Die Macht des Wahlsystems

Gäbe es bei den Nationalratswahlen nur einen einzigen, nationalen Wahlkreis, würden vor allem kleinere Parteien profitieren.

Was wäre, wenn es bei den Nationalratswahlen nicht 26 kantonale, sondern nur einen einzigen nationalen Wahlkreis gäbe? Wahlsysteme legen die Spielregeln für Wahlen fest. Bei den alle vier Jahre stattfindenden Nationalratswahlen gilt das Proporzwahlsystem. Ausdruck des stark föderalen Charakters des Wahlsystems ist zudem der Grundsatz, dass jeder Kanton einen eigenen Wahlkreis bildet und mindestens einen der insgesamt 200 Sitze erhält.

Die beträchtlichen Bevölkerungsdifferenzen zwischen den Kantonen führen dabei zu sehr unterschiedlich hohen Eintrittsschwellen und damit auch zu einer empfindlichen Einschränkung des Proporzwahlsystems.

So müssen die Parteien in den 13 mittleren und kleineren Proporzkantonen, wo weniger als zehn Mandate zu vergeben sind, für einen Sitz einen Stimmenanteil von mehr als zehn Prozent erreichen. In den Kantonen Jura und Schaffhausen, wo nur zwei Sitze zu verteilen sind, braucht es ein Drittel der Stimmen, um in den Nationalrat einzuziehen. Und in den sechs bevölkerungskleinsten Kantonen (Uri, Obwalden, Nidwalden, Glarus, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden) wird nur ein einziges Nationalratsmandat vergeben. Diese Kantone kennen faktisch ein Mehrheitswahlsystem, denn es wird derjenige Kandidierende gewählt, welcher die meisten Stimmen erhält. Damit weichen die Anteile der erhaltenen Sitze von denjenigen der Stimmen oft beträchtlich ab.

Gäbe es bei den Nationalratswahlen nicht 26 kantonale, sondern nur einen einzigen nationalen Wahlkreis – vom Boden- bis zum Genfersee –, würden die kleinen Parteien weitestgehend profitieren, während die mittleren und grossen Volksparteien wie SVP, SP, FDP und CVP im Vergleich zu heute schlechter gestellt würden. Es gibt allerdings eine interessante Ausnahme: Kleine Parteien wie die Lega dei Ticinesi, die CSP oder früher die Liberalen in der Westschweiz, die sich durch einige wenige, dafür aber starke kantonale Hochburgen auszeichnen, würden ebenfalls Sitze verlieren, da nicht mehr ihre aussergewöhnliche Stärke in einem einzelnen Kanton, sondern eben das Wahlresultat in der gesamten Schweiz zählen würde.

Insgesamt gilt aber: Wäre die Schweiz ein einziger Wahlkreis, so hätten die Bundesratsparteien bei den Nationalratswahlen im langjährigen Durchschnitt pro Wahl sechs bis zehn Sitze weniger erhalten. Die grössten Änderungen wären dabei in den Kleinkantonen zu erwarten, da hier die Wählerschaft bisher nur eine beschränkte Parteienauswahl hatte. So wäre davon auszugehen, dass vermehrt auch kleinere Parteien in Kleinkantonen überhaupt antreten würden, da ihre Stimmen nicht mehr verloren gingen. Dies könnte den Parteienwettbewerb in den kleinen Kantonen massiv verstärken. Experten schätzen allein diesen sogenannten psychologischen Effekt einer Wahlverfahrensänderung auf etwa drei weitere Sitze für kleinere Parteien.

Abbildung 1: Wahlkreisgrösse, Erfolgshürde und Parteienzahl bei den Nationalratswahlen 2015 nach Kantonen

Anmerkung: Wahlkreisgrösse in Anzahl der Sitze; Erfolgshürde in Prozent der Stimmen; Parteienzahl bezieht sich auf den Nationalrat.

Quelle: Berechnungen auf Basis des Bundesamt für Statistik (2015).

Eine solche Stärkung der Stimmengerechtigkeit tönt auf den ersten Blick verlockend. Gleichzeitig würde die Reduktion auf einen einzigen Wahlkreis aber eine weitere Parteienzersplitterung, eine Schwächung der gemässigten Mitte und eine zunehmende Instabilität der Regierungsbildung durch das Parlament begünstigen. Eine höhere Wahlstimmengerechtigkeit würde damit eine andere – und für die Schweiz zunehmend wichtige – Kernfunktion von Wahlsystemen schwächen: nämlich die Bildung einer stabilen Regierung, die nicht aus zu vielen Parteien besteht, die sich gegenseitig blockieren.


Hinweis: Dieser Beitrag erschien am 20. August 2019 in der Neuen Zürcher Zeitung.

 

Bild: Nationalratssaal

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KategorienPolitisches Verhalten, Schweizer PolitikThemen
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