1

Politik vermessen: Entwicklungen, Relevanz und blinde Flecken

Werner Seitz
1st November 2019

Seit es in der Politik Wahlen und Abstimmungen gibt, wird Politik quantifiziert und vermessen. Die Quantifizierung hilft, Zusammenhänge zu entdecken und politische Inhalte zu erklären. Leicht werden dabei aber komplexere Prozesse übersehen.

Seit sich die Demokratie in der westlichen Welt als wichtigste Staatsform durchgesetzt hat, regelmässig Wahlen und teilweise auch Volksabstimmungen stattfinden, liegen Zahlen in Hülle und Fülle vor. Diese dienen zwar primär dazu, die Abstimmungsergebnisse und die Gewählten zu ermitteln. Die für einen Zeitraum von über hundert Jahren vorliegenden Wahl- und Abstimmungsergebnisse können aber auch für Analysen der regionalen Unterschiede im politischen Verhalten oder in dessen Veränderungen im Verlaufe der Zeit verwendet werden.

Von der Wahlgeografie zur statistischen Zusammenhangsforschung

Eine Vorstufe solchen Vermessens der Politik stellt die Wahlgeografie des französischen Sozialwissenschaftlers André Siegfried dar. In seinem Standardwerk «Tableau politique de la France de l’Ouest sous la troisième République»1 (1913) untersuchte er vermutete Zusammenhänge zwischen dem Wahlverhalten einer Region und einer Reihe von geologisch-topologischen, wirtschaftsgeografischen oder sozialstrukturellen Faktoren.

Dazu erstellte er detaillierte Karten mit regionalen Aggregaten, zum Beispiel mit den Stimmenanteilen einer Partei pro Wahlkreis und mit Angaben über das Klima, die Lage und die Bodenqualität, die Einkommensstruktur oder die Konfession.

Die visualisierende Wahlgeografie wurde bald abgelöst von der statistischen Aggregatdatenanalyse. Diese zeigt die statistische Stärke des Zusammenhangs zwischen Variablen (Korrelationen). Der Soziologe Rudolf Heberle analysierte in seiner 1934 verfassten und 1963 erstmals auf Deutsch publizierten Pionierstudie «Landbevölkerung und Nationalsozialismus»2 die Einflussfaktoren, welche grosse Teile der ländlichen Bevölkerung von Schleswig-Holstein innert weniger Jahre vom Liberalismus zum Konservativismus und von diesem ins nationalsozialistische Lager wechseln liessen. Seine Methode nannte er «statistische Zusammenhangsforschung».

Amtliche Daten für die Forschung

In der Schweiz wurden schon relativ früh Aggregatdatenanalysen erstellt, vor allem auf der Basis der vielen Volksabstimmungen, deren Ergebnisse seit 1866 auf Kantons-, Bezirks- und teilweise auch auf Gemeindeebene vorliegen.

Die Zürcher Soziologen Hans-Peter Meier-Dallach und Rolf Nef sowie der Berner Politologe Peter Gilg nutzten ab den 1970er-Jahren die Möglichkeiten der stark aufkommenden elektronischen Datenverarbeitung und suchten mit Faktorenanalysen nach Grundstrukturen im Abstimmungsverhalten und erklärten diese mit sozioökonomischen und soziokulturellen Variablen.

Ab den späten 1990er-Jahren begannen immer mehr Politologen, den immensen Datenfundus der Abstimmungsergebnisse zu nutzen: Der Berner Politologe Wolf Linder zum Beispiel analysierte mit seinem Team in mehreren Studien die Geschichte der politischen Konfliktlinien in der Schweiz; er untersuchte die polarisierenden Themen, die Intensität der Polarisierung, aber auch die Strategien bei der Konsensbildung.

Neue Visualisierungen und methodische Verfeinerungen brachten die Arbeiten der beiden Zürcher Politgeografen Michael Hermann und Heiri Leuthold sowie die Analysen von Peter Moser vom statistischen Amt des Kantons Zürich. Die Aggregatdatenanalyse verwendet für die Berechnung der politischen Positionen beziehungsweise für die Erklärung des Abstimmungsverhaltens amtliche Daten: die Ergebnisse der Volksabstimmungen sowie soziodemografische, soziokulturelle und sozioökonomische Variablen.

Diese Daten entsprechen aber nur bedingt der Fragestellungen der Forschenden. So decken die Abstimmungsvorlagen kaum alle Themen ab, die zur Bildung von politischen Wertedimensionen benötigt werden, und auch die soziodemografischen, soziokulturellen und sozioökonomischen Variablen beinhalten kaum alle Informationen, die für das Erklären des Abstimmungsverhaltens nötig sind. Bei Letzterem kommt erschwerend hinzu, dass die erklärenden Variablen auf Informationen über die gesamte Wohnbevölkerung beruhen, die erklärten politischen Variablen aber nur auf den abgegebenen Stimmen der erwachsenen Bevölkerung mit Schweizer Pass.

Massgeschneiderte Daten aus Meinungsumfragen

Die Meinungsbefragung kann dagegen mit der Konstruktion des Fragebogens exakt jene Informationen über die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger und ihre Beweggründe erfragen, welche die Forschenden für ihre Fragestellung benötigen. Die grosse Herausforderung bei der Meinungsbefragung ist es jedoch, Antworten aus einem für die befragte Bevölkerungsgruppe repräsentativen Personendatensatz zu erhalten und Gefälligkeitsantworten zu erkennen.

In der Schweiz kam der Impuls für die Meinungsbefragungen aus der Politik und der Verwaltung; wie in den übrigen westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Bedarf nach empirischen Fakten für die Entscheidungsfindung. 1975 gab das Eidgenössische Finanzdepartement dem Berner Politologen Erich Gruner den Auftrag, die Einstellungen der Schweizer Bevölkerung zur Finanzpolitik zu eruieren.

Gruner ergriff die Chance und installierte die Nachbefragungen zu Volksabstimmungen, die sogenannten «Vox-Analysen», an der Universität Bern, in Zusammenarbeit mit dem GFS-Institut. Seit 2016 werden die Abstimmungsanalysen im Auftrag der Bundeskanzlei unter dem Titel «VOTO» vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) und vom Forschungszentrum Fors in Lausanne durchgeführt. Für die eidgenössischen Wahlen gibt es seit 1995 die Wahlbefragung «Selects», die von einem breit abgestützten Forschungsverbund getragen wird und heute wie die Abstimmungsanalysen beim Forschungszentrum Fors angesiedelt ist. 

Boom der Politikvermessungen

Seit den frühen 1990er-Jahren werden im Vorfeld von Abstimmungen und Wahlen regelmässig auch Meinungsbefragungen durchgeführt. Sie sollen den Stand der Meinungsbildung und die wichtigen Argumente für oder gegen eine Vorlage ergründen und «Wasserstandsmeldungen» durchgeben (die ja implizit als Prognosen gedacht sind). Zunehmend lassen zudem auch Medienhäuser Umfragen durchführen.

Für Kandidatinnen und Kandidaten für ein politisches Amt ist es mittlerweile ein Muss, sich hinsichtlich ihrer Haltung zu politischen Themen vermessen zu lassen: Aufgrund einer Reihe von Fragen, die politischen Themen zugeordnet werden, erstellt in der Schweiz die Online-Wahlhilfe Smartvote einen sogenannten «Wahlspider», mit dem alle Kandidierenden vergleichbar erscheinen.

Seit den 1990er-Jahren wird auch das Stimmverhalten im Nationalrat publiziert und analysiert (seit 2014 auch im Ständerat). Die Gewählten und deren Fraktionen werden politisch verortet, klassiert und rangiert. Auch wenn der Wahlspider oder die Analyse des Abstimmungsverhaltens der Gewählten für die Meinungsbildung der Wählerinnen und Wähler zweifelsohne nützlich sind, ist die Zuordnung der beantworteten Fragen beziehungsweise der Bezug der Inhalte der Abstimmungsvorlagen zu politischen Wertedimensionen nicht immer evident und erfährt nicht immer ungeteilte Zustimmung.

Namentlich aber simplifiziert solches Vermessen die Prozesse der Parlamentsarbeit und reduziert sie auf die Schlussabstimmung. Ferner blendet sie – gerade auch beim Wahlspider – wesentliche Eigenschaften einer Politikerin oder eines Politikers aus: beispielsweise die Fachexpertise, die parteipolitische und innerparlamentarische Vernetzung oder die Fähigkeit, politische Koalitionen zu bilden.

Quantifizieren heisst für relevant erklären

Das Quantifizieren der Politik unterstützt und vereinfacht die Berichterstattung über die Politik, was vor allem von den Medien geschätzt wird und bei der Öffentlichkeit auf Interesse stösst. Wenn das Quantifizieren hilft, Zusammenhänge zu entdecken und politische Inhalte besser zu erklären, ist dies ein Mehrwert.

Wenn aber Politik wegen des Quantifizierens wie ein Pferderennen analysiert oder wie eine Hitparade dargestellt wird (Wer steht mehr links? Wer mehr rechts? Wer hat am Ende mit Ja gestimmt?) und dabei die Inhalte und politischen Prozesse vergessen gehen, dann verkommt das Quantifizieren zu einer «Denkprothese», wie es die «Wochenzeitung» (WOZ) formulierte.

Bei allem Vermessen muss man sich zudem und vor allem auch darüber bewusst sein, dass Quantifizieren heisst, nur bestimmte politische Sachverhalte zu beleuchten und also nur diese für relevant zu erklären. Zudem beziehen sich die Vermessungen meistens auf die institutionelle Politik – Veränderungen wie die schlagartige Präsenz der Frauenbewegung durch den Frauenstreik im Sommer 2019 dürften nicht auf dem Radar der Vermessungen gewesen sein.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 14. Oktober 2019 im Bulletin 3/19 der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW.


Referenzen:

  • Heberle, Rudolf (1963): Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918 bis 1932, Stuttgart.
  • Hermann, Michael und Heiri Leuthold (2003): Atlas der politischen Landschaften. Ein weltanschauliches Porträt der Schweiz, Zürich (Publikation 2019 aktualisiert). •
  • Linder, Wolf, Regula Zürcher und Christian Bolliger (2008): Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz. Gesellschaftliche Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874, Baden.
  • Seitz, Werner (2014): Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz. Eine Darstellung anhand der eidgenössischen Wahl- und Abstimmungsergebnisse von 1848 bis 2012. Zürich.
  • Seitz, Werner (1997): Die politische Kultur und ihre Beziehung zum Abstimmungsverhalten. Eine begriffsgeschichtliche und methodenkritische Analyse, Zürich.
  • Siegfried, André (1913): Tableau politique de la France de l'Ouest sous la troisième République, Paris.