Politik vermessen: Entwicklungen, Relevanz und blinde Flecken

Seit es in der Poli­tik Wah­len und Abstim­mun­gen gibt, wird Poli­tik quan­ti­fi­ziert und ver­mes­sen. Die Quan­ti­fi­zie­rung hilft, Zusam­men­hän­ge zu ent­de­cken und poli­ti­sche Inhal­te zu erklä­ren. Leicht wer­den dabei aber kom­ple­xe­re Pro­zes­se übersehen.

Seit sich die Demo­kra­tie in der west­li­chen Welt als wich­tigs­te Staats­form durch­ge­setzt hat, regel­mäs­sig Wah­len und teil­wei­se auch Volks­ab­stim­mun­gen statt­fin­den, lie­gen Zah­len in Hül­le und Fül­le vor. Die­se die­nen zwar pri­mär dazu, die Abstim­mungs­er­geb­nis­se und die Gewähl­ten zu ermit­teln. Die für einen Zeit­raum von über hun­dert Jah­ren vor­lie­gen­den Wahl- und Abstim­mungs­er­geb­nis­se kön­nen aber auch für Ana­ly­sen der regio­na­len Unter­schie­de im poli­ti­schen Ver­hal­ten oder in des­sen Ver­än­de­run­gen im Ver­lau­fe der Zeit ver­wen­det werden.

Von der Wahlgeografie zur statistischen Zusammenhangsforschung

Eine Vor­stu­fe sol­chen Ver­mes­sens der Poli­tik stellt die Wahl­geo­gra­fie des fran­zö­si­schen Sozi­al­wis­sen­schaft­lers André Sieg­fried dar. In sei­nem Stan­dard­werk «Tableau poli­tique de la Fran­ce de l’Ouest sous la troi­siè­me République»1 (1913) unter­such­te er ver­mu­te­te Zusam­men­hän­ge zwi­schen dem Wahl­ver­hal­ten einer Regi­on und einer Rei­he von geo­lo­gisch-topo­lo­gi­schen, wirt­schafts­geo­gra­fi­schen oder sozi­al­struk­tu­rel­len Faktoren.

Dazu erstell­te er detail­lier­te Kar­ten mit regio­na­len Aggre­ga­ten, zum Bei­spiel mit den Stim­men­an­tei­len einer Par­tei pro Wahl­kreis und mit Anga­ben über das Kli­ma, die Lage und die Boden­qua­li­tät, die Ein­kom­mens­struk­tur oder die Konfession.

Die visua­li­sie­ren­de Wahl­geo­gra­fie wur­de bald abge­löst von der sta­tis­ti­schen Aggre­gat­da­ten­ana­ly­se. Die­se zeigt die sta­tis­ti­sche Stär­ke des Zusam­men­hangs zwi­schen Varia­blen (Kor­re­la­tio­nen). Der Sozio­lo­ge Rudolf Heber­le ana­ly­sier­te in sei­ner 1934 ver­fass­ten und 1963 erst­mals auf Deutsch publi­zier­ten Pio­nier­stu­die «Land­be­völ­ke­rung und Nationalsozialismus»2 die Ein­fluss­fak­to­ren, wel­che gros­se Tei­le der länd­li­chen Bevöl­ke­rung von Schles­wig-Hol­stein innert weni­ger Jah­re vom Libe­ra­lis­mus zum Kon­ser­va­ti­vis­mus und von die­sem ins natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Lager wech­seln lies­sen. Sei­ne Metho­de nann­te er «sta­tis­ti­sche Zusammenhangsforschung».

Amtliche Daten für die Forschung

In der Schweiz wur­den schon rela­tiv früh Aggre­gat­da­ten­ana­ly­sen erstellt, vor allem auf der Basis der vie­len Volks­ab­stim­mun­gen, deren Ergeb­nis­se seit 1866 auf Kantons‑, Bezirks- und teil­wei­se auch auf Gemein­de­ebe­ne vorliegen.

Die Zür­cher Sozio­lo­gen Hans-Peter Mei­er-Dal­lach und Rolf Nef sowie der Ber­ner Poli­to­lo­ge Peter Gilg nutz­ten ab den 1970er-Jah­ren die Mög­lich­kei­ten der stark auf­kom­men­den elek­tro­ni­schen Daten­ver­ar­bei­tung und such­ten mit Fak­to­ren­ana­ly­sen nach Grund­struk­tu­ren im Abstim­mungs­ver­hal­ten und erklär­ten die­se mit sozio­öko­no­mi­schen und sozio­kul­tu­rel­len Variablen.

Ab den spä­ten 1990er-Jah­ren began­nen immer mehr Poli­to­lo­gen, den immensen Daten­fun­dus der Abstim­mungs­er­geb­nis­se zu nut­zen: Der Ber­ner Poli­to­lo­ge Wolf Lin­der zum Bei­spiel ana­ly­sier­te mit sei­nem Team in meh­re­ren Stu­di­en die Geschich­te der poli­ti­schen Kon­flikt­li­ni­en in der Schweiz; er unter­such­te die pola­ri­sie­ren­den The­men, die Inten­si­tät der Pola­ri­sie­rung, aber auch die Stra­te­gien bei der Konsensbildung.

Neue Visua­li­sie­run­gen und metho­di­sche Ver­fei­ne­run­gen brach­ten die Arbei­ten der bei­den Zür­cher Polit­geo­gra­fen Micha­el Her­mann und Hei­ri Leuthold sowie die Ana­ly­sen von Peter Moser vom sta­tis­ti­schen Amt des Kan­tons Zürich. Die Aggre­gat­da­ten­ana­ly­se ver­wen­det für die Berech­nung der poli­ti­schen Posi­tio­nen bezie­hungs­wei­se für die Erklä­rung des Abstim­mungs­ver­hal­tens amt­li­che Daten: die Ergeb­nis­se der Volks­ab­stim­mun­gen sowie sozio­de­mo­gra­fi­sche, sozio­kul­tu­rel­le und sozio­öko­no­mi­sche Variablen.

Die­se Daten ent­spre­chen aber nur bedingt der Fra­ge­stel­lun­gen der For­schen­den. So decken die Abstim­mungs­vor­la­gen kaum alle The­men ab, die zur Bil­dung von poli­ti­schen Wer­te­di­men­sio­nen benö­tigt wer­den, und auch die sozio­de­mo­gra­fi­schen, sozio­kul­tu­rel­len und sozio­öko­no­mi­schen Varia­blen beinhal­ten kaum alle Infor­ma­tio­nen, die für das Erklä­ren des Abstim­mungs­ver­hal­tens nötig sind. Bei Letz­te­rem kommt erschwe­rend hin­zu, dass die erklä­ren­den Varia­blen auf Infor­ma­tio­nen über die gesam­te Wohn­be­völ­ke­rung beru­hen, die erklär­ten poli­ti­schen Varia­blen aber nur auf den abge­ge­be­nen Stim­men der erwach­se­nen Bevöl­ke­rung mit Schwei­zer Pass.

Massgeschneiderte Daten aus Meinungsumfragen

Die Mei­nungs­be­fra­gung kann dage­gen mit der Kon­struk­ti­on des Fra­ge­bo­gens exakt jene Infor­ma­tio­nen über die Stimm­bür­ge­rin­nen und Stimm­bür­ger und ihre Beweg­grün­de erfra­gen, wel­che die For­schen­den für ihre Fra­ge­stel­lung benö­ti­gen. Die gros­se Her­aus­for­de­rung bei der Mei­nungs­be­fra­gung ist es jedoch, Ant­wor­ten aus einem für die befrag­te Bevöl­ke­rungs­grup­pe reprä­sen­ta­ti­ven Per­so­nen­da­ten­satz zu erhal­ten und Gefäl­lig­keits­ant­wor­ten zu erkennen.

In der Schweiz kam der Impuls für die Mei­nungs­be­fra­gun­gen aus der Poli­tik und der Ver­wal­tung; wie in den übri­gen west­li­chen Län­dern nach dem Zwei­ten Welt­krieg gab es Bedarf nach empi­ri­schen Fak­ten für die Ent­schei­dungs­fin­dung. 1975 gab das Eid­ge­nös­si­sche Finanz­de­par­te­ment dem Ber­ner Poli­to­lo­gen Erich Gru­ner den Auf­trag, die Ein­stel­lun­gen der Schwei­zer Bevöl­ke­rung zur Finanz­po­li­tik zu eruieren.

Gru­ner ergriff die Chan­ce und instal­lier­te die Nach­be­fra­gun­gen zu Volks­ab­stim­mun­gen, die soge­nann­ten «Vox-Ana­ly­sen», an der Uni­ver­si­tät Bern, in Zusam­men­ar­beit mit dem GFS-Insti­tut. Seit 2016 wer­den die Abstim­mungs­ana­ly­sen im Auf­trag der Bun­des­kanz­lei unter dem Titel «VOTO» vom Zen­trum für Demo­kra­tie Aar­au (ZDA) und vom For­schungs­zen­trum Fors in Lau­sanne durch­ge­führt. Für die eid­ge­nös­si­schen Wah­len gibt es seit 1995 die Wahl­be­fra­gung «Selects», die von einem breit abge­stütz­ten For­schungs­ver­bund getra­gen wird und heu­te wie die Abstim­mungs­ana­ly­sen beim For­schungs­zen­trum Fors ange­sie­delt ist. 

Boom der Politikvermessungen

Seit den frü­hen 1990er-Jah­ren wer­den im Vor­feld von Abstim­mun­gen und Wah­len regel­mäs­sig auch Mei­nungs­be­fra­gun­gen durch­ge­führt. Sie sol­len den Stand der Mei­nungs­bil­dung und die wich­ti­gen Argu­men­te für oder gegen eine Vor­la­ge ergrün­den und «Was­ser­stands­mel­dun­gen» durch­ge­ben (die ja impli­zit als Pro­gno­sen gedacht sind). Zuneh­mend las­sen zudem auch Medi­en­häu­ser Umfra­gen durchführen.

Für Kan­di­da­tin­nen und Kan­di­da­ten für ein poli­ti­sches Amt ist es mitt­ler­wei­le ein Muss, sich hin­sicht­lich ihrer Hal­tung zu poli­ti­schen The­men ver­mes­sen zu las­sen: Auf­grund einer Rei­he von Fra­gen, die poli­ti­schen The­men zuge­ord­net wer­den, erstellt in der Schweiz die Online-Wahl­hil­fe Smart­vo­te einen soge­nann­ten «Wahl­spi­der», mit dem alle Kan­di­die­ren­den ver­gleich­bar erscheinen.

Seit den 1990er-Jah­ren wird auch das Stimm­ver­hal­ten im Natio­nal­rat publi­ziert und ana­ly­siert (seit 2014 auch im Stän­de­rat). Die Gewähl­ten und deren Frak­tio­nen wer­den poli­tisch ver­or­tet, klas­siert und ran­giert. Auch wenn der Wahl­spi­der oder die Ana­ly­se des Abstim­mungs­ver­hal­tens der Gewähl­ten für die Mei­nungs­bil­dung der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler zwei­fels­oh­ne nütz­lich sind, ist die Zuord­nung der beant­wor­te­ten Fra­gen bezie­hungs­wei­se der Bezug der Inhal­te der Abstim­mungs­vor­la­gen zu poli­ti­schen Wer­te­di­men­sio­nen nicht immer evi­dent und erfährt nicht immer unge­teil­te Zustimmung.

Nament­lich aber sim­pli­fi­ziert sol­ches Ver­mes­sen die Pro­zes­se der Par­la­ments­ar­beit und redu­ziert sie auf die Schluss­ab­stim­mung. Fer­ner blen­det sie – gera­de auch beim Wahl­spi­der – wesent­li­che Eigen­schaf­ten einer Poli­ti­ke­rin oder eines Poli­ti­kers aus: bei­spiels­wei­se die Fach­ex­per­ti­se, die par­tei­po­li­ti­sche und inner­par­la­men­ta­ri­sche Ver­net­zung oder die Fähig­keit, poli­ti­sche Koali­tio­nen zu bilden.

Quantifizieren heisst für relevant erklären

Das Quan­ti­fi­zie­ren der Poli­tik unter­stützt und ver­ein­facht die Bericht­erstat­tung über die Poli­tik, was vor allem von den Medi­en geschätzt wird und bei der Öffent­lich­keit auf Inter­es­se stösst. Wenn das Quan­ti­fi­zie­ren hilft, Zusam­men­hän­ge zu ent­de­cken und poli­ti­sche Inhal­te bes­ser zu erklä­ren, ist dies ein Mehrwert.

Wenn aber Poli­tik wegen des Quan­ti­fi­zie­rens wie ein Pfer­de­ren­nen ana­ly­siert oder wie eine Hit­pa­ra­de dar­ge­stellt wird (Wer steht mehr links? Wer mehr rechts? Wer hat am Ende mit Ja gestimmt?) und dabei die Inhal­te und poli­ti­schen Pro­zes­se ver­ges­sen gehen, dann ver­kommt das Quan­ti­fi­zie­ren zu einer «Denk­pro­the­se», wie es die «Wochen­zei­tung» (WOZ) formulierte.

Bei allem Ver­mes­sen muss man sich zudem und vor allem auch dar­über bewusst sein, dass Quan­ti­fi­zie­ren heisst, nur bestimm­te poli­ti­sche Sach­ver­hal­te zu beleuch­ten und also nur die­se für rele­vant zu erklä­ren. Zudem bezie­hen sich die Ver­mes­sun­gen meis­tens auf die insti­tu­tio­nel­le Poli­tik – Ver­än­de­run­gen wie die schlag­ar­ti­ge Prä­senz der Frau­en­be­we­gung durch den Frau­en­streik im Som­mer 2019 dürf­ten nicht auf dem Radar der Ver­mes­sun­gen gewe­sen sein.

Hin­weis: Die­ser Bei­trag erschien am 14. Okto­ber 2019 im Bul­le­tin 3/19 der Schwei­ze­ri­schen Aka­de­mie der Geis­tes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten SAGW.


Refe­ren­zen:

  • Heber­le, Rudolf (1963): Land­be­völ­ke­rung und Natio­nal­so­zia­lis­mus. Eine sozio­lo­gi­sche Unter­su­chung der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung in Schles­wig-Hol­stein 1918 bis 1932, Stuttgart.
  • Her­mann, Micha­el und Hei­ri Leuthold (2003): Atlas der poli­ti­schen Land­schaf­ten. Ein welt­an­schau­li­ches Por­trät der Schweiz, Zürich (Publi­ka­ti­on 2019 aktualisiert). •
  • Lin­der, Wolf, Regu­la Zür­cher und Chris­ti­an Bol­li­ger (2008): Gespal­te­ne Schweiz – geein­te Schweiz. Gesell­schaft­li­che Spal­tun­gen und Kon­kor­danz bei den Volks­ab­stim­mun­gen seit 1874, Baden.
  • Seitz, Wer­ner (2014): Geschich­te der poli­ti­schen Grä­ben in der Schweiz. Eine Dar­stel­lung anhand der eid­ge­nös­si­schen Wahl- und Abstim­mungs­er­geb­nis­se von 1848 bis 2012. Zürich.
  • Seitz, Wer­ner (1997): Die poli­ti­sche Kul­tur und ihre Bezie­hung zum Abstim­mungs­ver­hal­ten. Eine begriffs­ge­schicht­li­che und metho­den­kri­ti­sche Ana­ly­se, Zürich.
  • Sieg­fried, André (1913): Tableau poli­tique de la Fran­ce de l’Ou­est sous la troi­siè­me Répu­bli­que, Paris.
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