Unter dem Strich ist der Ständerat mächtiger als der Nationalrat. So betitelte der Tages-Anzeiger am 25.9.20 einen Artikel. Dieser fasste gekonnt zusammen, was Rahel Freiburghaus, Sereina Dick und ich zum Ständerat erforscht hatten. Innerhalb einer Woche generierte der Artikel gut 50 Kommentare. Hier antworte ich auf einige davon und ordne sie ein.
We love Ständerat
Eine Gruppe von KommentatorInnen ist vom Ständerat schlichtweg begeistert
Abbildung 1: Soziokulturelle Merkmale von Bevölkerung und Schweizer Parlament
Anmerkungen: Eigene Grafik mit Daten von Vatter (2020, 256f.). Profi-PolitikerInnen gemäss Obelis, Angaben zur Religionszugehörigkeit der Ratsmitglieder von 2017 (NZZ 2017). Als Städte gelten die 25 Gemeinden mit mehr als 30’000 EinwohnerInnen per Ende 2017, grosse Kantone > 500’000 und kleine < 100’000 EinwohnerInnen (BFS 2020).
In beiden Kammern sind 40- bis 64-jährige Führungskräfte und Akademiker deutlich übervertreten. Im Ständerat gibt es zusätzlich eine klare Dominanz der Katholiken sowie der mittelgrossen Kantone. Weder der National- noch der Ständerat sind besonders städtisch – die Bevölkerung ist es allerdings auch nicht. Die drei grössten Landessprachen sind ebenfalls mehr oder weniger adäquat repräsentiert. Folgender Kommentar kann deswegen nur ironisch gemeint sein:
Viel eher trifft dagegen Folgendes zu:
Die hier genannten «unheiligen Allianzen» beziehen sich auf das identische Stimmverhalten der Polparteien SP (und Grünen) auf der linken und SVP (und Lega und MCG) auf der rechten Seite in Opposition zur politischen Mitte. Laut smartmonitor kommen solche SP-SVP-Koalitionen zwar durchaus vor, allerdings schwankt ihr Anteil seit 1996 zwischen 0.5 und 3% aller Koalitionen. Tatsächlich matchentscheidend sind sie sowieso nur im Nationalrat. Im Ständerat dagegen besitzen FDP und CVP bzw. Mitte-Fraktion zusammen eine absolute Mehrheit – und zwar seit es den Ständerat gibt (BFS 2020).
Über Parteien und deren Vertretung
Eine zweite Gruppe von Kommentaren zielt denn auch genau darauf ab:
Interessanterweise wird die FDP heftiger an den Pranger gestellt als die CVP, obwohl diese im Ständerat stärker überrepräsentiert ist. Abbildung 2 beziffert die Übervertretung der CVP im Ständerat auf 17 Prozent, jene der FDP «nur» auf 11 Prozent (Differenz zwischen Stimmanteil bei den Wahlen und Sitzanteil). An dieser Abbildung fällt auch die starke Untervertretung der SVP sowohl im Ständerat wie auch auf kantonaler Ebene und speziell in deren Exekutiven auf. FDP und CVP dagegen sind nicht nur im Stöckli, sondern auch in den Kantonsregierungen am stärksten vertreten. Folglich hat deren Übervertretung in der kleinen Kammer durchaus eine gewisse Berechtigung, da dem Ständerat ja eigentlich (auch) die Vertretung kantonaler Anliegen obliegt.
Abbildung 2: Parteianteile in Bevölkerung sowie Bundes- und kantonalen Institutionen
Anmerkungen: Eigene Grafik mit Daten des BFS. Bevölkerung = Wähleranteile per Oktober 2019, alles andere Sitzanteile per September 2020. FDP inkl. LP BS, CVP incl. CSP FR, VS +JU.
Kritik am Ständerat
Hiermit kommen wir nun zum eigentlichen Kern des parlamentarischen Pudels – zur Kritik am Ständerat als Institution. Diese ist durchaus paradox: zu wenig demokratisch, weil föderal bestückt, sagen die einen; nicht föderal genug, weil demokratisch gewählt, sagen die anderen. Folgende zwei Kommentare bringen dies sehr schön zum Ausdruck:
Das Dilemma ist real und lässt sich nie ganz auflösen, da föderale Demokratien genau diese Quadratur des Kreises bezwecken: zum einen staatliche Einheit sowie territoriale Vielfalt bewahren und pflegen, zum anderen Identität und Solidarität erhalten und festigen. Indem jedem (vollen) Kanton zwei Sitze zustehen, wird territoriale Gleichheit hergestellt. Dass aber alle StänderätInnen mittlerweile durch Volkswahl bestimmt werden, entspricht demokratischen Gepflogenheiten. Sowieso kann der Gegensatz von Demokratie und Föderalismus nie ganz aufgehoben, sondern nur durch möglichst effiziente, und doch legitime Mechanismen verbunden werden (Benz 2020). In der Schweiz tun dies nicht nur der Ständerat und der Dialog zwischen beiden Kammern. Auch das Vernehmlassungsverfahren und die direkte Demokratie tragen dazu bei. Sie alle festigen die deliberative politische Kultur des Landes und verhindern, dass eine blosse Minderheit dominieren kann. Dies wäre weder demokratisch noch föderal.
Metakritik oder: so what?
Eine letzte Gruppe von Kommentaren schliesslich fragt nach dem Sinn der ganzen Übung:
Unsere Studie wurde in der Tat von SteuerzahlerInnen finanziert – allerdings nur indirekt und teilweise, via universitäre Forschungsgelder und die Nachwuchsförderung des SNF. Die für das Buchkapitel aktualisierte Datenbank zum Differenzbereinigungsverfahren schliesst dagegen an die gute alte Tradition des Milizsystems an, sprich: Sie geschah in freiwilliger Zusatzarbeit.
Zu den eruierten Unterschieden: der Ständerat ist in 51 Prozent der Fälle Erstrat, der Nationalrat folgt bei 54 Prozent aller betrachteten Bundesratsgeschäfte der kleinen Kammer, und 48 Prozent aller Einigungsanträge entsprechen der Meinung des Ständerates (Nationalrat: 31 Prozent; 21 Prozent Kompromisse; cf. Mueller et al. 2020). Wahrscheinlich würde auch eine Verfassungsänderung nichts daran ändern, zumal ihr beide Kammern oder zumindest Volk und Stände zustimmen müssten. Sowieso will die empirisch-analytische Politikwissenschaft keine Sollzustände formulieren, sondern nach Erklärungen und kausalen Zusammenhängen für Bestehendes suchen. Wenn sich das in zwei Sätzen sagen lässt: umso besser.
Referenz
Literatur
- Benz Arthur (2020): Föderale Demokratie. Regieren im Spannungsfeld von Interdependenz und Autonomie. Baden-Baden: Nomos.
- Vatter, Adrian (2020). Reformansätze unter der Lupe: Modelle für die Reform des Ständerats. In: Mueller, Sean und Adrian Vatter (Hrsg.): Der Ständerat. Die Zweite Kammer der Schweiz, 253–294. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.
Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern