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Der Weg zu einer Transformation der Linken

Silja Häusermann, Carole Güggi
23rd Juli 2021

Die Sozialdemokrat:innen in Westeuropa befinden sich in einer elektoralen Krise. Ihre Stimmenverluste nehmen stetig zu. Die Analyse einer Gruppe von Politikwissenschaftler:innen verschiedener Universitäten in Europa und den USA unter der Leitung von Silja Häusermann (Uni Zürich) und Herbert Kitschelt (Duke University) zeigt, an wen die sozialdemokratischen Parteien verlieren und welche Gründe die Stimmenverluste haben.

Die sozialdemokratischen Parteien in Europa befinden sich derzeit in einer elektoralen Krise. Ihr Stimmenanteil ist in den letzten 15 Jahren überall in Westeuropa um über zehn Prozentpunkte gesunken. In manchen Ländern, etwa Frankreich und den Niederlanden rutschten sie gar unter die Zehnprozentmarke.

Mythos Stimmenverlust nach rechts

Geht es um die Verluste der Stimmenanteile stellen sich zwei zentrale Fragen:

  1. An welche Parteien verlieren die sozialdemokratischen Parteien Stimmen?
  2. Verlieren die sozialdemokratischen Parteien hauptsächlich Stimmen aus der Arbeiter:innenschicht oder aus der Mittel- und Oberschicht?

In der Wissenschaft und auch in der Politik wurde immer wieder die These laut, die sozialdemokratischen Parteien verlören Stimmen aus der Arbeiter:innenschaft an rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien – nicht zuletzt aufgrund ihrer finanzpolitisch zu konservativen oder soziokulturell zu progressiven Positionen. Die kombinierten Analysen von Wählerströmen, Wahlwahrscheinlichkeiten und Paneldaten zu langfristigen Wählerwanderungen zeigt aber, dass diese These nicht zutrifft.

 Der Löwenanteil der verlorenen Stimmen der letzten beiden Jahrzehnte geht an Mitte-rechts-Parteien und konkurrierende Parteien im linken Parteienspektrum: Die Stimmabwanderung zu grünen und linksradikalen Parteien macht zusammen fast 50 Prozent aus, gefolgt von Mitte-rechts-Parteien. Auch unter den heutigen Wähler:innen der sozialdemokratischen Parteien erwägt der grösste Anteil, in einer kommenden Wahl grün oder eine andere linke Partei zu wählen. Das heisst, dass sowohl die vergangenen Verluste als auch drohende künftige Verluste vor allem innerhalb des linken Spektrums erfolgen.

Zudem zeigt die Analyse, dass die Sozialdemokrat:innen nicht vorwiegend Stimmen aus den unteren sozialen Schichten verlieren. Die grössten Stimmenverluste stammen aus der Mittelschicht, sowie mittleren und höheren Bildungsgruppen. Gerade bei den jüngeren Wähler:innen setzt sich die Tendenz fort, dass gut gebildete linke Wähler:innen überdurchschnittlich oft grüne oder andere links-progressive Parteien wählen.

Gründe für den Stimmenverlust

Welche Gründe könnte diese Abwanderung von Wähler:innen haben? Für die Beantwortung dieser Frage untersuchen die Beiträge des Projektes die Einstellungen der WählerInnen, sowie ihre Reaktionen auf spezifische programmatische Angebote der sozialdemokratischen Parteien.

Dazu muss zwischen zwei Dimensionen des politischen Wettbewerbs unterschieden werden: einer wirtschaftspolitischen und einer gesellschaftspolitischen.

Die Dimensionen im Überblick
Die wirtschaftspolitische Dimension trennt Befürworter:innen von starker staatlicher Regulierung des Marktes und Umverteilung von Anhänger:innen des Marktliberalismus. Die gesellschaftspolitische Dimension trennt die Verfechter:innen von Internationalismus, Universalismus und Minderheitenrechten von Anhänger:innen eher national-protektionistischer Politik sowie von Kommunitarismus und Traditionalismus.

Dabei zeigen die Analysen, dass die Sozialdemokrat:innen vor allem aus gesellschaftspolitischen Gründen Stimmen an Grüne und Linksliberale verlieren. An die Mitte-rechts-Parteien verlieren sie aus wirtschaftspolitischen (und in geringerem Masse auch aus gesellschaftspolitischen) Gründen. Dies lässt darauf schliessen, dass es keinen einfachen Strategiewechsel entweder nach «links» oder nach «rechts» geben kann, um dem Stimmenverlust effektiv entgegenzuwirken.

Weitere Analysen, basierend auf einer laufenden Untersuchung von Abou-Chadi, Häusermann, Mitteregger, Mosimann und Wagner (2020) zeigen, dass expansive sozialpolitische Forderungen, wie etwa grosszügige Frührentenlösungen, Kinderbetreuung und Mietpreisbindung die Attraktivität von sozialdemokratischen Programmen bis weit in die Mitte der Wähler:innenschaft erhöhen. Gesellschaftspolitisch progressive Positionen (bzüglich z.B. Migrationspolitik, Gleichstellung oder Klimaschutz) mobilisieren im linken Lager jedoch noch stärkere Unterstützung. Im Gegensatz zu den sozialpolitischen Angeboten polarisiert die Gesellschaftspolitik jedoch stärker. Auch diese Befunde unterstreichen, dass sozialdemokratische Parteien mit Zielkonflikten zu kämpfen haben, für die keine einfachen Lösungen gibt. Jede programmatische (Neu-)Ausrichtung ist wahrscheinlich nicht nur mit Stimmgewinnen, sondern auch mit Wähler:innenverlusten verbunden.

Dieser Beitrag basiert auf den FES-Perspektive-Beiträgen  «Der Mythos vom Stimmenverlust an die radikale Rechte» und «Wirtschafs- und gesellschaftspolitisch progressive Parteiprogramme», welche eine Gruppe von PolitikwissenschaftlerInnen unter der Leitung von Profs. Silja Häusermann (Universität Zürich) und Herbert Kitschelt (Duke University) für die Friedrich-Ebert-Stiftung verfasst hat. Diese wiederum basieren auf den folgenden Artikeln, die in dem von Silja Häusermann und Herbert Kitschelt herausgegebenen Buch «Beyond Social Democracy: Transformation of the Left in Emerging Knowledge Societies» voraussichtlich 2022 veröffentlich werden. Die vollständigen Manuskripte sind von den AutorInnen erhältlich.


Referenzen:

  • Abou-Chadi, Tarik / Markus Wagner (2020). »Losing the Middle Ground: The Electoral decline of Social Democratic parties since 2000«
  • Abou-Chadi, Tarik, Silja Häusermann, Reto Mitteregger, Nadja Mosimann and Markus Wagner (2020). »Old Left, New Left, Centrist or Left Nationalist? Determinants of support for different social democratic programmatic strategies«.
  • Ares, Macarena / Mathilde van Ditmars (2020). »Who continues to vote for the left? Social class of origin, intergenerational mobility and party choice in Western Europe«. Bischof, Daniel / Thomas Kurer (2020). »Lost in Transition – Where Are All the Social Democrats Today?«
  • Häusermann, Silja (2020). »Social Democracy in competition: voting propensities and electoral trade-offs«.
  • Kitschelt, Herbert, and Philipp Rehm (2020). »Why do voters move to and from social democracy? Voter movements within and across electoral blocs in contemporary knowledge capitalism«.

Bild: unsplash.com