Das Optimismus-Paradox in Europa

In frü­he­ren Stu­di­en haben wir gezeigt, wie Ängs­te, die durch umfas­sen­den sozia­len Wan­del aus­ge­löst wer­den, sowohl die Pola­ri­sie­rung als auch die Poli­ti­sie­rung vor­an­trei­ben. Sie machen die Men­schen auch anfäl­li­ger für die Bot­schaf­ten von popu­lis­ti­schen und extre­mis­ti­schen poli­ti­schen Akteu­ren. Die­se nut­zen geschickt eine Rhe­to­rik der Nost­al­gie, die den Weg nach vorn als eine Rück­kehr in die Ver­gan­gen­heit ent­wirft. In die­ser Stu­die ergrün­den wir nun die Grund­hal­tun­gen der Europäer*innen und ihre poli­ti­schen Aus­wir­kun­gen ein­ge­hen­der, indem wir die Ein­schät­zung ihrer per­sön­li­chen Situa­ti­on ihrer Ein­schät­zung der gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on gegenüberstellen.

Unser Daten­ma­te­ri­al stammt aus einer Erhe­bung vom Dezem­ber 2019, für die wir mehr als 12.000 EU-Bürger*innen inter­viewt haben. Sowohl für die EU als Gan­zes als auch für die sie­ben Mit­glied­staa­ten Bel­gi­en, Frank­reich, Deutsch­land, Ita­li­en, Nie­der­lan­de, Polen und Spa­ni­en ver­fü­gen wir über reprä­sen­ta­ti­ve Unter­su­chungs­er­geb­nis­se. Am Ende die­ser Stu­die ver­bin­den wir unse­re Ergeb­nis­se mit den Reak­tio­nen auf die aktu­el­le COVID-19-Kri­se. Ins­be­son­de­re unter­su­chen wir dabei, wel­che Erkennt­nis­se sich aus dem Kri­sen­ma­nage­ment die­ser Tage für die Poli­tik auch nach der Kri­se ablei­ten lassen.

Als gesell­schafts­be­zo­ge­ner Pes­si­mis­mus wird die Sor­ge bezeich­net, die Gesell­schaft befin­de sich im Nie­der­gang und ent­wi­cke­le sich in die fal­sche Rich­tung. Inter­es­san­ter­wei­se fin­det ein beträcht­li­cher Anteil der Befrag­ten, es gehe ihrem Land ins­ge­samt eher schlecht, wäh­rend sie noch recht zufrie­den und hoff­nungs­voll auf ihr eige­nes Leben bli­cken. Die­se Kluft zwi­schen einem pes­si­mis­ti­schen Gesell­schafts­bild und Opti­mis­mus im Hin­blick auf das eige­ne Leben lässt sich wie folgt deu­ten: Die erheb­li­chen Ängs­te einer gros­sen Zahl von Men­schen könn­ten u. a. daher rüh­ren, dass zahl­rei­che Pro­zes­se aus­ser­halb ihres All­tags und Erfah­rungs­ho­ri­zonts ihnen äus­serst kom­plex erschei­nen und sie nicht glau­ben, sie beein­flus­sen zu können.

Wir ver­su­chen, die­ses Phä­no­men zu erfas­sen, indem wir drei zen­tra­le Fra­gen stellen:

  1. Wie opti­mis­tisch oder pes­si­mis­tisch sind die Men­schen mit Blick auf ihre per­sön­li­che Zukunft und die Zukunft ihres Lan­des, und wie unter­schei­den sich Bürger*innen unter­schied­li­cher EU-Mit­glied­staa­ten in die­ser Hinsicht?
  2. Wel­ches Mass an Opti­mis­mus und Pes­si­mis­mus bezüg­lich des eige­nen Lebens und der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung lässt sich bei ver­schie­de­nen sozia­len Grup­pen feststellen?
  3. Sind Anhänger*innen rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en in Bezug auf ihr per­sön­li­ches Leben und die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung opti­mis­ti­scher oder pes­si­mis­ti­scher als Unterstützer*innen ande­rer Parteien?

Unse­re wich­tigs­ten Ergeb­nis­se las­sen sich wie folgt zusammenfassen:

Inner­halb der EU27 stel­len wir fest, dass die Befrag­ten in Bezug auf ihre per­sön­li­che Zukunft eher opti­mis­tisch als pes­si­mis­tisch sind, in Bezug auf die Zukunft ihres Lan­des jedoch das Gegen­teil der Fall ist. Ins­ge­samt 58 Pro­zent der Befrag­ten in der EU27 sehen ihre per­sön­li­che Zukunft opti­mis­tisch, wäh­rend nur 42 Pro­zent pes­si­mis­tisch sind. Auf der ande­ren Sei­te äus­sern sich nur 42 Pro­zent opti­mis­tisch in Bezug auf die Zukunft ihres Lan­des, wäh­rend 58 Pro­zent dies­be­züg­lich pes­si­mis­tisch sind.

Abbildung 1: Optimismus und Pessimismus bezüglich der eigenen Zukunft und der Zukunft des Landes

Zwi­schen den ein­zel­nen Staa­ten gibt es bemer­kens­wer­te Unter­schie­de. Frank­reich und Ita­li­en haben den höchs­ten Anteil von Befrag­ten, die sowohl ihre per­sön­li­che Zukunft als auch die Zukunft ihres Lan­des pes­si­mis­tisch ein­schät­zen. 61 Pro­zent der fran­zö­si­schen Befrag­ten äus­sern sich pes­si­mis­tisch über ihre per­sön­li­chen  Zukunfts­aus­sich­ten, und 69 Pro­zent sind pes­si­mis­tisch, was die Zukunft ihres Lan­des betrifft. Ähn­li­che Ver­hält­nis­se fin­den wir in Ita­li­en. 56 Pro­zent der ita­lie­ni­schen  Befrag­ten bli­cken pes­si­mis­tisch auf ihr per­sön­li­ches Leben, 72 Pro­zent sehen die Zukunft ihres Lan­des pes­si­mis­tisch. Bei den bel­gi­schen Befrag­ten hal­ten sich  Opti­mis­mus und Pes­si­mis­mus in Bezug auf die eige­ne Zukunft die Waa­ge, hin­sicht­lich der Zukunft ihres Lan­des über­wiegt jedoch der Pes­si­mis­mus (58 Pro­zent äus­sern sich pes­si­mis­tisch). In Deutsch­land, den Nie­der­lan­den, Polen und Spa­ni­en blickt eine deut­li­che Mehr­heit der Men­schen opti­mis­tisch auf ihr per­sön­li­ches Leben. Was jedoch die Zukunft ihrer Län­der betrifft, machen sich die Befrag­ten deut­lich mehr Sor­gen. Die größ­te Opti­mis­mus­lü­cke zeigt sich in Deutsch­land und Spanien.

Bei der Unter­su­chung ver­schie­de­ner Genera­tio­nen stel­len wir fest, dass jün­ge­re Men­schen häu­fi­ger opti­mis­tisch auf ihr per­sön­li­ches Leben bli­cken als älte­re Lands­leu­te, jedoch ähn­lich pes­si­mis­tisch in Bezug auf die Zukunft ihres Lan­des sind.

Abbildung 2: Optimismus und Pessimismus bezüglich der eigenen Zukunft und der Zukunft des Landes nach Altersgruppen

Betrach­tet man die Ergeb­nis­se für ver­schie­de­ne sozia­le und demo­gra­fi­sche Grup­pen, so zeigt sich die gröss­te Opti­mis­mus­lü­cke bei Men­schen mit hohem Bil­dungs­ni­veau und bei Frau­en. So sind 62 Pro­zent der Befrag­ten mit hohem Bil­dungs­ni­veau  opti­mis­tisch hin­sicht­lich ihrer per­sön­li­chen Zukunft, wäh­rend nur 44 Pro­zent in die­ser Grup­pe die Zukunft ihres Lan­des opti­mis­tisch ein­schät­zen. Bei den Frau­en äußern sich 55 Pro­zent der Befrag­ten opti­mis­tisch hin­sicht­lich ihres per­sön­li­chen Lebens, wäh­rend sich nur 38 Pro­zent opti­mis­tisch hin­sicht­lich der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung zeigen.

Schlüs­selt man die Umfra­ge­da­ten nach den Par­tei­prä­fe­ren­zen der Befrag­ten auf, so offen­bart sich ein inter­es­san­tes Mus­ter: Die Anhänger*innen rechts­po­pu­lis­ti­scher Par­tei­en sind sowohl hin­sicht­lich ihrer per­sön­li­chen Zukunft als auch hin­sicht­lich der Zukunft ihres Lan­des pes­si­mis­ti­scher als die Gesamt­heit der Wäh­ler­schaft im jewei­li­gen Mit­glied­staat. Die ein­zi­ge Aus­nah­me stellt Polen dar, wo die Anhänger*innen der neu gegrün­de­ten sozi­al-libe­ra­len Par­tei „Wios­na“ das gröss­te Mass an Pes­si­mis­mus hin­sicht­lich ihrer per­sön­li­chen Zukunft und der Zukunft ihres Lan­des zum Aus­druck bringen.

Die eupi­ni­ons-Befra­gung
eupi­ni­ons wur­de von Cathe­ri­ne de Vries und Isa­bell Hoff­mann gegründet.

eupi­ni­ons ist eine unab­hän­gi­ge Platt­form für euro­päi­sche, öffent­li­che Mei­nung. Wir sam­meln, ana­ly­sie­ren und kom­men­tie­ren die Mei­nung der euro­päi­schen Öffent­lich­keit zu aktu­el­len poli­ti­schen The­men und Megatrends.

eupi­ni­ons setzt moderns­te Daten­er­fas­sungs­tech­ni­ken ein. Vier­tel­jähr­lich wer­den in allen EU-Mit­glieds­staa­ten Befra­gun­gen in 22 Spra­chen durch­ge­führt. Unse­re Daten ent­spre­chen wis­sen­schaft­li­chen Stan­dards und sind reprä­sen­ta­tiv hin­sicht­lich Alter, Geschlecht, Bil­dung und Land/Region. eupi­ni­ons ist ein Pro­jekt der Ber­tels­mann Stif­tung. Die Daten wer­den in Zusam­men­ar­beit mit Dalia Rese­arch erhoben.

Alle Publi­ka­tio­nen im Zusam­men­hang mit eupi­ni­ons wer­den von den bei­den For­sche­rin­nen gemein­sam verfasst.


Refe­renz: de Vries, Cathe­ri­ne und Isa­bell Hoff­mann (2020). Das Opti­mis­mus-Para­dox. Indi­vi­du­el­le Selbst­ge­fäl­lig­keit ver­sus gesell­schaft­li­chen Pes­si­mis­mus. Ber­tels­mann Stif­tung / eupi­ni­ons 2020


Bild: eupi­ni­ons

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