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Krisen und Migrationspolitisierung: Kontext ist Trumpf

Marco Bitschnau, Gianni D'Amato
17th September 2021

Welchen Einfluss haben Krisen auf die Politisierung von Migration? Dieser Frage sind wir mit Leslie Ader und Didier Ruedin in einem jüngst erschienenen Artikel nachgegangen, in dem wir sogenannte ‘claims’ – Einzelaussagen und Interviewäusserungen aber auch Abstimmungen oder Proteste – untersucht haben, über die in grossen Schweizer Printmedien berichtet wurde. Unser Ziel: die Politisierung von Migrationsfragen im Zeitverlauf und vor einem dezidierten Krisenhintergrund besser nachzuvollziehen.

Was aber bedeutet ‘politisiert’ genau? Für uns bezeichnet der Begriff die Kombination von Polarisierung und Themensalienz. Polarisierung meint, dass es zu einer Frage stark abweichende und zumeist konträre Ansichten gibt. Wenn etwa SARS-CoV-2 für Anna ein gefährliches Virus aber für Dennis ein banaler Grippeerreger ist, dann haben wir es offenkundig mit einem hohen Polarisierungspotential zu tun. Ebenso wenn Anna in Donald Trump einen rechtsradikalen Demagogen zu erkennen glaubt, Dennis hingegen die Wiedergeburt von William Wallace. Salienz bezieht sich demgegenüber auf die Prominenz des Themas im öffentlichen Raum. So mögen Anna und Dennis Trump zwar unterschiedlich bewerten, doch würden beide nicht umhinkommen, ihm eine gewisse Bedeutung zuzusprechen. Vielleicht sind sie ähnlich geteilter Meinung, was das beste Café der Stadt oder die Stürmerqualitäten von Annas Bruder anbelangt, doch in diesen Fällen erschöpft sich die Themenrelevanz im Alltäglichen und wird in der Regel medial nicht weiter gespiegelt.

Polarisierung und Salienz gehen vielfach Hand in Hand, auch wenn es durchaus Themen gibt, die ‘polarisiert’ aber nicht sonderlich ‘salient’ sind; im heutigen Westeuropa beispielsweise Abtreibungsdebatten, bei denen der zentrale Verständnisgegensatz Mord/Körperautonomie zwar fortbesteht aber kaum mehr gesellschaftliches Erregungspotential besitzt. Andere Themen wiederum sind salient aber nicht unbedingt polarisiert, etwa Bildungsfragen, die zwar lebhaft aber doch mit einer gewissen Einmütigkeit diskutiert werden. Ein politisiertes Thema ist indes beides, polarisiert und salient, wird also sowohl kontrovers als auch öffentlichkeitswirksam diskutiert. Unsere Annahme: Migration ist solch ein Thema, das noch dazu in Krisenzeiten stärker politisiert wird als in Nichtkrisenzeiten – nicht zuletzt, weil sich Migrant*innen als über Jahrzehnte konstruierte Outgroup gut als ‘rhetorische Blitzableiter’ im Krisengewitter eignen.

Der Krisenkontext zählt

Um diese Annahme zu überprüfen, haben wir an die 2’800 claims während zweier bedeutender Krisenepisoden analysiert – der Ölkrise der 1970er- und der Finanzkrise der 2000er-Jahre. In beiden Fällen handelt es sich um gesellschaftsprägende ökonomische Schockmomente; so gilt die Ölkrise, zumindest im Westen, als Wasserscheide zwischen der langanhaltenden konjunkturbedingten Aufbruchphase der Nachkriegszeit und der ‘reflexiven Risikogesellschaft’ des letzten Jahrhundertviertels; die Finanzkrise wiederum stellt den Ausgangspunkt eines bis in unsere Tage ausstrahlenden Geflechts an Schulden-, Währungs- und Souveränitätskrisen dar. Doch so ähnlich beide Krisen in ihrer Wirkmächtigkeit auch gewesen sein mögen, so verschieden sind die Befunde unserer Analyse (für Vorarbeiten siehe Van der Brug et al. 2015).

Für die Ölkrise konnten wir nämlich tatsächlich ein höheres Mass an Polarisierung und Salienz feststellen, für die Finanzkrise jedoch überraschenderweise ein geringeres. Krisen können also durchaus einen Politisierungseffekt haben, der aber kein ‘fait accompli’ ist, sondern massgeblich vom konkreten Krisenkontext abhängt. So ergab sich das grössere Politisierungspotential während der Ölkrise aus der Verbindung von plötzlichem Krisenschock und einer aus wirtschaftlichen Motiven geduldeten aber sonst argwöhnisch beäugten ‘Gastarbeiter*innen’-Bevölkerung. Gerade migrationsfeindliche Kräfte hatten vor diesem Hintergrund leichtes Spiel, mit der Forderung nach Massenausweisungen einen konkreten Sachzusammenhang zwischen wirtschaftlicher Malaise und aufenthaltsrechtlicher Rosskur herzustellen. Anders im Fall der Finanzkrise, als die Schweizer Migrationsbevölkerung durch regularisierte Arbeitsverhältnisse besser abgesichert und der Arbeitsmarkt auch weniger stark von der Krise betroffen war (Afonso und Visser 2014).

Krisen als Identitätskatalysatoren

Eindeutiger als zur Politisierung waren unsere Befunde zu Identitätsframes. Die Idee dahinter: Da in Krisenzeiten das Vertrauen in die bestehende Ordnung massiv schwindet und ein Zustand der Unsicherheit einsetzt, sollte sich unter anderem auch das ‘Framing’ von Migration (also das Hervorheben einzelner Themenaspekte und Begründungsmuster) von instrumentell nach identitär verlagern. Konkret sollten also weniger claims auftreten, die auf Kosten- oder Sicherheitsfragen abstellen und mehr solche, die Zugehörigkeit und Identität (etwa in kultureller Hinsicht) zum Thema haben. In der Tat konnten wir derlei Verschiebungen in beiden Fällen verzeichnen, was die Idee von Krisen als ‘Identitätskatalysatoren’ stützt: Als Momente, in denen Vorstellungen von Gemeinschaft neu verhandelt und Unsicherheiten über identitäre Ein- und Abgrenzung verarbeitet werden. Auch kam während der Ölkrise ein vielfältigeres Feld an Akteur*innen zu Wort, was abermals dem Kontext geschuldet sein dürfte: Gerade, weil das Schicksal der Migrant*innen so unmittelbar mit der Krise verknüpft war, sahen sich auch ansonsten eher zurückhaltende Kräfte zu einer Positionierung veranlasst – sei es, um Restriktionswünsche zu formulieren oder gegen selbige zu protestieren.

Unsere Forschungsergebnisse helfen somit, ein differenziertes Bild der Verschränkungen von Krise, Krisenverständnis und Migrationsthematik zu zeichnen. Krisen, so lässt sich zusammenfassend feststellen, sind nicht gleich Krisen, sondern unterscheiden sich erheblich in ihrer Politisierungstauglichkeit. Auch sind sie kontextgebunden, widerspiegeln also die Reflexitivitätskompetenz (und den Reflexivitätsdrang) moderner Gesellschaften: Wer Krise sagt, meint eine Form von kollektiver Selbstbetrachtung, die auf der Ungewissheit der Gegenwart gründet und nach möglichen Auswegen sucht. Dass Migrationsthemen in Krisenzeiten unter grösseren Politisierungsdruck geraten, ist insofern eine Beobachtung, die weniger über das Verhältnis von Krise und Migration aussagt als darüber, wie sich die Debatten hierzu seit den 1970er-Jahren verlagert haben.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 15. September auf dem Blog von NCCR on the move.


Quellen:

 
Bild: Unsplash, Krzysztof Hepner