Der Weg zu einer Transformation der Linken

Die Sozialdemokrat:innen in West­eu­ro­pa befin­den sich in einer elek­to­ra­len Kri­se. Ihre Stim­men­ver­lus­te neh­men ste­tig zu. Die Ana­ly­se einer Grup­pe von Politikwissenschaftler:innen ver­schie­de­ner Uni­ver­si­tä­ten in Euro­pa und den USA unter der Lei­tung von Sil­ja Häu­ser­mann (Uni Zürich) und Her­bert Kit­schelt (Duke Uni­ver­si­ty) zeigt, an wen die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en ver­lie­ren und wel­che Grün­de die Stim­men­ver­lus­te haben.

Die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en in Euro­pa befin­den sich der­zeit in einer elek­to­ra­len Kri­se. Ihr Stim­men­an­teil ist in den letz­ten 15 Jah­ren über­all in West­eu­ro­pa um über zehn Pro­zent­punk­te gesun­ken. In man­chen Län­dern, etwa Frank­reich und den Nie­der­lan­den rutsch­ten sie gar unter die Zehnprozentmarke.

Mythos Stimmenverlust nach rechts

Geht es um die Ver­lus­te der Stim­men­an­tei­le stel­len sich zwei zen­tra­le Fragen:

  1. An wel­che Par­tei­en ver­lie­ren die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en Stimmen?
  2. Ver­lie­ren die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en haupt­säch­lich Stim­men aus der Arbeiter:innenschicht oder aus der Mit­tel- und Oberschicht?

In der Wis­sen­schaft und auch in der Poli­tik wur­de immer wie­der die The­se laut, die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en ver­lö­ren Stim­men aus der Arbeiter:innenschaft an rechts­po­pu­lis­ti­sche oder rechts­ex­tre­me Par­tei­en – nicht zuletzt auf­grund ihrer finanz­po­li­tisch zu kon­ser­va­ti­ven oder sozio­kul­tu­rell zu pro­gres­si­ven Posi­tio­nen. Die kom­bi­nier­ten Ana­ly­sen von Wäh­ler­strö­men, Wahl­wahr­schein­lich­kei­ten und Panel­da­ten zu lang­fris­ti­gen Wäh­ler­wan­de­run­gen zeigt aber, dass die­se The­se nicht zutrifft.

 Der Löwen­an­teil der ver­lo­re­nen Stim­men der letz­ten bei­den Jahr­zehn­te geht an Mit­te-rechts-Par­tei­en und kon­kur­rie­ren­de Par­tei­en im lin­ken Par­tei­en­spek­trum: Die Stimm­ab­wan­de­rung zu grü­nen und links­ra­di­ka­len Par­tei­en macht zusam­men fast 50 Pro­zent aus, gefolgt von Mit­te-rechts-Par­tei­en. Auch unter den heu­ti­gen Wähler:innen der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en erwägt der gröss­te Anteil, in einer kom­men­den Wahl grün oder eine ande­re lin­ke Par­tei zu wäh­len. Das heisst, dass sowohl die ver­gan­ge­nen Ver­lus­te als auch dro­hen­de künf­ti­ge Ver­lus­te vor allem inner­halb des lin­ken Spek­trums erfolgen.

Zudem zeigt die Ana­ly­se, dass die Sozialdemokrat:innen nicht vor­wie­gend Stim­men aus den unte­ren sozia­len Schich­ten ver­lie­ren. Die gröss­ten Stim­men­ver­lus­te stam­men aus der Mit­tel­schicht, sowie mitt­le­ren und höhe­ren Bil­dungs­grup­pen. Gera­de bei den jün­ge­ren Wähler:innen setzt sich die Ten­denz fort, dass gut gebil­de­te lin­ke Wähler:innen über­durch­schnitt­lich oft grü­ne oder ande­re links-pro­gres­si­ve Par­tei­en wählen.

Gründe für den Stimmenverlust

Wel­che Grün­de könn­te die­se Abwan­de­rung von Wähler:innen haben? Für die Beant­wor­tung die­ser Fra­ge unter­su­chen die Bei­trä­ge des Pro­jek­tes die Ein­stel­lun­gen der Wäh­le­rIn­nen, sowie ihre Reak­tio­nen auf spe­zi­fi­sche pro­gram­ma­ti­sche Ange­bo­te der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Parteien.

Dazu muss zwi­schen zwei Dimen­sio­nen des poli­ti­schen Wett­be­werbs unter­schie­den wer­den: einer wirt­schafts­po­li­ti­schen und einer gesellschaftspolitischen.

Die Dimen­sio­nen im Überblick
Die wirt­schafts­po­li­ti­sche Dimen­si­on trennt Befürworter:innen von star­ker staat­li­cher Regu­lie­rung des Mark­tes und Umver­tei­lung von Anhänger:innen des Markt­li­be­ra­lis­mus. Die gesell­schafts­po­li­ti­sche Dimen­si­on trennt die Verfechter:innen von Inter­na­tio­na­lis­mus, Uni­ver­sa­lis­mus und Min­der­hei­ten­rech­ten von Anhänger:innen eher natio­nal-pro­tek­tio­nis­ti­scher Poli­tik sowie von Kom­mu­ni­ta­ris­mus und Traditionalismus.

Dabei zei­gen die Ana­ly­sen, dass die Sozialdemokrat:innen vor allem aus gesell­schafts­po­li­ti­schen Grün­den Stim­men an Grü­ne und Links­li­be­ra­le ver­lie­ren. An die Mit­te-rechts-Par­tei­en ver­lie­ren sie aus wirt­schafts­po­li­ti­schen (und in gerin­ge­rem Mas­se auch aus gesell­schafts­po­li­ti­schen) Grün­den. Dies lässt dar­auf schlies­sen, dass es kei­nen ein­fa­chen Stra­te­gie­wech­sel ent­we­der nach «links» oder nach «rechts» geben kann, um dem Stim­men­ver­lust effek­tiv entgegenzuwirken.

Wei­te­re Ana­ly­sen, basie­rend auf einer lau­fen­den Unter­su­chung von Abou-Cha­di, Häu­ser­mann, Mit­ter­eg­ger, Mosi­mann und Wag­ner (2020) zei­gen, dass expan­si­ve sozi­al­po­li­ti­sche For­de­run­gen, wie etwa gross­zü­gi­ge Früh­ren­ten­lö­sun­gen, Kin­der­be­treu­ung und Miet­preis­bin­dung die Attrak­ti­vi­tät von sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Pro­gram­men bis weit in die Mit­te der Wähler:innenschaft erhö­hen. Gesell­schafts­po­li­tisch pro­gres­si­ve Posi­tio­nen (bzüg­lich z.B. Migra­ti­ons­po­li­tik, Gleich­stel­lung oder Kli­ma­schutz) mobi­li­sie­ren im lin­ken Lager jedoch noch stär­ke­re Unter­stüt­zung. Im Gegen­satz zu den sozi­al­po­li­ti­schen Ange­bo­ten pola­ri­siert die Gesell­schafts­po­li­tik jedoch stär­ker. Auch die­se Befun­de unter­strei­chen, dass sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei­en mit Ziel­kon­flik­ten zu kämp­fen haben, für die kei­ne ein­fa­chen Lösun­gen gibt. Jede pro­gram­ma­ti­sche (Neu-)Ausrichtung ist wahr­schein­lich nicht nur mit Stimm­ge­win­nen, son­dern auch mit Wähler:innenverlusten verbunden.

Die­ser Bei­trag basiert auf den FES-Per­spek­ti­ve-Bei­trä­gen  «Der Mythos vom Stim­men­ver­lust an die radi­ka­le Rech­te» und «Wirt­schafs- und gesell­schafts­po­li­tisch pro­gres­si­ve Par­tei­pro­gram­me», wel­che eine Grup­pe von Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rIn­nen unter der Lei­tung von Profs. Sil­ja Häu­ser­mann (Uni­ver­si­tät Zürich) und Her­bert Kit­schelt (Duke Uni­ver­si­ty) für die Fried­rich-Ebert-Stif­tung ver­fasst hat. Die­se wie­der­um basie­ren auf den fol­gen­den Arti­keln, die in dem von Sil­ja Häu­ser­mann und Her­bert Kit­schelt her­aus­ge­ge­be­nen Buch «Bey­ond Social Demo­cra­cy: Trans­for­ma­ti­on of the Left in Emer­ging Know­ledge Socie­ties» vor­aus­sicht­lich 2022 ver­öf­fent­lich wer­den. Die voll­stän­di­gen Manu­skrip­te sind von den AutorIn­nen erhältlich.


Refe­ren­zen:

  • Abou-Cha­di, Tarik / Mar­kus Wag­ner (2020). »Losing the Midd­le Ground: The Elec­to­ral decli­ne of Social Demo­cra­tic par­ties sin­ce 2000«
  • Abou-Cha­di, Tarik, Sil­ja Häu­ser­mann, Reto Mit­ter­eg­ger, Nad­ja Mosi­mann and Mar­kus Wag­ner (2020). »Old Left, New Left, Cen­trist or Left Natio­na­list? Deter­mi­nants of sup­port for dif­fe­rent social demo­cra­tic pro­gram­ma­tic strategies«.
  • Ares, Macare­na / Mat­hil­de van Dit­mars (2020). »Who con­ti­nues to vote for the left? Social class of ori­gin, inter­ge­nera­tio­nal mobi­li­ty and par­ty choice in Wes­tern Euro­pe«. Bischof, Dani­el / Tho­mas Kurer (2020). »Lost in Tran­si­ti­on – Whe­re Are All the Social Demo­crats Today?«
  • Häu­ser­mann, Sil­ja (2020). »Social Demo­cra­cy in com­pe­ti­ti­on: voting pro­pen­si­ties and elec­to­ral trade-offs«.
  • Kit­schelt, Her­bert, and Phil­ipp Rehm (2020). »Why do voters move to and from social demo­cra­cy? Voter move­ments wit­hin and across elec­to­ral blocs in con­tem­pora­ry know­ledge capitalism«.

Bild: unsplash.com

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