Die allererste Etappe eines politischen Entscheidungsprozesses ist die Thematisierung eines zu lösenden gesellschaftlichen Problems auf der politischen Tagesordnung. Welcher Akteur eine öffentliche Politik initiiert, wird zweifellos einen Impact auf nachfolgende Etappen (d.h. Politikformulierung und -vollzug) haben und damit auch auf den Inhalt dieser Politik. Aber wer hat die Nase vorn in der Agenda-Setting Phase? Und wie hat sich die jeweilige Rolle der Regierung bzw. des Parlaments während der letzten 30 Jahren entwickelt? Gibt es Differenzen zwischen Politikenbereichen?
Um diese Fragen zu beantworten, verwenden wir neu erhobene Daten zu allen Gesetzesentwürfen, die das schweizerische Parlament zwischen 1987 und 2015 behandelt hat (“legpro” Projekt). Für alle 1’804 Geschäfte, die dem Votum des Volks unterstehen, haben wir Angaben zum Akteur, der den Gesetzgebungsprozess initiiert hat.
Die Abbildung 1 zeigt summarisch, wie sich die relative Bedeutung der verschiedenen Institutionen als Initiatoren von Entscheidungsprozessen über die Zeit entwickelt hat. Dabei ist ersichtlich, dass Impulse aus der Regierung (Bundesrat und Verwaltung) in der letzten Zeit an Bedeutung verloren haben. Diese Abnahme geht Hand in Hand mit einem grösseren Agenda-Setting Einfluss von internationalen Akteuren und, in geringerem Ausmass, vom Parlament. Schliesslich gilt es zu bemerken, dass die Volksinitiative, trotz steigender Nutzung über die Zeit, einen stabilen Anteil an Entscheidungsprozessen initiiert hat.
Abbildung 1: Anteile der verschiedenen Initiatoren über die Zeit (1987-2015)
Der prozentuale Anteil der Kantone ist aus Platzgründen in der Abbildung nicht abgebildet. Für die Legislaturperiode 1987-1996 beträgt der Anteil 1,9 Prozent, für 1997-2006 beträgt er 0,7 Prozent und für 2007-2015 liegt er bei 0,4 Prozent.
Die grössere Rolle des Parlaments in Entscheidungsprozessen kann man mit der Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Politikinitiation auch genauer feststellen. Es zeigt sich, dass sich der Anteil von parlamentarischen Initiativen (direkt) im Vergleich zu Motionen oder Postulaten (indirekt) fast verdoppelt hat (von 30% in der 1987-1996 Periode zu 56% in der 2007-2015 Periode). Anders gesagt, möchten Bundesparlamentarier lieber einen eigenen Gesetzentwurf schreiben, als diese Aufgabe an den Bundesrat zu delegieren.
Diese ersten Resultate zeigen eine Machtverlusttendenz aus Sicht der Regierung. Allerdings müssen wir diese Tendenz relativieren, sobald wir den Anteil neuer versus revidierter Gesetze betrachten (Abbildung 2).
Abbildung 2: Anteil neuer versus revidierter Gesetze (1999-2015)
Anmerkung: Für die Kategorie “Volk” wird nur das indirekte Agenda-Setting berücksichtigt, das heisst Gesetze zur Umsetzung von angenommenen Volksinitiativen. Da die absoluten Zahlen gering sind, verzichten wir auf eine Interpretation des relativen Anteils von neuen versus revidierten Umsetzungsgesetzen.
Entscheidungsprozesse, die zur Annahme neuer legislativer Akte führen, sollten schätzungsweise einen grösseren politischen Wandel als kleinere Gesetzesrevisionen darstellen. Betrachtet man gleichzeitig diese empirische Feststellung und die vorherige, nämlich die markante Zunahme von international ausgelösten Entscheidungsprozessen und die dadurch induzierte Vermittlungsrolle des Bundesrats, dann könnte man vorläufig daraus schliessen, dass das Agenda-Setting durch die Regierung wachsend ist.
Schliesslich ist es möglich, dass bereichsspezifische Merkmale auch einen Einfluss auf die Art und Weise der Agenda-Setting-Prozesse ausüben. In der Tat können sich die verschiedenen Politiktypen (z. B. redistributive versus regulative Politiken), die Konstellationen von Akteuren (z. B. geschlossene Gemeinschaft versus offenes Netzwerk), der Grad der Institutionalisierung (z. B. bilaterale Abkommen mit der Europäischen Union in gewissen Bereichen) usw. stark unterscheiden.
Die Daten vom “legpro” Projekt zeigen, dass die Regierung besonders aktiv bei innenpolitischen Themen ist, die durch das WBF (65%), das VBS (62%) und das EDI, (58%) sowie durch die Bundeskanzlei (57%) auf die politische Agenda gesetzt werden. Im Gegensatz dazu ist der relative Einfluss des Bundesrats als Agenda-Setter markant kleiner beim UVEK (51%), beim EDA, (49%) sowie beim EJPD (44%). Im EJPD sind es eher Parlamentarier, welche die Rolle des Agenda-Setters übernehmen. Die Themen der Migration sowie der Ordnung und Sicherheit sind parteipolitisch brisant und führen zur Polarisierung des Parlaments. Parlamentarier könnten solche Probleme thematisieren, um ihre Stärke im Parteienwettbewerb und ihre Wahlerfolge zu vergrössern. Wie zu erwarten ist, spielen internationale Akteure eine bedeutende Rolle für die Tagesordnung des EDA (36%). Umgekehrt üben das Parlament (11%) und das Volk (4%) kaum eine Agenda-Setting-Funktion in diesem Politikbereich aus, was wiederum die Dominanz der Regierung in internationalisierten politischen Bereichen indirekt signalisiert.
Zusammenfassend zeigen die empirischen Befunde, dass der Bundesrat und die Verwaltung heutzutage weniger als 40 Prozent aller Entscheidungsprozesse in Gang setzen. Dieser Tatbestand bedeutet jedoch nicht, dass die Regierung die Thematisierung neu zu lösender Probleme und die Formulierung von politischen Lösungen weniger als vor 30 Jahren beeinflusst. Die zunehmende Internationalisierung von Entscheidungsprozessen, welche den Einfluss von Regierung und Verwaltung im Vergleich zum Parlament verstärkt, sowie die Beobachtung, dass grössere Änderungen gerade durch die Regierung und im Rahmen internationalisierter Prozesse ausgelöst werden, dürften sicher stark zur Agenda-Setting-Macht der Regierung beitragen.
Referenz:
Jaquet, Julien M., Sciarini Pascal und Frédéric Varone (2019). Policy-Agenda-Setting: Regierung als Hauptinitiator von Entscheidungsprozessen. In: Blackbox Exekutive – Regierungslehre in der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, Reihe „Politik und Gesellschaft in der Schweiz“.
Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern