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Das Optimismus-Paradox in Europa

Catherine de Vries, Isabell Hoffmann
1st Juli 2020

In früheren Studien haben wir gezeigt, wie Ängste, die durch umfassenden sozialen Wandel ausgelöst werden, sowohl die Polarisierung als auch die Politisierung vorantreiben. Sie machen die Menschen auch anfälliger für die Botschaften von populistischen und extremistischen politischen Akteuren. Diese nutzen geschickt eine Rhetorik der Nostalgie, die den Weg nach vorn als eine Rückkehr in die Vergangenheit entwirft. In dieser Studie ergründen wir nun die Grundhaltungen der Europäer*innen und ihre politischen Auswirkungen eingehender, indem wir die Einschätzung ihrer persönlichen Situation ihrer Einschätzung der gesellschaftlichen Situation gegenüberstellen.

Unser Datenmaterial stammt aus einer Erhebung vom Dezember 2019, für die wir mehr als 12.000 EU-Bürger*innen interviewt haben. Sowohl für die EU als Ganzes als auch für die sieben Mitgliedstaaten Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Polen und Spanien verfügen wir über repräsentative Untersuchungsergebnisse. Am Ende dieser Studie verbinden wir unsere Ergebnisse mit den Reaktionen auf die aktuelle COVID-19-Krise. Insbesondere untersuchen wir dabei, welche Erkenntnisse sich aus dem Krisenmanagement dieser Tage für die Politik auch nach der Krise ableiten lassen.

Als gesellschaftsbezogener Pessimismus wird die Sorge bezeichnet, die Gesellschaft befinde sich im Niedergang und entwickele sich in die falsche Richtung. Interessanterweise findet ein beträchtlicher Anteil der Befragten, es gehe ihrem Land insgesamt eher schlecht, während sie noch recht zufrieden und hoffnungsvoll auf ihr eigenes Leben blicken. Diese Kluft zwischen einem pessimistischen Gesellschaftsbild und Optimismus im Hinblick auf das eigene Leben lässt sich wie folgt deuten: Die erheblichen Ängste einer grossen Zahl von Menschen könnten u. a. daher rühren, dass zahlreiche Prozesse ausserhalb ihres Alltags und Erfahrungshorizonts ihnen äusserst komplex erscheinen und sie nicht glauben, sie beeinflussen zu können.

Wir versuchen, dieses Phänomen zu erfassen, indem wir drei zentrale Fragen stellen:

  1. Wie optimistisch oder pessimistisch sind die Menschen mit Blick auf ihre persönliche Zukunft und die Zukunft ihres Landes, und wie unterscheiden sich Bürger*innen unterschiedlicher EU-Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht?
  2. Welches Mass an Optimismus und Pessimismus bezüglich des eigenen Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung lässt sich bei verschiedenen sozialen Gruppen feststellen?
  3. Sind Anhänger*innen rechtspopulistischer Parteien in Bezug auf ihr persönliches Leben und die gesellschaftliche Entwicklung optimistischer oder pessimistischer als Unterstützer*innen anderer Parteien?

Unsere wichtigsten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Innerhalb der EU27 stellen wir fest, dass die Befragten in Bezug auf ihre persönliche Zukunft eher optimistisch als pessimistisch sind, in Bezug auf die Zukunft ihres Landes jedoch das Gegenteil der Fall ist. Insgesamt 58 Prozent der Befragten in der EU27 sehen ihre persönliche Zukunft optimistisch, während nur 42 Prozent pessimistisch sind. Auf der anderen Seite äussern sich nur 42 Prozent optimistisch in Bezug auf die Zukunft ihres Landes, während 58 Prozent diesbezüglich pessimistisch sind.

Abbildung 1: Optimismus und Pessimismus bezüglich der eigenen Zukunft und der Zukunft des Landes

Zwischen den einzelnen Staaten gibt es bemerkenswerte Unterschiede. Frankreich und Italien haben den höchsten Anteil von Befragten, die sowohl ihre persönliche Zukunft als auch die Zukunft ihres Landes pessimistisch einschätzen. 61 Prozent der französischen Befragten äussern sich pessimistisch über ihre persönlichen  Zukunftsaussichten, und 69 Prozent sind pessimistisch, was die Zukunft ihres Landes betrifft. Ähnliche Verhältnisse finden wir in Italien. 56 Prozent der italienischen  Befragten blicken pessimistisch auf ihr persönliches Leben, 72 Prozent sehen die Zukunft ihres Landes pessimistisch. Bei den belgischen Befragten halten sich  Optimismus und Pessimismus in Bezug auf die eigene Zukunft die Waage, hinsichtlich der Zukunft ihres Landes überwiegt jedoch der Pessimismus (58 Prozent äussern sich pessimistisch). In Deutschland, den Niederlanden, Polen und Spanien blickt eine deutliche Mehrheit der Menschen optimistisch auf ihr persönliches Leben. Was jedoch die Zukunft ihrer Länder betrifft, machen sich die Befragten deutlich mehr Sorgen. Die größte Optimismuslücke zeigt sich in Deutschland und Spanien.

Bei der Untersuchung verschiedener Generationen stellen wir fest, dass jüngere Menschen häufiger optimistisch auf ihr persönliches Leben blicken als ältere Landsleute, jedoch ähnlich pessimistisch in Bezug auf die Zukunft ihres Landes sind.

Abbildung 2: Optimismus und Pessimismus bezüglich der eigenen Zukunft und der Zukunft des Landes nach Altersgruppen

Betrachtet man die Ergebnisse für verschiedene soziale und demografische Gruppen, so zeigt sich die grösste Optimismuslücke bei Menschen mit hohem Bildungsniveau und bei Frauen. So sind 62 Prozent der Befragten mit hohem Bildungsniveau  optimistisch hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft, während nur 44 Prozent in dieser Gruppe die Zukunft ihres Landes optimistisch einschätzen. Bei den Frauen äußern sich 55 Prozent der Befragten optimistisch hinsichtlich ihres persönlichen Lebens, während sich nur 38 Prozent optimistisch hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung zeigen.

Schlüsselt man die Umfragedaten nach den Parteipräferenzen der Befragten auf, so offenbart sich ein interessantes Muster: Die Anhänger*innen rechtspopulistischer Parteien sind sowohl hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft als auch hinsichtlich der Zukunft ihres Landes pessimistischer als die Gesamtheit der Wählerschaft im jeweiligen Mitgliedstaat. Die einzige Ausnahme stellt Polen dar, wo die Anhänger*innen der neu gegründeten sozial-liberalen Partei „Wiosna“ das grösste Mass an Pessimismus hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft und der Zukunft ihres Landes zum Ausdruck bringen.

Die eupinions-Befragung
eupinions wurde von Catherine de Vries und Isabell Hoffmann gegründet.

eupinions ist eine unabhängige Plattform für europäische, öffentliche Meinung. Wir sammeln, analysieren und kommentieren die Meinung der europäischen Öffentlichkeit zu aktuellen politischen Themen und Megatrends.

eupinions setzt modernste Datenerfassungstechniken ein. Vierteljährlich werden in allen EU-Mitgliedsstaaten Befragungen in 22 Sprachen durchgeführt. Unsere Daten entsprechen wissenschaftlichen Standards und sind repräsentativ hinsichtlich Alter, Geschlecht, Bildung und Land/Region. eupinions ist ein Projekt der Bertelsmann Stiftung. Die Daten werden in Zusammenarbeit mit Dalia Research erhoben.

Alle Publikationen im Zusammenhang mit eupinions werden von den beiden Forscherinnen gemeinsam verfasst.


Referenz: de Vries, Catherine und Isabell Hoffmann (2020). Das Optimismus-Paradox. Individuelle Selbstgefälligkeit versus gesellschaftlichen Pessimismus. Bertelsmann Stiftung / eupinions 2020


Bild: eupinions