Soziale Arbeit und Seniorinnen und Senioren in kosovarisch-, nordmazedonisch-, serbisch-schweizerischen Familien

Die soziale Realität älterer Menschen in kosovarisch-, nordmazedonisch- und serbisch-schweizerischen Familien wurde bisher kaum untersucht, im Gegensatz zu italienischen oder spanischen Seniorinnen und Senioren in der Schweiz. Für letztere gibt es unterschiedliche Angebote, von der muttersprachlichen Beratung bis hin zu mediterranen Abteilungen in Altersheimen. Aufgrund der spezifischen Migrationsgeschichte zwischen den Staaten des Balkans und der Schweiz sowie aufgrund des Migrationsregimes in der Schweiz sind neue Erkenntnisse zur Unterstützung älterer Menschen in diesen Familien für die Sozialberatung relevant.

Dieser Blogbeitrag wurde erstmals auf dem Blog des nccr – on the move publiziert (24.06.2021)

In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen über Familienmitglieder, die im Kosovo, in Nordmazedonien oder Serbien leben, und verwitwete Seniorinnen und Senioren im Rentenalter, die Begleitung brauchen, bringen diese oft die Idee einer moralischen Verpflichtung zur Unterstützung von Familienmitglieder zur Sprache. Die Unterstützung, die sie meinen, ist nicht nur finanzieller Art, sondern kann auch in Form von Kontakt, Besuchen und Gesprächen erfolgen.

So sprach ein kosovarisch-serbischer Mann, der mit einer Schweizerin verheiratet ist, ganz offen darüber. Sein Vater war erst kürzlich gestorben und seine Mutter war gerade aus dem Kosovo nach Serbien gezogen, um bei seinem arbeitslosen Bruder zu leben. Während des Gesprächs betonte er oft die Tatsache, dass er seine Mutter und seinen Bruder finanziell unterstützen sollte. Er beharrte darauf, eine moralische Verpflichtung zu spüren, die in seinem Alltag mitschwang, wenn er an seine Familie im Kosovo und in Serbien dachte.

Eine andere Schweizer Kollegin erwähnte auf die Frage nach ihren Grosseltern, dass es sie und ihre Familie in keiner Weise stören würde, wenn ihre albanische Grossmutter zu ihnen käme, zumal sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügten. Sie ist daher gerade dabei, die notwendigen administrativen Schritte in Angriff zu nehmen, damit ihre Grossmutter eine Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz erhält. Dies würde es ihrem Onkel ermöglichen, sich frei zu fühlen, von Nordmazedonien nach Deutschland zu migrieren, ohne die Sorge, seine Mutter mit unzureichender finanzieller Sicherheit zurückzulassen.

Neue Perspektiven auf Familiensolidarität und Pflege

Beide Anekdoten weisen auf ein Verständnis von “Familie” hin, das über eine Zwei-Generationen-Kernfamilie hinausgeht, wie sie im Schweizer Ausländer-, Ausländerinnen und Integrationsgesetz (AIG) für Schweizer oder Schweizerinnen und Drittstaatsangehörige beschrieben wird. In der ersten Anekdote geht es um eine moralische Verpflichtung gegenüber Geschwistern, in der zweiten um eine als normal empfundene Drei-Generationen-Familie (Ammann Dula, 2020).

Was bedeutet Familiensolidarität in mehreren ungleich entwickelten Wohlfahrtsstaaten für Familien, die zwischen den Staaten des Balkans und der Schweiz zirkulieren? Wie ist die Unterstützung oder Pflege älterer Familienmitglieder sozial und finanziell organisiert? Welche Rolle spielt die Migration in diesen Kontexten? Die Migrationsgeschichte des Balkans und der Schweiz umfasst nicht nur Arbeits- und Lebensstilmigration sowie binationale Ehen. Diese Geschichte besteht auch aus Flucht aus kriegsgebeutelten Ländern, erzwungener Rückwanderung aus der Schweiz, Remigration oder Mobilität zwischen den Staaten aufgrund von Lebenszyklen wie Ausbildung, Arbeitslosigkeit oder Pensionierung. Verschiedene Studien illustrieren, wie all dies die Dichte an familiären Bindungen zwischen den Balkanstaaten und der Schweiz ausmacht. Familiäre Solidarität oder die moralische Verpflichtung, ältere Familienmitglieder zu unterstützen, sind in diesen Kontexten jedoch neue Themen.

Institutionelle Entwicklungen

Die Schweizer Institutionenlandschaft für Personen über 65 Jahren umfasst Pro Senectute, Sozialämter, Sozialversicherungsträger, Erwachsenenschutzbehörden, Beratungsstellen für Menschen mit ausländischem Pass oder ambulante Pflegedienste. An all diesen Orten werden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit Fragen der Begleitung und Unterstützung von Personen über 65 Jahren in transnationalen Familien konfrontiert. Curaviva, der Schweizerische Branchenverband für Menschen mit Unterstützungsbedarf, leistet zusammen mit dem Schweizerischen Roten Kreuz einen wesentlichen Beitrag, um solche Fragen beispielhaft zu behandeln: Es gibt Broschüren in 18 Sprachen, Websites mit einem breiten Informationsangebot und eine Sammlung von wissenschaftlichen Publikationen zum Thema. Es zeigt sich jedoch, dass neuere Entwicklungen in der Schweizer Migrationsdemografie, wie die eben skizzierten Zusammenhänge im Kontext der Staaten des Balkans und der Schweiz, noch viel zu wenig Beachtung finden.

Weiterentwicklungsbedarf in der (post)migrantischen Sozialen Arbeit

Einige Studien, wie die zur Transnationalität in der Sozialberatung (Johner-Kobi u. a., 2020), zur kritischen Auseinandersetzung mit ethnischer Etikettierung in der Straßenbürokratie (Piñeiro, Koch, und Pasche, 2019) oder zur Gatekeeper-Funktion von Sozialarbeitenden (Borrelli, 2020), verdeutlichen ein zunehmendes Bewusstsein für die Soziale Arbeit relevante gesellschaftliche Vielfalt sowie eine zunehmende Bedeutung von transnationalen Familiensettings (Brandhorst, Baldassar, und Wilding, 2021). Doch gerade in den eben skizzierten (post)migrantischen Konstellationen im Feld der Beratung von Personen über 65 Jahren hat die Soziale Arbeit wenig übergreifende Praxis. Sie geht immer noch schrittweise vor und die staatliche Vormachtposition wird in sozialen Einrichtungen nicht ausreichend in Frage gestellt.

Nach der Definition der «International Federation of Social Workers» bezweckt Soziale Arbeit den sozialen Wandel, die Entwicklung und den sozialen Zusammenhalt zu fördern sowie die Ermächtigung von Menschen. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der Verantwortung für die Gemeinschaft und die Anerkennung von Vielfalt sind dabei zentral. Zu den Diversitätskompetenzen gehören transkulturelle Kompetenzen in der Beratung, die auf einer kritischen Reflexion der Bedeutung ethnischer Etikettierung oder der Legitimation einer offiziellen staatlichen Version des Umgangs mit spezifischen Problemen beruhen. Darüber hinaus sollten sie auch ein vertieftes Verständnis dafür beinhalten, wie Migrationsregime und unterschiedliche, staatlich geprägte gesellschaftspolitische Kontexte und ungleiche Austauschverhältnisse die Begleitung und Unterstützung von Seniorinnen und Senioren in Familiensystemen zwischen dem Kosovo, Nordmazedonien, Serbien und der Schweiz, beeinflussen und prägen.


Referenzen:

Bild: unsplash.com

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