et al. 2015).

Für die Ölkri­se konn­ten wir näm­lich tat­säch­lich ein höhe­res Mass an Pola­ri­sie­rung und Sali­enz fest­stel­len, für die Finanz­kri­se jedoch über­ra­schen­der­wei­se ein gerin­ge­res. Kri­sen kön­nen also durch­aus einen Poli­ti­sie­rungs­ef­fekt haben, der aber kein ‘fait accom­pli’ ist, son­dern mass­geb­lich vom kon­kre­ten Kri­sen­kon­text abhängt. So ergab sich das grös­se­re Poli­ti­sie­rungs­po­ten­ti­al wäh­rend der Ölkri­se aus der Ver­bin­dung von plötz­li­chem Kri­sen­schock und einer aus wirt­schaft­li­chen Moti­ven gedul­de­ten aber sonst arg­wöh­nisch beäug­ten ‘Gastarbeiter*innen’-Bevölkerung. Gera­de migra­ti­ons­feind­li­che Kräf­te hat­ten vor die­sem Hin­ter­grund leich­tes Spiel, mit der For­de­rung nach Mas­sen­aus­wei­sun­gen einen kon­kre­ten Sach­zu­sam­men­hang zwi­schen wirt­schaft­li­cher Malai­se und auf­ent­halts­recht­li­cher Ross­kur her­zu­stel­len. Anders im Fall der Finanz­kri­se, als die Schwei­zer Migra­ti­ons­be­völ­ke­rung durch regu­la­ri­sier­te Arbeits­ver­hält­nis­se bes­ser abge­si­chert und der Arbeits­markt auch weni­ger stark von der Kri­se betrof­fen war (Afon­so und Vis­ser 2014).

Krisen als Identitätskatalysatoren

Ein­deu­ti­ger als zur Poli­ti­sie­rung waren unse­re Befun­de zu Iden­ti­täts­frames. Die Idee dahin­ter: Da in Kri­sen­zei­ten das Ver­trau­en in die bestehen­de Ord­nung mas­siv schwin­det und ein Zustand der Unsi­cher­heit ein­setzt, soll­te sich unter ande­rem auch das ‘Framing’ von Migra­ti­on (also das Her­vor­he­ben ein­zel­ner The­men­aspek­te und Begrün­dungs­mus­ter) von instru­men­tell nach iden­ti­tär ver­la­gern. Kon­kret soll­ten also weni­ger claims auf­tre­ten, die auf Kos­ten- oder Sicher­heits­fra­gen abstel­len und mehr sol­che, die Zuge­hö­rig­keit und Iden­ti­tät (etwa in kul­tu­rel­ler Hin­sicht) zum The­ma haben. In der Tat konn­ten wir der­lei Ver­schie­bun­gen in bei­den Fäl­len ver­zeich­nen, was die Idee von Kri­sen als ‘Iden­ti­täts­ka­ta­ly­sa­to­ren’ stützt: Als Momen­te, in denen Vor­stel­lun­gen von Gemein­schaft neu ver­han­delt und Unsi­cher­hei­ten über iden­ti­tä­re Ein- und Abgren­zung ver­ar­bei­tet wer­den. Auch kam wäh­rend der Ölkri­se ein viel­fäl­ti­ge­res Feld an Akteur*innen zu Wort, was aber­mals dem Kon­text geschul­det sein dürf­te: Gera­de, weil das Schick­sal der Migrant*innen so unmit­tel­bar mit der Kri­se ver­knüpft war, sahen sich auch ansons­ten eher zurück­hal­ten­de Kräf­te zu einer Posi­tio­nie­rung ver­an­lasst – sei es, um Restrik­ti­ons­wün­sche zu for­mu­lie­ren oder gegen sel­bi­ge zu protestieren.

Unse­re For­schungs­er­geb­nis­se hel­fen somit, ein dif­fe­ren­zier­tes Bild der Ver­schrän­kun­gen von Kri­se, Kri­sen­ver­ständ­nis und Migra­ti­ons­the­ma­tik zu zeich­nen. Kri­sen, so lässt sich zusam­men­fas­send fest­stel­len, sind nicht gleich Kri­sen, son­dern unter­schei­den sich erheb­lich in ihrer Poli­ti­sie­rungs­taug­lich­keit. Auch sind sie kon­text­ge­bun­den, wider­spie­geln also die Refle­xi­ti­vi­täts­kom­pe­tenz (und den Refle­xi­vi­täts­drang) moder­ner Gesell­schaf­ten: Wer Kri­se sagt, meint eine Form von kol­lek­ti­ver Selbst­be­trach­tung, die auf der Unge­wiss­heit der Gegen­wart grün­det und nach mög­li­chen Aus­we­gen sucht. Dass Migra­ti­ons­the­men in Kri­sen­zei­ten unter grös­se­ren Poli­ti­sie­rungs­druck gera­ten, ist inso­fern eine Beob­ach­tung, die weni­ger über das Ver­hält­nis von Kri­se und Migra­ti­on aus­sagt als dar­über, wie sich die Debat­ten hier­zu seit den 1970er-Jah­ren ver­la­gert haben.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien am 15. Sep­tem­ber auf dem Blog von NCCR on the move.


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