1848 gewährten die Schweiz und Frankreich als erste Länder der Welt den Männern politische Rechte. Bei den Frauen dauerte es wesentlich länger. In Frankreich durften die Frauen 1945 zum ersten Mal wählen, in der Schweiz 1971. Völlig stimmlos waren die Frauen in der Schweiz allerdings nicht. Namentlich diejenigen, die zur gesellschaftlichen Elite gehörten, wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts ins politische System integriert, allerdings nur passiv.
Die Leiterinnen der grossen Frauenverbände hatten Einsitz in gewissen staatlichen Kommissionen und waren mit Beratungs- und Vollzugsarbeiten betraut. Diese «passive Integration» entsprach dem damaligen Verständnis der unterschiedlichen Geschlechterrollen. Das Frauenstimmrecht zu fordern, war für die grosse Mehrheit der Frauenverbände keine Option, allenfalls wurde die Mitwirkung in kirchlichen und sozialen Gremien oder in Schulkommissionen gewünscht. Als 1909 der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht gegründet wurde, standen die grossen Frauenverbände abseits.
Weniger wichtiges Traktandum
Es waren die nordischen Staaten, die das Frauenstimmrecht als erste in der westlichen Welt einführten. Darauf folgten nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe von mitteleuropäischen Staaten. Auch in der Schweiz gab es entsprechende Vorstösse, in fünf Kantonen kam es zu Volksabstimmungen. Die Vorlagen wurden jedoch alle haushoch verworfen. Dem Bundesrat war dies Grund genug, das Frauenstimmrecht zum weniger wichtigen Traktandum zu erklären und den Aufträgen des Parlamentes über Jahrzehnte hinweg nicht nachzukommen.
Der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht lancierte immer wieder Petitionen an den Bundesrat und das eidgenössische Parlament. Zum Instrument der Volksinitiative wollte er aber nicht greifen, zu sehr fürchtete er eine Abstimmungsniederlage. Aufsehen erregte eine Petition von 1929, welche von 250 000 erwachsenen Schweizerinnen und Schweizern unterschrieben wurde. Doch auch sie blieb ohne Folgen.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die romanischen und slawischen Staaten ebenfalls das Frauenstimmrecht einführten, wurde die Schweiz zum «gleichstellungspolitischen Sonderfall». Bis 1958 fanden zehn weitere kantonale Abstimmungen über das Frauenstimmrecht statt. Sie wurden allesamt abgelehnt.
Sind Frauen «Schweizer»?
Die Befürworterinnen des Frauenstimmrechts versuchten deshalb, mit der Strategie der Neuinterpretation der Bundesverfassung ans Ziel zu kommen. Der Begriff «Schweizer» in der Bundesverfassung solle auch für die Frauen gelten, und damit sollen ihnen auch dieselben politischen Rechte zukommen wie den Männern, ohne Volksabstimmung. Sie liefen aber bei den verschiedenen politischen und juristischen Instanzen auf. Der «Primat der männlichen Volksentscheide», so die Historikerin Regina Wecker, blieb unangetastet.
Schliesslich ermöglichten es zwei Ereignisse, Druck aufzubauen: eine Zivilschutzrevision und der Vorschlag des Bundesrates, die Europäische Menschenrechtskonvention wegen des fehlenden Frauenstimmrechts «mit Vorbehalt» zu unterzeichnen.
Dass in den fünfziger Jahren die Idee aufkam, auch die Frauen zum Zivilschutz beizuziehen, verlieh der Sache der Frau Schub: Die Frauenverbände gaben zu verstehen, dass sie nicht bereit waren, neue Pflichten für die Frauen bei weiterhin fehlenden politischen Rechten zu akzeptieren. In der Folge präsentierte der Bundesrat eine Vorlage zur Einführung des Frauenstimmrechts.
1958 wurde sie tatsächlich von beiden Räten angenommen, wobei einige Konservative nur deshalb zustimmten oder sich der Stimme enthielten, weil sie sicher waren, dass die Vorlage in der Volksabstimmung keine Mehrheit finden würde. Sie hofften, dass das Frauenstimmrecht deutlich verworfen und das Thema damit von der politischen Traktandenliste verschwinden werde. Das mehrheitliche Ja der beiden Räte von 1958 war daher, so die Historikerin Yvonne Voegeli, nicht unbedingt ein Ja zum Frauenstimmrecht, wie dies später gelegentlich interpretiert wurde.
Morgenröte im Westen
In der ersten gesamtschweizerischen Abstimmung vom 1. Februar 1959 wurde das Frauenstimmrecht denn auch von zwei Dritteln der Stimmenden abgelehnt. Am selben Tag aber nahm die Waadt als erster Kanton das kantonale und kommunale Frauenstimmrecht an. Alsbald folgten die Kantone Neuenburg und Genf. Die Einführung des Frauenstimmrechts nahm ihren Anfang in der Romandie, oder wie es die Frauenrechtlerin Lotti Ruckstuhl ausdrückte: «Die Sonne für das Frauenstimmrecht ging in der Schweiz im Westen auf.»
Das zweite «externe» Ereignis fand ein paar Jahre später statt. In den sechziger Jahren machte der Bundesrat den Vorschlag, die Europäische Menschenrechtskonvention wegen des fehlenden Frauenstimmrechts «mit Vorbehalt» zu unterzeichnen. Die Frauen reagierten heftig, unter anderem mit einem Protestmarsch nach Bern. Als der Vorschlag des Bundesrates im Ständerat scheiterte – wenn auch nicht nur wegen des Frauenstimmrechts –, legte der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft für die Einführung des Frauenstimmrechts vor.
Der Zeitgeist war dieses Mal gewogener: Das wirtschaftliche und das gesellschaftliche Umfeld hatten sich in den sechziger Jahren stark verändert. Eine neue Generation von Stimmberechtigten wuchs heran. Mittlerweile war in den beiden Basel und im Tessin das Frauenstimmrecht eingeführt worden, in drei weiteren Kantonen standen Abstimmungen an: im Wallis, in Luzern und in Zürich. Der Widerstand gegen das Frauenstimmrecht war geschmolzen. Mehrheitlich hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass den jahrelang vorgetragenen Argumenten gegen das Frauenstimmrecht jegliche Legitimation abhandengekommen war und eine weitere Verzögerung dem Ansehen der Schweiz im Ausland schaden würde.
Gründungsmythos ist Hürde
Am 7. Februar 1971 wurde das Frauenstimmrecht schliesslich von rund 66 Prozent der Stimmenden und von 15 Kantonen und einem Halbkanton angenommen. Bis Ende 1972 führten praktisch alle Kantone das kantonale und kommunale Frauenstimmrecht ein. Nur in den beiden Appenzell dauerte es noch länger.
Doch was waren eigentlich die Gründe für die späte Einführung des Frauenstimmrechts? Wurde das Frauenstimmrecht in vielen Ländern nach dem Ersten oder spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt – zumeist im Zuge von politischen Umwälzungen –, so gab es in der Schweiz nach 1874 kein solches «Gelegenheitsfenster», um den Frauen das Stimmrecht im Rahmen einer Totalrevision der Bundesverfassung zu erteilen.
Die politischen Instanzen beharrten zudem auf einer Verfassungsänderung mit Volksabstimmung, und zwar sollte das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer und auf kantonaler Ebene getrennt eingeführt werden. Die institutionellen Hürden der Referendumsdemokratie verlangsamten so nicht nur den Prozess, das Frauenstimmrecht einzuführen. Wie die Historikerin Sibylle Hardmeier aufzeigt, bot sie den Gegnern mehrfach Gelegenheit, aktiv zu werden, sei es im Parlament oder in der Volksabstimmung selber.
Eine prägende Rolle für die verspätete Einführung spielte in der Schweiz auch die männerbündlerische politische Kultur. Sie war von den alten Gründungsmythen der Eidgenossenschaft geprägt, bei denen im Zentrum ein Bund zwischen gleichberechtigten, republikanischen Männern stand. Ihnen kamen grundsätzlich die gleichen politischen Rechte zu. Die Frauen waren nicht mitgemeint. Dieser stillschweigende Ausschluss der Frauen findet sich auch in den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution.
Zaudernder Freisinn
Nur gerade die Sozialdemokratische Partei und ab den dreissiger Jahren der Landesring der Unabhängigen forderten das Frauenstimmrecht dezidiert. Die schärfsten Gegner waren die Katholisch-Konservativen und die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, die heutige SVP. Die Freisinnigen zeigten sich häufig ambivalent und zurückhaltend. Die Historikerin Brigitte Studer kritisiert denn auch, sie hätten es mit ihrer hegemonialen Stellung in der Hand gehabt, das Thema zusammen mit der SP vorwärtszutreiben. Sie hätten sich jedoch aus Rücksicht auf die konservativen Koalitionspartner im Bundesrat zurückgehalten.
Letztlich aber dauerte es deshalb so lange, weil die Mehrheit der abstimmenden Männer einem traditionellen Rollenverständnis der Geschlechter anhing. Sie waren nicht bereit, die politischen Rechte, welche in der Schweiz dank der Volksinitiative und dem Referendum einen beträchtlichen «Mehrwert» darstellten, mit den Frauen zu teilen.
Eingangs wird ein ideengeschichtlicher Überblick über das Paradox der Aufklärung und der Französischen Revolution gegeben, welche zwar die Gleichheit aller Menschen postulierten, in der Praxis aber die Frauen wie selbstverständlich von der politischen Partizipation ausschlossen. Darauf werden detailliert die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um das Frauenstimmrecht in der Schweiz dargestellt und die Hintergründe beleuchtet, welche die Schweiz im europäischen Vergleich zum «gleichstellungspolitischen Sonderfall» machten.
Im zweiten Teil wird die Entwicklung der Frauenrepräsentation in den Regierungen und Parlamenten, auf eidgenössischer und kantonaler Eben nach 1971 analysiert und ins gesellschaftspolitische Umfeld eingebettet. Es werden auch die verschiedenen Frauenförderungsmassnahmen dargestellt und eingeschätzt. Namentlich wird aufgezeigt, dass es für Fortschritte mehrfach den Druck von aussen brauchte, in den frühen 1990er Jahren den Frauenstreik und den so genannten Brunner-Effekt, bei den jüngsten Wahlen den zweiten Frauenstreik sowie weitere Aktivitäten der Zivilgesellschaft.
Die Publikation beinhaltet viele Tabellen, welche die kantonalen und eidgenössischen Abstimmungen über die Einführung des Frauenstimmrechts sowie die Frauenvertretung in den Parlamenten und Regierungen dokumentieren.
Dieser Text wurde erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert (24.11.2020).
Referenz:
- Seitz, Werner (2020). Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900. Zürich: Chronos-Verlag
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