Nur in einer direkten Demokratie kann das Volk die Politik unmittelbar mitgestalten, heisst es. In der Tat ermöglichen es Abstimmungen den Bürgerinnen und Bürgern, sich direkt zu einzelnen Sachfragen zu äussern. Allerdings ist längst nicht immer klar, welche Beweggründe hinter den einzelnen Entscheiden standen. Waren es tatsächlich die individuellen Haltungen und Präferenzen, welche den Ausschlag geben oder versuchen die Abstimmenden vor allem ein Zeichen zu setzen, Dampf abzulassen oder der Regierung einen Denkzettel zu verpassen?
Darüber wird im Nachgang zu Abstimmungen in der Schweiz, aber auch anderswo (Brexit-Referendum in Grossbritannien) kontrovers diskutiert. Ab und an gipfelt diese Diskussion sogar in der Forderung nach der Wiederholung einer Abstimmung, weil aus dem ersten Urnengang offenbar nicht hervorging, was das Stimmvolk mit seinem Votum meinte.
Tatsächlich bedeutet ein Ja bei Abstimmungen nicht immer ein Ja und ein Nein auch nicht stets ein Nein. Denn aus der politischen Verhaltensforschung ist hinlänglich bekannt, dass Wählerinnen und Wähler in bestimmten Situationen strategisch entscheiden. Strategisch meint in diesem Zusammenhang, dass man sich für eine andere als die eigentlich bevorzugte Option entscheidet, um damit einen günstigeren Abstimmungs- oder Wahlausgang zu erzielen (Kriesi 2005).
Bei Majorzwahlen wird beispielsweise oftmals strategisch gewählt: Sind die Erfolgsaussichten der eigentlich favorisierten Kandidatur gering, stimmt man häufig für eine andere Kandidatur, die ideologisch zwar weiter entfernt steht, aber bessere Wahlchancen aufweist als die eigentlich favorisierte Person. Man tut dies natürlich nicht aus einer willkürlichen Laune heraus, sondern in der Regel, um eine dritte Kandidatur, die man für das grösste Übel hält, um jeden Preis zu verhindern.
Kompensatorisches Wählen in der Schweiz: Es wird nicht so heiss gegessen wie gekocht
Strategisches Wählen ist, generell gesprochen, eine Wahlentscheidung, die den erwarteten Nutzen gegenüber einer ehrlichen (“sincere”) Wahl steigert. Davon gibt es verschiedene Spielarten. In unserem Beitrag geht es bloss um eine dieser Spielarten: Das kompensatorische Wählen («compensatory voting»). Kompensatorisch Wählende antizipieren bereits vor der Wahl den Prozess der Regierungsbildung und treffen darauf aufbauend ihren Entscheid. Kurz, im kompensatorischen Wählen fliessen die subjektiven Erwartungen zur Umsetzungsfähigkeit politischer Positionen in das Kalkül der Wählenden mit ein.
Kompensatorisches Wählen wurde im Kontext von Wahlen schon ausgiebig erforscht. Für Sachabstimmungen liegen bislang jedoch keine Untersuchungen vor. Doch gerade bei Sachabstimmungen – und im Speziellen bei Abstimmungen über Volksinitiativen – ist ein solches Entscheidungsverhalten zu erwarten.
Erstens, weil es bei Abstimmungen unmittelbar um Sachfragen geht und zweitens, weil die Umsetzung abstrakter Verfassungsartikel in den Händen von Akteuren liegt, die diese Initiativen zu Beginn üblicherweise bekämpfen. Letzteres gibt den Wählenden einen Anreiz, kompensatorisch zu stimmen. Denn die Umsetzung einer angenommenen Vorlage erfolgt – ähnlich wie die Umsetzung eines Koalitionsvertrages bei der Wahl einer Koalitionsregierung – nicht (bzw. höchst selten) direkt. Meistens bedürfen sie einer Ausführungsgesetzgebung, deren Gestaltung wiederum in der Verantwortung des Bundesrats und des Parlaments liegt.
Das heisst: Über die Umsetzung einer angenommenen Initiative entscheiden Organe, die selbige Initiative zuvor in aller Regel bekämpft haben. Genau deshalb dürfte aber auch deren Bereitschaft, die ungeliebte Initiative wortwörtlich umzusetzen, begrenzt sein (Stauffer 2012, Kley 2015). Mit anderen Worten: Aufgrund der oben geschilderten Ausgangslage ist mit einer gewissen “Verwässerung” – im Sinne eines Abschleifungsprozesses, wie er auch bei Koalitionsverhandlungen nicht unüblich ist – von vornherein zu rechnen.
Da die Umsetzungsprobleme von Volksinitiativen ein in der Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema sind, dürfen wir davon ausgehen, dass sich zumindest die politisch interessierten Stimmberechtigten dessen auch bewusst sind. Von einigen dieser Stimmberechtigten ist zu erwarten, dass sie diesen erwarteten Verwässerungsprozess prophylaktisch zu kompensieren versuchen werden. Mit anderen Worten: Sie könnten dazu neigen, einer Initiative, die ihnen eigentlich zu weit geht, trotzdem zuzustimmen, weil sie glauben, dass die anschliessende Umsetzung weniger radikal ausfällt als in der Initiative angekündigt und dadurch – und zwar, wohlgemerkt, nur wegen dieser Verwässerung – ihrer sachpolitischen Idealposition am Ende sehr nahe kommt.
Wird bei Abstimmungen über Volksinitiativen kompensatorisch abgestimmt und falls ja, wie oft?
Wir haben zu diesem Zweck die Verbreitung kompensatorischen Stimmens zwischen 1993 und 2015 untersucht. Unsere Untersuchung zeigt, dass im Durchschnitt etwas mehr als sechs Prozent der gut Informierten kompensatorisch abstimmen. Dieser Anteilswert variiert indessen stark zwischen den einzelnen Initiativen, wie der Abbildung zu entnehmen ist.
Abbildung: Kompensatorisches Abstimmen (in %) in Volksinitiativen, 1993-2015
Der geringste Wert (2.2%) wurde bei der Initiative “Ja zu Europa” (4.3.2001), der höchste (14.8%) beim Volksbegehren “gegen illegale Einwanderung” (1.12.1996) erzielt. Diese zwei Werte zeigen im Übrigen bereits ein gewisses Muster auf: Die Volksinitiative “ Ja zu Europa” liess wenig Handlungsspielraum bei der Umsetzung offen, zumal der Bundesrat selbst erst drei Jahre zuvor ein EU-Beitrittsgesuch in Brüssel deponiert hatte. Es gab demnach keinen Grund, im Falle einer Annahme an einer schnellen und wortgetreuen Umsetzung zu zweifeln. Demzufolge gab es auch keine Anreize, strategisch zu stimmen.
Die Initiative “gegen illegale Einwanderung” hingegen beliess deutlich mehr Manövrierraum bei der Umsetzung und fand weder beim Bundesrat noch im Parlament eine mehrheitliche Unterstützung. Hier war im Falle einer Annahme schon viel eher mit einer Verwässerung zu rechnen, womit sich auch die Motivation für kompensatorischen Stimmens erhöhte.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass kompensatorisches Abstimmen zumindest für einen Teil der gut Informierten eine Option darstellt. Ob die kompensatorisch Stimmenden gar das Resultat einer Abstimmung zu kippen vermochten, ist indessen schwierig zu beurteilen. Denn natürlich ist umgekehrt auch möglich, dass Nein-Stimmende nicht ihren Präferenzen gemäss stimmten. Mit anderen Worten: Der “wahre Volkswille” – sofern es so etwas wie einen wahren Volkswillen im Sinne einer Verteilung von ehrlichen (sincere) Präferenzen überhaupt gibt – bleibt verborgen. Aber eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Das Ergebnis einer Volksabstimmung ist wohl nur in den seltensten Fällen eine exakte Wiedergabe der vorlagenbezogenen Sachpräferenzen des Stimmvolkes.
Referenz:
- Gisiger, Jasmin; Thomas Milic und Daniel Kübler (2019). Compensatory Voting in Direct Legislation. Evidence from Switzerland, in: Swiss Political Science Review.
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