Staatsleitungen im internationalen Vergleich

Beim inter­na­tio­na­len Rechts­ver­gleich der Staats­lei­tun­gen fällt auf, dass die inne­re Regie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on grund­sätz­lich je nach Art des poli­ti­schen Sys­tems nach dem Kollegial‑, nach dem Res­sort- oder nach dem mono­kra­ti­schen Prin­zip auf­ge­baut ist. Erst in der poli­ti­schen Pra­xis und im Zusam­men­spiel mit dem Par­la­ment und den ande­ren Akteu­ren und je nach Ver­än­de­rung der poli­ti­schen Land­schaft zeigt sich die Stär­ke des Bun­des­rats­kol­le­gi­ums, eines Regie­rungs­chefs oder Präsidenten.

Staats­lei­tun­gen sind in poli­ti­sche Sys­te­me ein­ge­bet­tet, die je nach Ver­knüp­fung des Gewal­ten­tei­lungs­prin­zips mit dem Demo­kra­tie­prin­zip und der Kon­zep­ti­on der poli­ti­schen Macht­kon­trol­le ver­fas­sungs­recht­lich unter­schied­lich aus­ge­stal­tet sind. Aus­ge­hend von der theo­re­ti­schen Rein­form sind vier Sys­tem­ty­pen aus­zu­ma­chen. Dazu gehö­ren das par­la­men­ta­ri­sche, das prä­si­den­ti­el­le und das semi-prä­si­den­ti­el­le Regie­rungs­sys­tem sowie das Regie­rungs­sys­tem der Schweiz.

Staatsleitung im parlamentarischen Regierungssystem

Cha­rak­te­ris­tisch bei par­la­men­ta­ri­schen Sys­te­men sind die vom poli­ti­schen Ver­trau­en der Par­la­ments­mehr­heit abhän­gi­ge Regie­rung, die Gewal­ten­ver­schrän­kung von Regie­rung und Par­la­ments­mehr­heit sowie die par­la­men­ta­ri­sche Kon­trol­le durch die Oppo­si­ti­on. Par­la­ments­mehr­heit und Regie­rungs­stär­ke hän­gen nicht zuletzt auch vom Par­tei­en- und Wahl­sys­tem ab. Typisch ist auch eine dua­le Exe­ku­tiv­spit­ze mit per­so­nel­ler Tren­nung von obers­ter Staats­spit­ze und Regie­rungs­ge­walt. Ein vom par­la­men­ta­ri­schen Ver­trau­en unab­hän­gi­ger und haupt­säch­lich mit reprä­sen­ta­ti­ven Staats­auf­ga­ben betrau­ter Prä­si­dent oder Mon­arch ist Staats­ober­haupt und ein für Aus­gleich sor­gen­der, inte­gra­ti­ver Mitt­ler ohne eigen­stän­di­gen Anteil an der Gestal­tung der Politik.

Die eigent­li­che poli­ti­sche Regie­rungs­macht und Staats­lei­tung bleibt einem Pre­mier­mi­nis­ter, Kanz­ler oder Minis­ter­prä­si­den­ten und sei­ner Regie­rung vor­be­hal­ten, der als Motor des gan­zen Sys­tems mit recht­lich oder fak­tisch gegen­über den ande­ren Regie­rungs­mit­glie­dern her­aus­ge­ho­be­ner Stel­lung oder als pri­mus inter pares fun­giert. Bei ihm liegt auch die per­so­nel­le Orga­ni­sa­ti­ons­ge­walt bei der Kabi­netts­bil­dung mit allen­falls mini­ma­len ver­fas­sungs­recht­li­chen Vorgaben.

In der poli­ti­schen Pra­xis sind es jedoch zeit­li­che und finan­zi­el­le Res­sour­cen, die Frak­ti­on, Grup­pen inner­halb der Par­tei, der Regio­nal- und Frau­en­pro­porz sowie ins­be­son­de­re die Koali­ti­ons­kon­stel­la­ti­on, wel­che die Auto­no­mie eines Regie­rungs­chefs ein­schrän­ken. Neben der Per­so­nal­kom­pe­tenz sind es vor allem die Agen­da-Set­ting-Kom­pe­tenz sowie Füh­rungs­stil und –qua­li­tät, wel­che die star­ke Stel­lung des Regie­rungs­chefs aus­ma­chen. Es han­delt sich des­halb bei allen Regie­rungs­gre­mi­en um sog. geführ­te Kol­le­gi­en. Das Miss­trau­ens­vo­tum stellt das stärks­te Mit­tel der legis­la­ti­ven Regie­rungs­kon­trol­le in par­la­men­ta­ri­schen Regie­rungs­sys­te­men dar, womit die Regie­rung zur Rechen­schaft gezo­gen und zu Fall gebracht wer­den kann.

Europäisierung der Regierungsstrukturen

Bei allen Regie­run­gen der EU-Mit­glied­staa­ten lässt sich eine Euro­päi­sie­rung der Regie­rungs­struk­tu­ren beob­ach­ten. Sie haben sich orga­ni­sa­ti­ons­mäs­sig in den Minis­te­ri­en und mit inter­mi­nis­te­ri­el­len Koor­di­na­ti­ons­gre­mi­en so ein­ge­rich­tet, dass sie die Euro­pa­po­li­tik auf natio­na­ler Ebe­ne vor­be­rei­ten und ihre Inter­es­sen auf euro­päi­scher Ebe­ne ein­brin­gen kön­nen. Auf­fal­lend ist dabei die Kon­kur­renz von Regie­rungs­chef und Aus­sen­mi­nis­te­ri­um um die Vor­rang­stel­lung in der Europapolitik.

Die aus­führ­li­che Stell­ver­tre­tungs­re­ge­lung des öster­rei­chi­schen Ver­fas­sungs­ge­set­zes auf Minis­ter­ebe­ne ist eben­falls ein gutes Bei­spiel die­ser Euro­päi­sie­rung. Hin­zu kom­men die ver­fas­sungs­mäs­si­gen Kom­pen­sa­ti­ons­me­cha­nis­men zuguns­ten der Par­la­men­te und der Glied­staa­ten­ebe­ne. Ver­än­de­run­gen und Refor­men des bri­ti­schen West­mi­nis­ter-Modells in den letz­ten 20 Jah­ren sind eben­falls in die­sem Lich­te zu sehen.

Staatsleitung im präsidentiellen Regierungssystem

Klas­si­sches Bei­spiel eines Prä­si­di­al­sys­tems sind die USA. Insti­tu­tio­nel­le Gewal­ten­tren­nung und funk­tio­na­le Gewal­ten­ver­schrän­kung cha­rak­te­ri­sie­ren das Prä­si­di­al­sys­tem. Der durch Volks­wahl für eine fes­te Amts­dau­er bestimm­te Staats­prä­si­dent ist als Ein­zel­per­son und in Per­so­nal­uni­on sowohl Regie­rungs­chef als auch Staats­ober­haupt und als sol­cher mono­kra­ti­scher Trä­ger der Staats­lei­tung und Regie­rungs­po­li­tik sowie Reprä­sen­tant des Lan­des. Er ist nicht wie die Regie­rungs­chefs par­la­men­ta­ri­scher Demo­kra­tien in glei­chem Mas­se auf eine trag­fä­hi­ge par­la­men­ta­ri­sche Regie­rungs­mehr­heit ange­wie­sen. Viel­mehr ist die prä­si­den­ti­el­le Füh­rung auf der Suche nach Mehr­hei­ten im Par­la­ment in einen Pro­zess des per­ma­nen­ten Aus- und Ver­han­delns ein­ge­bet­tet, wes­halb der Prä­si­dent nur sel­ten allein ent­schei­den und die Füh­rung im poli­ti­schen Pro­zess über­neh­men kann.

Ein Sys­tem von «checks and balan­ces» sorgt für Koope­ra­ti­on von Exe­ku­ti­ve und Legis­la­ti­ve in den wich­tigs­ten Berei­chen der Regie­rungs­po­li­tik, durch gegen­sei­ti­ge Gewal­ten­hem­mung, aber auch für die Kon­trol­le der prä­si­dia­len Macht­kon­zen­tra­ti­on. Kraft der eigen­stän­di­gen demo­kra­ti­schen Legi­ti­ma­ti­on ist der US-Prä­si­dent unab­hän­gig vom Ver­trau­en des Kon­gres­ses und kann sei­ner­seits die­sen weder auf­lö­sen noch Neu­wah­len aus­ru­fen. Der Kon­gress hat nur das Mit­tel des Amts­ent­he­bungs­ver­fah­rens («impeach­ment»), eines jus­ti­zähn­li­chen Ver­fah­rens, in wel­chem der Senat als Judi­ka­ti­ve unter dem Vor­sitz des Obers­ten Bun­des­rich­ters fun­giert. Die inhalt­li­che und ideo­lo­gi­sche Über­ein­stim­mung exe­ku­tiv-legis­la­ti­ver Bezie­hun­gen bestim­men die Hand­lungs­spiel­räu­me des Prä­si­den­ten und des­sen Erfolg im Gesetz­ge­bungs­pro­zess. Da der Prä­si­dent gegen Geset­zes­vor­la­gen ein sus­pen­si­ves Veto besitzt, wel­ches nur mit einer Zwei­drit­tels­mehr­heit in jeder Kon­gress­kam­mer über­stimmt wer­den kann, wer­den in den USA die Geset­ze mög­lichst „veto­si­cher“ for­mu­liert, ver­gleich­bar der refe­ren­dum­s­taug­li­chen Aus­ge­stal­tung der Schwei­zer Gesetze.

Der Prä­si­dent ver­fügt über diver­se exe­ku­ti­ve Macht­mit­tel, unter ande­rem die sog. exe­cu­ti­ve orders. Bei star­ker Pola­ri­sie­rung ist der Anreiz für den Prä­si­den­ten beson­ders gross, mit­tels die­ser – in ihrer Reich­wei­te ver­fas­sungs­recht­lich und poli­tisch umstrit­te­nen – Steue­rungs­in­stru­men­te, am Kon­gress vor­bei zu regie­ren. Über die Jah­re hin­weg konn­te der Prä­si­dent durch wei­te Aus­le­gung ent­spre­chen­der Ver­fas­sungs­be­stim­mun­gen und durch Geset­zes­de­le­ga­ti­on einen Kom­pe­tenz­zu­wachs ver­zeich­nen. Ins­ge­samt kommt ihm somit trotz erheb­li­cher Mit­wir­kungs­rech­te des Kon­gres­ses, aber auch dank der Inter­na­tio­na­li­sie­rung und der Vor­macht­stel­lung der USA eine her­aus­ra­gen­de Stel­lung zu.

Staatsleitung im semi-präsidentiellen Regierungssystem

Beim semi­prä­si­den­ti­el­len Regie­rungs­sys­tem liegt die Regie­rungs­macht auf einer dop­pel­köp­fi­gen Exe­ku­ti­ve. Die Volks­wahl des Staats­prä­si­den­ten, des­sen beacht­li­che ver­fas­sungs­mäs­si­ge Regie­rungs­voll­mach­ten sowie die par­la­men­ta­ri­sche Abhän­gig­keit des Pre­mier­mi­nis­ters und der Minis­ter sind die drei cha­rak­te­ris­ti­schen Ver­fas­sungs­ele­men­te. Frank­reich kennt die­se Regie­rungs­form. Aber auch fast alle mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten haben Vari­an­ten solch semi­prä­si­den­ti­el­ler Regie­rungs­sys­te­me ein­ge­führt, sofern ihre demo­kra­ti­sche Trans­for­ma­ti­on bis dahin erfolg­reich ver­lau­fen ist.

Die Staatsleitung der Schweiz und ihr Reformbedarf

Die Schweiz besitzt ein poli­ti­sches Sys­tem mit einem eigen­stän­di­gen Sys­tem­ty­pus. Sie wird als Konkordanz‑, Kon­sen­su­al- und Refe­ren­dums­de­mo­kra­tie cha­rak­te­ri­siert, was sich in der Staats­lei­tung wider­spie­gelt. Der Bun­des­prä­si­dent ist den übri­gen Regie­rungs­mit­glie­dern als pri­mus inter pares recht­lich gleich­ge­stellt. Er führt den Vor­sitz im Bun­des­rats­kol­le­gi­um, besitzt aber weder recht­lich noch fak­tisch die Stel­lung eines Regie­rungs- oder Staats­chefs. Das Bun­des­prä­si­di­um rotiert jähr­lich unter den Bun­des­rats­mit­glie­dern gemäss einer streng ritua­li­sier­ten, seit 1920 infor­mell gel­ten­den, ver­fas­sungs­recht­lich aber nicht vor­ge­schrie­be­nen Rei­hen­fol­ge. Dadurch fehlt der Schweiz nicht nur ein Gesicht nach aus­sen. Es fehlt auch die Klam­mer, wel­che die Kohä­renz der Regie­rungs­ar­beit sicher­stel­len könnte.

Das von der Ver­fas­sung auf sie­ben Mit­glie­der fixier­te Bun­des­rats­kol­le­gi­um bil­det Staats­ober­haupt und Schwei­zer Regie­rung in einem. Ihm obliegt die poli­ti­sche Ober­lei­tung. Im Unter­schied zu den Regie­rungs­kol­le­gi­en der ande­ren poli­ti­schen Sys­te­me ist der Gesamt­bun­des­rat ein selbst­tä­ti­ges Regie­rungs­kol­le­gi­um. Sei­ne aus allen vier gros­sen Par­tei­en mehr oder weni­ger gemäss ihrer Sitz­stär­ke im Par­la­ment pro­por­tio­na­li­sier­te Zusam­men­set­zung ist ver­fas­sungs­recht­lich nicht zwin­gend, aber den impli­zit in der Ver­fas­sung ver­an­ker­ten Kon­kor­danz­zwän­gen der direk­ten Demo­kra­tie und des Föde­ra­lis­mus sowie der kul­tu­rel­len Hete­ro­ge­ni­tät geschul­det. Da jedes Bun­des­rats­mit­glied gleich­zei­tig ein Depar­te­ment lei­tet, sind Kol­le­gi­al- und Depar­te­men­tal­prin­zip mit­ein­an­der ver­knüpft. Letz­te­res domi­niert ent­ge­gen dem Ver­fas­sungs­wort­laut, so dass die Zen­tri­fu­gal­kräf­te der Depar­te­men­ta­li­sie­rung die ver­fas­sungs­recht­lich vor­ge­ge­be­ne Selbst­tä­tig­keit des Kol­le­gi­ums in der Pra­xis zur Illu­si­on ver­kom­men lassen.

Die Mög­lich­keit der sek­to­ri­el­len Mit­re­gie­rung und des gleich­zei­ti­gen sek­to­ri­el­len Oppo­nie­rens mit­hil­fe der direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­men­te trotz Regie­rungs­ver­ant­wor­tung stra­pa­ziert das Kon­kor­danz­sys­tem zusätz­lich. Hin­zu kom­men die wach­sen­de Medi­a­li­sie­rung und par­tei­po­li­ti­sche Pola­ri­sie­rung, die den für den Zusam­men­halt des Regie­rungs­kol­le­gi­ums not­wen­di­gen mini­ma­len Grund­kon­sens hin­sicht­lich der Ziel­set­zung für das Staats­gan­ze infra­ge stel­len. Dies alles geht zulas­ten eines ein­heit­li­chen Aus­sen­auf­tritts und einer star­ken Ver­hand­lungs­po­si­ti­on der Schweiz auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne. In Kri­sen­si­tua­tio­nen und bei stei­gen­dem aus­län­di­schen Druck und star­ker inter­na­tio­na­ler Kri­tik zeig­ten sich in der Ver­gan­gen­heit, aber auch jüngst im Zusam­men­hang mit dem insti­tu­tio­nel­len Abkom­men Schweiz-EU (Rah­men­ab­kom­men), die mit die­ser Regie­rungs­kon­struk­ti­on eines Schön­wet­ter­sys­tems ver­bun­de­nen Schwä­chen beson­ders deut­lich. Rasches, fle­xi­bles und ein­heit­li­ches Agie­ren ist erschwert.

Das gleich­ge­ord­ne­te Kol­le­gi­al­sys­tem ist ein Ver­mächt­nis des 19. Jahr­hun­derts und mit sei­nen oben dar­ge­leg­ten Schwä­chen für die Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts nur unge­nü­gend gerüs­tet. Es besteht kein Zwei­fel, dass Reform­be­darf besteht. Im inter­na­tio­na­len Ver­gleich muss die Schweiz mit einer klei­nen Regie­rungs­mann­schaft aus­kom­men. Die zuneh­men­de Kom­ple­xi­tät der Auf­ga­ben und die erhöh­te inter­na­tio­na­le Ver­net­zung erfor­dern eine Ver­grös­se­rung der „Regie­rungs­mann­schaft“, sei es durch Ober­flä­chen­ver­grös­se­rung mit­tels Hier­ar­chi­sie­rung oder Ver­brei­te­rung. Jeg­li­che Regie­rungs­re­form soll­te aber ange­sichts der dar­ge­leg­ten Schwä­chen mit einer Stär­kung des Bun­des­prä­si­di­ums einhergehen.


Refe­renz:

Brühl-Moser, Deni­se (2019). Staats­lei­tun­gen im inter­na­tio­na­len Ver­gleich. In: Black­box Exe­ku­ti­ve – Regie­rungs­leh­re in der Schweiz. Zürich: NZZ Libro, Rei­he „Poli­tik und Gesell­schaft in der Schweiz“.


Bild: Wiki­me­dia Commons

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