Das Volk – dazu zählen auch Sie“. Die Erfindung der Wählerin in der politischen Kommunikation und politischen Bildung um 1971

Bei den ers­ten eid­ge­nös­si­schen Wah­len, an denen Frau­en auch teil­neh­men durf­ten, gal­ten sie als gros­se Unbe­kann­te: Wie wür­den sie abstim­men? Und wie stand es um ihr poli­ti­sches Ver­ständ­nis? Ins­be­son­de­re Par­tei­en lan­cier­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­of­fen­si­ven. Dabei zeigt sich: 1971 ist eine ver­pass­te Chan­ce, die Staats­bür­ger­schaft jen­seits der Geschlech­ter­bi­na­ri­tät neu zu definieren.

Am 1. Novem­ber 1971 war die Schwei­zer Pres­se voll mit strah­len­den Bil­dern lächeln­der Frau­en an der Urne, manch­mal sogar mit „bébé“ auf den Armen (Bild). Die Schwei­ze­rin­nen hat­ten zum ers­ten Mal an den eid­ge­nös­si­schen Wah­len teil­ge­nom­men, das war sicher­lich ein pho­to­ge­nes Novum. Laut den Medi­en war es aber gleich­wohl eine doch ziem­lich nor­ma­le Wahl, mit weni­gen Ände­run­gen in den par­tei­po­li­ti­schen Kräfteverhältnissen.

Aux urnes avec bébé sur les bras, Nouvelle revue de Lausanne, 1. November 1971.

Doch war die Teil­nah­me der Schwei­ze­rin­nen an die­sen Wah­len so selbst­ver­ständ­lich? Der Wahl­kampf von Okto­ber 1971 stell­te viel­mehr eine offe­ne Über­gangs­zeit dar, wäh­rend der neue kol­lek­ti­ve Vor­stel­lun­gen der Wäh­le­rin aus­ge­han­delt wurden.

In mei­ner For­schung zur Geschich­te des Wahl­kampfs in der Schweiz habe ich mich inso­fern gefragt, wie 1971 mit der „neu­en Wäh­le­rin“ eigent­lich umge­gan­gen wur­de. Dazu lie­fert die Ana­ly­se der par­tei­po­li­ti­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on und die dama­li­gen Bemü­hun­gen einer poli­ti­schen Bil­dung für die neu­en Wäh­le­rin­nen ers­te Ant­wor­ten.[1]

Das Volk – dazu zäh­len auch Sie“: das schien den Her­aus­ge­bern der 1971 erschie­ne­nen Bro­schü­re „Grü­nes Licht für Eva : Staats­kund­li­ches Bre­vier für die Schwei­ze­rin“ schon nötig, den Neu­wäh­le­rin­nen zu ver­si­chern.[2] Schon begriff­lich stell­te für die schwei­ze­ri­sche Demo­kra­tie die Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts eigent­lich eine Her­aus­for­de­rung dar, wie die Phi­lo­so­phin Kat­rin Mey­er ana­ly­siert.[3] Die Män­ner­de­mo­kra­tie vor 1971 basier­te ja auf einem rein männ­li­chen, sou­ve­rä­nen Volk. Nun soll­ten die Frau­en „auch dazu zäh­len“, was die­ser Satz per­for­ma­tiv ver­sucht. Eben­falls waren sie nun nicht mehr rein „Bür­ge­rin­nen“, son­dern wur­den plötz­lich zu „Stimm­bür­ge­rin­nen“ oder manch­mal auch „Voll­bür­ge­rin­nen“ erklärt. Zwar sprach die Ver­fas­sung von 1848 ein­fach von den „Schwei­zern“, die juris­ti­sche Dok­trin hat­te aber die Frau­en davon aus­ge­schlos­sen. Zudem hat­ten staats­bür­ger­li­che Sym­bo­lik und Ritua­le das Ide­al des männ­li­chen Bür­ger-Sol­da­ten in den kol­lek­ti­ven Vor­stel­lun­gen gefes­tigt.[4] Die Rol­le der Män­ner war es, ihre gan­zen Fami­li­en – samt den Frau­en – in der Poli­tik zu ver­tre­ten. Die­se Geschlech­ter­rol­len basier­ten auf einer idea­li­sier­ten Tren­nung zwi­schen pri­va­tem und öffent­li­chem Leben. Gera­de die­se Tren­nung und die angeb­li­che Unschuld der Frau­en mein­te auch die Mehr­heit der Schwei­zer Män­ner noch 1959 zu ver­tei­di­gen, indem sie gegen das Frau­en­stimm­recht abstimm­te. Zwölf Jah­re spä­ter stell­te ihr „Ja“ (mit 65%) den­noch kei­ne voll­stän­di­ge Abkehr von die­sen Vor­stel­lun­gen dar.[5] Sicher­lich brach­ten der neue Akti­vis­mus der Frau­en­be­we­gung sowie die Zunah­me der weib­li­chen Arbeit aus­ser­halb des Heims die Geschlech­ter­trenn­li­nie zwi­schen Pri­va­tem und Öffent­li­chem immer mehr zum Schwan­ken. Dass Frau­en grund­sätz­lich eine ande­re Rol­le in der Gesell­schaft als Män­ner inne­hat­ten, wur­de aber nicht in Fra­ge gestellt. Viel­mehr lau­te­te die Fra­ge nun, wie sie die­se Rol­le mit der poli­ti­schen Teil­ha­be „ver­ein­ba­ren“ würden.

Die Frau, die Unbekannte

Das schien im Vor­feld der Wahl noch völ­lig offen. Wie wür­den die Schwei­ze­rin­nen wäh­len und vor allem, wer wür­de pro­fi­tie­ren? Weil sich die­se Fra­ge in der Schweiz so spät stell­te, konn­te man immer­hin Schlüs­se aus frü­he­ren Erfah­run­gen im Aus­land zie­hen. Zudem war 1971 auch gera­de die Blü­te­zeit der Demo­sko­pie in der Schweiz. Trotz die­sen Mög­lich­kei­ten war für vie­le Poli­ti­ker oder Polit­re­dak­teu­re (wei­ter­hin über­wie­gend Män­ner) „die Frau“ die gros­se „Unbe­kann­te“ der Wah­len.[6] Es ging dabei oft um „die Frau“ oder „die Wäh­le­rin“, oft im Sin­gu­lar – die Wäh­le­rin­nen wur­den damit bereits als eine getrenn­te und in sich homo­ge­ne Grup­pe wahr­ge­nom­men. Über die­se schein­ba­re Hilf­lo­sig­keit gegen­über den Frau­en mokier­te sich auch die Zeit­schrift der Frau­en­be­we­gung Schwei­zer Frau­en­blatt mit einer bit­ter­sü­ßen Kari­ka­tur (Bild). Anstän­di­ge Män­ner mit Anzug und Hut war­ten am Kino auf den Film „Dei­ne Frau – das unbe­kann­te Wesen bei den Natio­nal­rats­wah­len“ – das ist übri­gens eine Anspie­lung an die männ­li­che Igno­ranz über den weib­li­chen Kör­per und auf den damals berühm­ten auf­klä­re­ri­schen Ero­tik-Film von Oswald Kol­le Dei­ne Frau, das Unbe­kann­te Wesen (1969).

Wolter, Jupp: Helvetia zeigt: Deine Frau — das unbekannte Wesen, Karikatur, Villard-Traber, Annelise: Politische Schnupperlehre. Vom Umgang mit den Nationalräten, in: Schweizerische Frauenblatt, 1. Oktober 1971.

Die­se Sor­gen um die Neu­wäh­le­rin­nen wie­der­spie­geln dabei nur frü­he­re Debat­ten über das zu erwar­ten­de Wahl­ver­hal­ten der Frau­en – ihre par­tei­po­li­ti­schen Prä­fe­ren­zen aber vor allem ihre Stimm­be­tei­li­gung. Auf­grund aus­län­di­scher Erfah­run­gen erwar­te­ten vie­le, dass Frau­en weni­ger abstim­men wür­den. Das schien logisch, ja natür­lich, weil Frau­en sich ohne­hin weni­ger für Poli­tik (also, die insti­tu­tio­nel­le Poli­tik) inter­es­sie­ren und sich dazu auch wenig kom­pe­tent füh­len wür­den. Als die Frau­en ab 1959 in man­chen Städ­ten und Kan­to­nen tat­säch­lich wäh­len konn­ten, wur­de ihre Stimm­be­tei­li­gung beson­ders beob­ach­tet und in eini­gen Fäl­len sepa­rat von der­je­ni­gen der Män­ner gemes­sen. Man­cher­orts mach­te eine tat­säch­li­che nied­ri­ge­re Stimm­be­tei­li­gung der Frau­en Schlag­zei­len. Für die Frau­en­stimm­recht­le­rin­nen nahm das Stimm­ver­hal­ten der Frau­en gegen ihren Wil­len eine uner­war­te­te poli­ti­sche Dimen­si­on an, denn für die Geg­ner (und Geg­ne­rin­nen) des Frau­en­stimm­rechts war die Stimm­ent­hal­tung der Frau­en wohl der bes­te Beweis dafür, dass sie selbst von der poli­ti­schen Gleich­heit nichts hören wollten.

Im Vor­feld der Wah­len von 1971 wur­de sogar kon­tro­vers dar­über dis­ku­tiert, auf eid­ge­nös­si­scher Ebe­ne eine geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Sta­tis­tik zur Stimm­be­tei­li­gung zu orga­ni­sie­ren – in Genf wur­de es eine Zeit lang mit unter­schied­lich gefärb­ten Wahl­zet­teln sogar umge­setzt. Pro­mi­nen­te Poli­tik­wis­sen­schaft­ler wie Erich Gru­ner stell­ten dies als eine rein neu­tra­le, wis­sen­schaft­li­che Fra­ge dar, die es sta­tis­tisch zu beur­tei­len gäbe. Für Akti­vis­tin­nen der Frau­en­stimm­rechts­be­we­gung hin­ge­gen war dies aber ein heim­li­cher Weg, um wie­der einen offi­zi­el­len Unter­schied zwi­schen Stimm­bür­gern und Stimm­bür­ge­rin­nen ein­zu­füh­ren – sogar ganz sym­bo­lisch im Wahl­bü­ro.[7] Aus Angst vor einem Skan­dal ver­zich­te­te die Bun­des­kanz­lei dann auf eine sol­che Sta­tis­tik, denn die Frau­en soll­ten „auf kei­nen Fall den Ein­druck bekom­men, dass man sie beson­ders beob­ach­ten will“.[8] Schon um die­se schein­bar tech­ni­sche Fra­ge kris­tal­li­sier­te sich somit das Dilem­ma der poli­ti­schen Akteu­re in die­sem Wahl­kampf: inwie­weit soll­ten sie oder durf­ten sie die Frau­en anders behan­deln als die Männer?

Nachholbedarf

Denn bei vie­len Akteu­ren herrsch­te Kon­sens dar­über, dass Frau­en einen «Nach­hol­be­darf»  in Sachen Poli­tik auf­zeig­ten, den es zu kor­ri­gie­ren gäbe. Ein­leuch­tend für das dama­li­ge Ima­gi­när ver­gli­chen man­che Par­tei­ka­der Frau­en in der Poli­tik mit Ent­wick­lungs­län­dern.[9] Die Frau­en­be­we­gun­gen hat­ten natür­lich nicht 1971 abge­war­tet, um sich für die poli­ti­sche Infor­ma­ti­on der Frau­en durch Kur­se und Publi­ka­tio­nen zu enga­gie­ren – dabei spiel­te unter ande­ren die Stif­tung für staats­bür­ger­li­che Erzie­hung und Schu­lung SAFFA eine wich­ti­ge Koor­di­na­ti­ons- und Finan­zie­rungs­rol­le.[10] Den­noch über­leg­ten sich 1971 sowohl die Bun­des­kanz­lei wie auch man­che Par­tei­en rasch noch „staats­kund­li­che“ Bro­schü­re für Frau­en zu lan­cie­ren. Die heu­te übli­chen Erklä­rungs­brochü­ren gab es damals nur in eini­gen Kan­to­nen. Für die Bun­des­kanz­lei wur­den sie mit dem Frau­en­stimm­recht „nöti­ger denn je“.[11] Auch in die­sem Fall ver­zich­te­te sie aber auf eine getrenn­te Bro­schü­re nur für Frau­en – wie Ver­tre­ter der Par­tei­en mein­ten, gäbe es sowie­so auch vie­le Män­ner, ins­be­son­de­re die jün­ge­ren Wahl­gän­ge, die mit den Ein­zel­hei­ten des Wäh­lens nicht ver­traut sei­en. Die Bro­schü­re adres­sier­te schluss­end­lich alle Wäh­len­den und erwähn­te nicht mal die Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts – was eigent­lich ihr Daseins­zweck war.

Ande­re Akteu­re des Wahl­kampfs, die nicht die glei­chen Hand­lungs­ein­schrän­kun­gen wie die Bun­des­kanz­lei hat­ten, mein­ten auch eige­ne Bro­schü­ren für Frau­en lan­cie­ren zu müs­sen, und dies­mal mit einem viel enga­gier­te­ren Ton. Sie stüt­zen sich dabei auf die damals gän­gi­gen Vor­stel­lun­gen von poli­ti­scher Bil­dung als „Staats­kun­de“: eine eher top-down gedach­te Wis­sens­ver­mitt­lung, und zen­triert auf tech­ni­sche Anlei­tun­gen aber auch auf mora­li­sche Anwei­sun­gen. In ihren eige­nen Bro­schü­ren neh­men Par­tei­en aber oft den mög­li­chen Vor­wurf des Pater­na­lis­mus oder der Infan­ti­li­sie­rung vor­weg, so die Ber­ner BGB mit der Neu­an­pas­sung ihrer älte­ren Bro­schü­re „Klei­ne Staats­kun­de für jedermann“:

Wir möch­ten nicht den Schul­meis­ter spie­len. Wir betrach­ten es aber als unse­re Pflicht, Sie zu infor­mie­ren. […] Wir hof­fen, dass Sie aus dem Büch­lein etwas ler­nen kön­nen. Wenn nicht, so haben Sie auf alle Fäl­le Ihr Wis­sen auf­ge­frischt.“[12]

Den Stimm­recht­le­rin­nen selbst schien es noch wich­ti­ger, dass die Frau­en ihre neu­en „Pflich­ten“ ver­ant­wor­tungs­be­wusst erfül­len wür­den. Zusam­men mit bekann­ten Autoren aus dem Feld der „Staats­kun­de“ gaben sie Bro­schü­ren mit mora­li­schen Anwei­sun­gen für die Neu­wäh­le­rin­nen her­aus, wie eben die Bro­schü­re Grü­nes Licht für Eva. Wie für die Män­ner üblich beharr­ten die­se Bro­schü­ren auf der beson­de­ren „Ver­ant­wor­tung“ aller Bür­ger in der direk­ten Demo­kra­tie. Gleich­zei­tig hat­ten Frau­en aber wei­ter­hin nicht die glei­chen Rech­te noch die glei­che Rol­le in der Gesell­schaft. In der Ehe, das „wich­ti­ge Bünd­nis Ihres Lebens“, blieb der Mann das „Haupt der Gemein­schaft“, das „in ers­ter Linie die Ver­ant­wor­tung für den Unter­halt der Fami­lie (trägt), wäh­rend die Ehe­frau den Haus­halt führt“ – die zivil­recht­li­che Unter­le­gen­heit der Frau­en in der Ehe bestand bis 1988.[13]  

Denn schluss­end­lich war gera­de die­ser Sta­tus als Ehe­frau das, was die Neu­wäh­le­rin­nen von 1971 wirk­lich kenn­zeich­ne­te. Er galt zwar nicht mehr als Argu­ment gegen das Frau­en­stimm­recht, präg­te aber wei­ter­hin den sozia­len Rah­men, in dem Frau­en zum ers­ten Mal wähl­ten. Par­tei­en rech­ne­ten mit dem Ein­fluss der Ehe­män­ner auf das Wahl­ver­hal­ten „ihrer“ Frau­en.[14] Und die Ehe hat­te auch eine kon­kre­te Bedeu­tung für den Wahl­pro­zess. Im Kan­ton Zürich befürch­te­ten eini­ge Natio­nal­rä­te, dass man­che Frau­en sich von ihren Ehe­män­nern an der Urne ver­tre­ten las­sen wür­den, was zwar im kan­to­na­len Wahl­recht mög­lich war, aber nicht im eid­ge­nös­si­schen.[15] Damals war die Brief­wahl wenig ver­brei­tet und es scheint tat­säch­lich, dass man­che Zür­che­rin­nen bei ihren ers­ten kan­to­na­len Urnen­gän­gen ab 1969 ihre Ehe­män­ner für sie abstim­men lies­sen. In ihren Kam­pa­gnen bemüh­ten sich also Zür­cher Par­tei­en (und beson­ders die Bau­ern­par­tei auf dem Land), Frau­en dar­an zu erin­nern, selbst wäh­len zu gehen – auch das war nicht selbstverständlich.

Liebeserklärungen

Die par­tei­po­li­ti­schen Kam­pa­gnen selbst spra­chen Frau­en in ers­ter Linie durch ihre Anbin­dung an Män­nern an. Gera­de wegen ihrer Sor­gen um das weib­li­che Wahl­ver­hal­ten, lan­cier­ten die meis­ten Par­tei­en eine Kom­mu­ni­ka­ti­ons­of­fen­si­ve in Rich­tung der Frau­en – was der dama­li­ge Sekre­tär der SP als „Lie­bes­wer­ben“[16] ver­spot­te­te. In den meis­ten Par­tei­en nahm dies die Form einer getrenn­ten Kam­pa­gne an – die „all­ge­mei­ne“ Kam­pa­gne blieb für Män­ner gedacht. Und die übli­chen Kam­pa­gnen­prak­ti­ken wur­den nur am Rand geän­dert, um sich an die Lebens­be­din­gun­gen der Frau­en anzu­pas­sen: die SP-Frau­en z.B. orga­ni­sier­ten statt Wahl­ver­samm­lun­gen am Abend Tee­nach­mit­ta­ge mit einer Kin­der­be­treu­ung, die auch einen Ver­such waren, mög­lichst hori­zon­ta­le Gesprä­che zwi­schen Wäh­le­rin­nen und Kan­di­da­tin­nen zu ermög­li­chen. Gera­de weil aber die all­ge­mei­ne Kam­pa­gne „uni­ver­sell“ gedacht war (aber doch an Män­nern gerich­tet), nut­zen die „Frau­en­kam­pa­gnen“[17] eine gan­ze Palet­te an Vor­stel­lun­gen des weib­li­chen Anders­seins. Die BGB z.B. lob­te die Ver­mitt­lungs­rol­le der Frau­en. Trotz Pro­test der SP-Frau­en ent­wi­ckel­te das Wer­be­bü­ro der SP eine par­al­le­le „Son­der­kam­pa­gne“ mit einer sanf­ten Rosen­äs­the­tik. Die FDP stütz­te sich sogar auf den Slo­gan „Ja – Die Frei­sin­ni­gen haben die Frau­en gern“. Nur in weni­gen Fäl­len ver­such­ten die Par­tei­en in ihrer Kom­mu­ni­ka­ti­on, Frau­en mit poli­ti­schen The­men anzu­spre­chen und ihnen dadurch neue poli­ti­schen Iden­ti­tä­ten vor­zu­schla­gen, wie die SP mit den Pro­ble­men der soge­nann­ten „grü­nen Wit­wen“ im sub­ur­ba­nen Raum oder der Lan­des­ring der Unab­hän­gi­gen, der die Kon­su­men­tin­nen direkt ansprach.[18]

Charm als Sackgasse

Denn auch all­ge­mein in der Öffent­lich­keit tat man sich schwer, die neu­en Ver­hält­nis­se zwi­schen Frau­en und Män­nern in der Demo­kra­tie nicht sofort in popu­lä­re Kli­schees über hete­ro­se­xu­el­le Lie­bes­be­zie­hun­gen ein­zu­sper­ren. Die FDP mein­te mit ihrem Slo­gan, mit den Frau­en zu flir­ten, genau­so wie sich die Frau­en­stimm­rechts­kam­pa­gne auf Blu­men­bou­quets und ver­lieb­te Män­ner stütz­te. Die­se infan­ti­li­sie­ren­de Galan­te­rie trug dazu bei, Geschlech­ter­ver­hält­nis­se zu ent­po­li­ti­sie­ren, gera­de in einer Zeit, als die Kar­ten eigent­lich neu gemischt wur­den. 1971 ist somit eine ver­pass­te Chan­ce, die Staats­bür­ger­schaft jen­seits der Geschlech­ter­bi­na­ri­tät neu zu defi­nie­ren. Dies gereich­te beson­ders den ers­ten Kan­di­da­tin­nen zum Scha­den, die in den Medi­en sowie in den Par­tei­en immer wie­der auf ihren Charm oder ihre Rol­le als Ehe­frau und Müt­ter redu­ziert wur­den. Sol­che sexis­ti­schen Zuschrei­bun­gen nutz­ten dann auch man­che ent­täusch­te Par­tei­kol­le­gen, um Kan­di­da­tin­nen abzu­leh­nen – und sogar um dazu auf­zu­ru­fen, sie auf den Lis­ten zu strei­chen: „Sie trei­ben es zu weit! Eine sol­che ein­ge­bil­de­te Frau im Stän­de­rat… […] Aus­se­hen ist noch kein Zeug­nis für Gehirn!“[19]

Retour à la nor-mâle ?

Am Ende geht es 1971 nicht um eine Geschich­te der Geschlech­ter­ver­söh­nung dank Blu­men­bou­quets, son­dern um eine Neu­kon­fi­gu­ra­ti­on alter Macht­ver­hält­nis­se, da es nun für die Män­ner dar­um ging, Frau­en im Wahl­bü­ro und im Par­la­ment zu dul­den – und dadurch mög­li­cher­wei­se Macht abzu­ge­ben oder zu ver­lie­ren. Anders als die schö­nen Bil­dern in den Medi­en sug­ge­rier­ten, zogen Akti­vis­tin­nen aus den Frau­en­be­we­gun­gen eine ernüch­tern­de Bilanz der Wah­len, beson­ders in Kan­to­nen wie der Waadt, wo trotz den gros­sen Erwar­tun­gen doch kei­ne Kan­di­da­tin­nen gewählt wur­den.[20]

Und in der Öffent­lich­keit behiel­ten Medi­en wie Par­tei­en die Deu­tungs­ho­heit über das neue poli­ti­sche Sein der „Frau“. Genau des­we­gen hat­ten auch die Stimm­recht­le­rin­nen eine zu nied­ri­ge Wahl­be­tei­li­gung der Frau­en befürch­tet. Ihre Bro­schü­ren beschwo­ren folg­lich die neu­en Ver­ant­wor­tun­gen der Frau­en, wenn sie sie nicht sogar mahn­ten, mit Ver­nunft und nicht etwa Gefühl oder Zufall zu wäh­len. Weil sich aber die Par­tei­kräf­te­ver­hält­nis­se kaum ver­än­der­ten, zogen vie­le aus den Wah­len die Schluss­fol­ge­rung, dass Frau­en doch nor­mal, sprich wie Män­ner oder wie ihre Män­ner, wähl­ten. Iro­ni­scher Wei­se hat­te die­se Nor­ma­li­tät des weib­li­chen Wahl­ver­hal­tens zur Kon­se­quenz, dass Par­tei­en nach ihrem besorg­ten Lie­bes­wer­ben die Frau­en nun ver­gas­sen. Wie Fabi­en­ne Amlin­ger gezeigt hat, über­lies­sen sie in den 1970er Jah­ren ihren unter­fi­nan­zier­ten Frau­en­sek­tio­nen die Mobi­li­sie­rung und Rekru­tie­rung von Mit­glie­dern und Kan­di­da­tin­nen. Es war aber genau die ernüch­tern­de Bilanz aus die­sen ers­ten Wah­len, die Frau­en spä­ter dazu anreg­te, für die poli­ti­sche Reprä­sen­ta­ti­on der Frau­en durch Frau­en zu kämp­fen – durch Frau­en­lis­ten und mit der For­de­rung von Geschlech­ter­quo­ten auf Lis­ten.[21]

Der Wahl­kampf von 1971 stellt also einer­seits eine ver­pass­te Chan­ce dar: Frau­en wur­den doch nicht als wich­ti­ge neue poli­ti­sche Kraft aner­kannt, und gal­ten wei­ter­hin als «Ande­re» poli­ti­sche Wesen. Der Ein­druck der Kon­ti­nui­tät vor und nach 1971 sorg­te erst­mal dafür, den andro­zen­trier­ten Cha­rak­ter der Demo­kra­tie und der Staats­bür­ger­schaft nicht in Fra­ge zu stel­len. Aber von den Rän­dern her und ins­be­son­de­re aus den Frau­en­sek­tio­nen ver­brei­te­ten sich lang­sam ande­re mög­li­che Rol­len­bil­der und poli­ti­sche Prak­ti­ken, die lang­fris­tig das Frau­sein in der Poli­tik legitimierten.


[1] Sie­he Ker­go­mard, Zoé: Wah­len ohne Kampf? Schwei­zer Par­tei­en auf Stim­men­fang, 1947–1983, Basel 2020. Online: <www.doi.org/10.24894/978–3‑7965–4027‑1>; Ker­go­mard, Zoé: An die Urnen, Schwei­ze­rin­nen! Die Erfin­dung der Wäh­le­rin im eid­ge­nös­si­schen Wahl­kampf von 1971, in: Rich­ter, Hed­wig; Buch­stein, Huber­tus (Hg.): Kul­tur und Pra­xis der Wah­len. Eine Geschich­te der moder­nen Demo­kra­tie, Wies­ba­den 2017, S. 237–265. Online: <https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-02526382> ; Ker­go­mard, Zoé: « Édu­quer » les nou­vel­les citoy­ennes ? L’éducation à la citoy­enne­té en Suis­se au tour­nant des années 1960, Bil­let, Can We Learn Demo­cra­cy?, <https://cwld.hypotheses.org/342>, Stand: 01.02.2021.

[2] Götz, Hugo; Grie­der, Wal­ter: Grü­nes Licht für Eva : Staats­kund­li­ches Bre­vier für die Schwei­ze­rin, Basel 1971.

[3] Mei­er, Kat­rin: Tra­cing the Vio­lence of Hege­mo­nic Silence: The (Non-)Representation of Women’s Suf­fra­ge in Theo­ries on Swiss Demo­cra­cy sin­ce 1971, in: Dahin­den, Jani­ne; Eris­mann, Anne­li­se; Gri­sard, Domi­ni­que (Hg.): Vio­lent Times, Rising Resis­tance: An Inter­di­sci­pli­na­ry Gen­der Per­spec­ti­ve, Zurich, im Erschei­nen. 

[4] Dazu insb. Ludi, Regu­la: Gen­de­ring Citi­zenship and the Sta­te in Switz­er­land After 1945, in: Tolz, Vera; Booth, Ste­phe­nie (Hg.): Nati­on and Gen­der in Con­tem­pora­ry Euro­pe, Man­ches­ter; New York 2005, S. 53–79; Arni, Caro­li­ne: Repu­bli­ka­nis­mus und Männ­lich­keit in der Schweiz, in: Schwei­ze­ri­scher Ver­band für Frau­en­rech­te (Hg.): Der Kampf um glei­che Rech­te = Le com­bat pour les droits égaux, Basel 2009, S. 20–31.

[5] Vgl. Stu­der, Bri­git­te: La con­quê­te d’un droit. Le suf­fra­ge fémi­nin en Suis­se (1848–1971), Neu­châ­tel 2021.

[6] Z.B. Geben die Frau­en den Frau­en die Stim­me?, in: Sonn­tag, 27.10.1971.

[7] Réfle­xi­ons pos­télec­to­ra­les, in: Femmes suis­ses et le Mou­ve­ment fémi­nis­te, Novem­ber 1967 ; Pour ou cont­re : la sta­tis­tique des votants par élec­teurs et électri­ces, in: Femmes suis­ses et le Mou­ve­ment fémi­nis­te, März 1971. Vil­lard-Tra­ber, Anne­li­se: Kei­ne getrenn­te Anga­be der Stimm­be­tei­li­gung von Män­nern und Frau­en! Poli­to­lo­gen und Sta­tis­ti­ker nicht zufrie­den, in: Schwei­ze­ri­sche Frau­en­blatt, 01.10.1971.

[8] E1010B#1986151#606 Aus­übung der poli­ti­schen Rech­te 1971, Sit­zung der Arbeits­grup­pe für die Her­aus­ga­be einer poli­ti­schen Ein­füh­rungs­schrift für die Frau­en, 26. April 1971.

[9] Die gele­gent­li­chen (post-)kolonial gepräg­ten Ver­glei­che der Frau­en mit Ent­wick­lungs­län­dern hat auch Fabi­en­ne Amlin­ger beleuch­tet, Amlin­ger, Fabi­en­ne: Im Vor­zim­mer zur Macht? Die Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen der SPS, FDP und CVP (1971–1995), Zürich 2017, S. 342–344.

[10] Tschä­ni, Hans; Küch­ler, Hans: Mini-Pro­fil der Schweiz, Aar­au 1971.

[11] E1010B#1986/151#613* Bun­des­kanz­lei, Frau­en­stimm­recht, Pro­to­koll­no­tiz über den Vor­trag “Prak­ti­sche Fol­gen der Ein­füh­rung des FS- und WR in Staat und Ver­wal­tung”, Luzern, 25. Febru­ar 1971.

[12] Ber­ner Bauern‑, Gewer­be- und Bür­ger­par­tei (Hg.): Klei­ne Staats­kun­de für jeder­mann, Bern 1971.

[13] Götz; Grie­der: Grü­nes Licht für Eva, 1971.

[14] SSA Ar 1.117.14 Frau­en­kom­mis­si­on: Akten 1960–1975, Sit­zung des 20. Febru­ar 1971.

[15] Pos­tu­lat Bret­scher, Moti­on Wel­ter und Klei­ne Anfra­ge Ren­sch­ler über die Stell­ver­tre­tung bei Wah­len und Abstim­mun­gen, Amt­li­ches Bul­le­tin der Bun­des­ver­samm­lung 1971, III, S. 478–482.

[16] SSA, Ar 1.110.61 1970–1971: Par­tei­vor­stand MFC 13, 1971, Bel­ech­ten­der Kurz­be­richt zu den eid­ge­nös­si­schen Wah­len 1971, Arnold Bert­schin­ger, 9. Dezem­ber 1971.

[17] Ibid. 

[18] Sekre­ta­ri­at der Zür­cher SVP, Natio­nal­rats­wah­len 1971, Inse­rat „Frau­en machen Staat“, 1971; Archi­vio di Sta­to del Can­ton Tici­no, FPC 01, PST, 62.4.2.1, „Cara con­ci­tta­di­na“, 1971 ; Küng, Edgar, FDP der Schweiz, 1971, Pla­kat, 127 x 90 cm, Muse­um für Gestal­tung Zürich, Pla­kat­samm­lung 11–0712; SSA, Ar 27.60.37 SP des Kan­tons Zürich: Natio­nal­rats­wah­len 1971, Flug­blatt „Rote Rosen für grü­ne Witwen“.

[19] Gegen die Stän­de­rats­kan­di­da­tin der SP Zürich und Schrift­stel­le­rin Doris Morf, SSA Ar 27.60.37, Brief eines SP-Mit­glie­des an die Zür­cher SP, 17.09.1971.

[20] Cha­puis-Bischof, Simo­ne: Les elec­tions a bätons rom­pus!, in: Femmes suis­ses et le Mou­ve­ment femi­nis­te : orga­ne offi­ciel des infor­ma­ti­ons de Ll\lliance de Socie­tes Femini­ nes Suis­ses 59 (10), 11.1971.

[21] Amlin­ger, Fabi­en­ne: Im Vor­zim­mer zur Macht? Die Frau­en­or­ga­ni­sa­tio­nen der SPS, FDP und CVP (1971–1995), Zürich 2017; Seitz, Wer­ner: Auf die War­te­bank gescho­ben. Der Kampf um die poli­ti­sche Gleich­stel­lung der Frau­en in der Schweiz seit 1900, Zürich 2020.

Refe­renz:

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