Coronagraben ist das Wort des Jahres – doch wir brauchen nicht noch mehr Gräben in der Schweiz

Anfang Dezember kürte die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften das Wort Coronagraben[1] zum Wort des Jahres 2020 der französischsprachigen Schweiz. Laut der Jury lebten wir alle je nach Sprachregion in unterschiedlichen Realitäten. Tatsächlich gab es in den deutschen und den lateinischen[2] Kantonen grosse Unterschiede in Bezug auf die Covid-19-Infektionen und die politischen Massnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Virus. Aber leben wir wirklich in verschiedenen Realitäten und ist eine solche Unterscheidung sinnvoll? Wenn man sich die Bereitschaft der Bevölkerung zur Einhaltung von Massnahmen sowie die grössten Sorgen der Menschen seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie anschaut, ist eine solche Unterscheidung unserer Auffassung nach nicht gerechtfertigt. Wir stützen uns auf Daten aus der MOSAiCH-Erhebung 2020, die vor dem ersten Lockdown durchgeführt wurde, sowie aus zwei weiteren MOSAiCH-Erhebungen zu Covid-19 aus dem Frühjahr und dem Herbst 2020.

Insgesamt ist die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung bereit, die verschiedenen Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zu befolgen. 76 Prozent sind bereit, eine Maske zu tragen, 6 von 10 würden die SwissCovid App installieren und mehr als die Hälfte der Bevölkerung will sich impfen lassen. Während diese Zahlen ein Hinweis dafür sind, dass Massnahmen auch eingehalten werden, steht im Oktober 2020 ein beachtlicher Teil der Bevölkerung diesen Massnahmen immer noch kritisch gegenüber.

Im Hinblick auf die These vom Coronagraben sind tatsächlich einige Unterschiede zwischen den Sprachregionen zu erkennen (siehe Abbildung 1). Während die Bereitschaft zum Tragen einer Maske in den lateinischen Kantonen (82 %) grösser ist als in den deutschsprachigen (74 %), sind die Befragten in den deutschsprachigen Kantonen etwas mehr bereit, die SwissCovid App zu installieren (66 % gegenüber 60 % in den französisch- und italienischsprachigen Regionen). Bei der Bereitschaft, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, sind hingegen keine Unterschiede festzustellen.

Abbildung 1: Befolgung von Covid-19-Massnahmen (in %) 

Wir könnten aus diesem Ergebnis schliessen, dass die Sprachregionen tatsächlich in unterschiedlichen Realitäten leben. Genauso gut könnten wir aber auch argumentieren, dass die Befolgung von Massnahmen eine Frage der politischen Überzeugung, der Arbeitssituation, des Geschlechts oder des Alters ist.

Dann wäre die Argumentation wie folgt: Befragte, die rechten Parteien nahe stehen, sind weniger bereit, eine Maske zu tragen (70 %), als jene, die sich mit linken Parteien identifizieren (79 %). Oder: Menschen über 65 sind eher bereit, eine Maske zu tragen (82 %), als jüngere (31-64: 74 %, 18-30: 77 %). Eine ähnliche Argumentation kann für das Impfen vorgebracht werden: Wir haben festgestellt, dass Frauen (44 %) viel zögerlicher sind als Männer (64 %) und dass Arbeitgeber (43 %) skeptischer sind als Arbeitnehmer (53 %) und Arbeitslose (59 %). Wir könnten diese Liste mit Beispielen für die SwissCovid App fortführen. Fakt ist, dass die Sprachregion Unterschiede weder stärker noch auf homogenere Weise hervorbringt als andere Faktoren, die wir uns anschauen können.

Ähnlich kann im Hinblick auf die Dynamik der wichtigsten Probleme für die Schweizer Bevölkerung argumentiert werden. 2020 stellten wir den Befragten zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten die Frage, welche zwei Problembereiche sie aktuell für die Schweiz am allerwichtigsten halten. Eine Befragung fand kurz vor dem Lockdown im Frühling statt, eine während dem Lockdown und eine weitere kurz vor Beginn der zweiten Viruswelle im Oktober. In dieser kurzen Zeitspanne verlor der Problembereich Umwelt stark an Bedeutung (von 55 % auf 37%).

Umgekehrt stiegen die wirtschaftlichen Sorgen von 19 % auf 46 % stark an und lösten somit die Umwelt als zweitwichtigster Problembereich hinter der Gesundheitsversorgung ab. Währenddessen veränderte sich die Haltung zu anderen Problemen kaum (siehe Abbildung 2). Ein weiteres Ergebnis bestätigt die These, dass die Wirtschaft über das Jahr zu einem der wichtigsten Problembereiche innerhalb der Bevölkerung geworden ist. Wir fragten die Teilnehmer, ob sie folgender Aussage zustimmen: «Eine rasche wirtschaftliche Erholung ist wichtiger als der Schutz von Coronavirus-Risikogruppen.» Im Oktober, also noch bevor Massnahmen zur Bekämpfung der zweiten Covid-Welle ergriffen wurden, stimmten erstaunliche 21 % dieser Aussage zu, 37 % waren unentschlossen und 42 % stimmten nicht zu.

Abbildung 2: Einschätzung der wichtigsten Probleme der Schweiz (%)

Auch hier könnten die Sprachregionen als Argument dafür herangezogen werden, warum die Wirtschaft die Umwelt als wichtigstes Problem in der Schweiz abgelöst hat. Wirtschaftliche Sorgen spielen in den lateinischen Kantonen eine grössere Rolle als bei den Landsleuten jenseits der Saane (1. Welle: 26 % L-Ch gegenüber 18 % D-Ch; 2. Welle: 42 % gegenüber 28 ; 3. Welle: 54 % gegenüber 42 %).[3]

Sind damit die Bewohner der lateinischen Kantone in erster Linie für diese Kehrtwende verantwortlich? Nicht wirklich. Wenn wir erneut einen Blick auf Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen werfen, stellen wir keine Unterschiede im Hinblick auf Arbeitssituation, Geschlecht oder Alter fest. Dafür machen sich Befragte, die linken Parteien nahestehen, mehr Sorgen um die Umwelt (65 % bei der MOSAiCH-Erhebung; 57 während der 1. COVID-19-Welle; 56 % während der 2. COVID-19-Welle) als solche, die rechten Parteien nahestehen (25 % bei der MOSAiCH-Erhebung; 20 während der 1. COVID-19-Welle; 13 % während der 2. COVID-19-Welle). Hinzu kommt, dass letztere die Wirtschaft häufiger nennen (20 %, 39 %, 46 %) als erstere (17 %, 23 %, 34 %). Dennoch können wir den allgemeinen Trend in Abbildung 2 nicht durch den Vergleich von Gruppen erklären, da sich der Trend in den einzelnen Gruppen in dieselbe Richtung entwickelt.

Die Schlussfolgerung ist daher eine andere: Die Corona-Pandemie hat in der ganzen Schweiz ihre Spuren hinterlassen. Sicherlich nicht im selben Ausmass für alle, aber auf ähnliche Weise. Daher benötigen wir vielleicht eher mehr Brücken als Gräben. Da ältere Erwachsene (65+) am meisten bereit sind, sich impfen zu lasen (70 % gegenüber 50 % bei den 31-64jährigen und 47 % bei den 18-30jährigen) und jüngere (18-30) am wenigsten dazu neigen, Risikogruppen einer schnellen wirtschaftlichen Erholung zu opfern (14 % gegenüber 22 % bei den 31-64jährigen und 20 % bei den über 65jährigen), lassen sich unsere Ergebnisse eher als generationenübergreifende Solidarität interpretieren. 

FORS Covid-19 MOSAiCH-Erhebung
Um einen Beitrag zum Verständnis der Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesellschaft in der Schweiz zu leisten, wurde die jährlich stattfindende sozialwissenschaftliche MOSAiCH-Erhebung mit einer Covid-19-Zusatzbefragung (drei online Befragungswellen) ergänzt. Der Schwerpunkt dieser Covid-19-Erhebung liegt auf Fragen zu Wohlbefinden, Arbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Politik. Die erste Welle der Covid-19-Befragung fand Ende April bis Mitte Juni 2020 statt. Der Onlinefragebogen wurde von 2421 Personen beantwortet, die in Privathaushalten in der Schweiz leben und mindestens 18 Jahre alt sind. Die zweite Covid-19-Befragung fand im Oktober 2020 statt. An ihr beteiligten sich 1270 Personen. Die Resultate wurden statistisch gewichtet, um eine bessere Repräsentativität für die Schweizer Bevölkerung zu erreichen. Die Teilnehmenden werden im Frühling 2021 ein drittes Mal befragt, um die Auswirkungen von Covid-19 längerfristig messen zu können.

 

[1]Das Wort Graben wird hier als Verweis auf kulturelle oder politische Unterschiede verwendet. In Anlehnung an den Röstigraben, der auf kulturelle Unterschiede zwischen dem deutschsprachigen und dem lateinischen Teil der Schweiz verweist, unterstreicht der Begriff Coronagraben Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf zu ergreifende Hygienemassnahmen sowie die starken Unterschiede zwischen den Regionen bei den Infektionszahlen.

[2] Wir erlauben uns, die italienisch- und die französischsprachigen Kantone zusammenzufassen, da diese von Covid-19 mehr betroffen waren als die deutschsprachigen Kantone. Zu den lateinischen Kantonen zählen wir Genf, Waadt, Neuenburg, Freiburg, Wallis, Jura und Tessin.

[3] Befragte in den lateinischen Kantonen nannten die Umwelt häufiger als Problembereich, allerdings nur in der ersten Erhebung (57 % gegenüber 49 %). In den folgenden zwei Erhebungen sind zwischen den zwei Regionen in diesem Problembereich keine wesentlichen Unterschiede festzustellen. 

 

Bild: Pont d’Avignon (wikimedia commons)

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